Zur Debatte um Papst Pius IX.Seligsprechung im Widerstreit

Am 3. September sollen die Päpste Pius IX. (1846–78) und Johannes XXIII. (1957– 63) seliggesprochen werden. Während die Seligsprechung Johannes’ XXIII. allgemein Zustimmung findet, stößt die von Pio Nono auf Widerspruch. Der Kirchengeschichtler Victor Conzemius (Luzern) porträtiert den umstrittenen Papst und nimmt zur geplanten Seligsprechung Stellung.

Johannes XXIII. und Pius IX. hatten auf den ersten Blick manches gemeinsam. Beide waren fromme Männer. Sie waren ihrem inneren Wesen nach Seelsorger, besaßen Schlagfertigkeit und Humor, konnten über sich selbst lächeln. Auf ihre Zeitgenossen übten sie eine große Anziehung aus. Die schlichte Menschlichkeit des rundlichen Johannes XXIII. ist vielen noch in guter Erinnerung. Aber auch dem Charme Pio Nonos, wie Pius IX. genannt wurde, konnten sich nur wenige entziehen, nicht einmal seine Gegner. Beide waren Konzilspäpste. Pius IX. berief 1869/70 das Erste Vatikanische Konzil ein, Johannes XXIII. gab den Anstoß zum Zweiten Vatikanum (1962–65).

Soweit die Gemeinsamkeiten beider Päpste. Sie bleiben jedoch an der Oberfläche, denn sonst wäre die bereits im Vorfeld der Seligsprechung sich manifestierende Aufregung nicht verständlich gewesen. Erschrockene Leserbriefschreiber äußerten ihre Besorgnis. Der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken legte einen vorsorglichen Protest ein. Die Kirchenhistoriker des deutschen Sprachraumes meldeten „erhebliche Bedenken“ an. Das Verhalten Pio Nonos offenbare einen Mangel an der Tugend der Klugheit, der so gravierend sei, dass er ein menschlich unglaubwürdiges Zerrbild von „Heiligkeit“ fördere. Insbesondere habe Pius IX. auf nüchterne Zeitanalyse und geduldige Differenzierung verzichtet; in einer groben Schwarzweißmalerei habe er überall nur Gott oder den Teufel, Christus oder Belial am Werk gesehen. Aufregung, Bedenken, Einwände und Unmut haben eine schlichte Ursache. Wir leben in einer Zeit, die völlig anders ist als diejenige des 19. Jahrhunderts. Situation und Reaktion kirchlicher Amtsträger damals sind uns in vielen Aspekten kaum mehr verständlich. Pio Nono ist, vereinfacht gesagt, mit dem Negativen behaftet, das von heutigen Zeitgenossen in die Kirche des vorigen Jahrhunderts projiziert wird. Johannes XXIII. hingegen profitiert vom positiven Image, das die Öffnung der Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil ihm in und außerhalb der Kirche verschafft hat. Steht hier nun ein selbstherrlicher Finsterling – Pio Nono – einer reinen Lichtgestalt – Johannes XXIII. – gegenüber? Für eine nüchterne Würdigung sind zwei Gesichtspunkte auseinander zu halten: Einmal die Gestalt des Papstes, wie sie sich im historischen Rückblick präsentiert, dann die Frage, ob er sich eignet, als Seliger der Kirche vorgestellt zu werden. Pius IX., 1792 in Senigallia (Kirchenstaat) als Graf Giovanni Mastai-Feretti geboren, entstammte einer Familie des niederen Adels. Das Elternhaus verstand es, Reformfreudigkeit und kirchliche Frömmigkeit miteinander zu verbinden. Im Hause Mastai seien sogar die Katzen liberal, hieß es. Es war nicht die Absicht des jungen Mannes, die Kirche als Sprungbrett für eine Karriere zu benutzen. Vielmehr dachte er daran, Volksmissionar zu werden. Nach der Priesterweihe im Jahre 1819 wurde er mit verschiedenen Aufgaben betraut. So übernahm er die Leitung des großen Spitals von San Michele in Rom und stellte hier seine seelsorgerischen und administrativen Fähigkeiten unter Beweis. Als er 1832 Bischof von Spoleto und einige Jahre später Erzbischof von Imola wurde, legte er den gleichen pastoralen Eifer an den Tag. 1840 zum Kardinal ernannt, gehörte er jener Richtung im Kardinalskollegium an, die bereit war, den freiheitlichen und nationalen Strömungen der Zeit Konzessionen zu machen. Als Kandidat dieser Fraktion wurde er am 16. Juni 1846 nach ganz kurzem Konklave gegen den als kompromisslos und reaktionär eingestuften Kardinal Lambruschini zum Papst gewählt. Einen liberalen Papst, jubelten liberale Politiker, habe es bisher noch nie gegeben. Die ersten politischen Maßnahmen des neuen Papstes im Kirchenstaat schienen diese Begeisterung zu rechtfertigen. Doch der Traum von einem Papst, der sich an die Spitze der nationalen italienischen Bewegung stellen würde, war rasch ausgeträumt. Im Unabhängigkeitskampf gegen Österreich, das zu diesem Zeitpunkt weite Teile Norditaliens – zum Beispiel Mailand und Venedig – beherrschte, hätte der Papst eine aktive Rolle übernehmen müssen. Konkret: Er hätte im Ernstfall auf die Österreicher schießen lassen müssen. Das war mit seiner religiösen Mission als Oberhaupt aller Gläubigen unvereinbar. In einer Ansprache am 29. April 1848 erklärte er, er könne die ihm zugedachte Aufgabe nicht übernehmen. Italienischer Patriot ist er innerlich geblieben, auch als er Entscheidungen traf, die sich gegen die italienische Nationalbewegung richteten.

Als es im November 1848 zu Unruhen im Kirchenstaat kam – sein Premierminister Rossi wurde auf den Stufen der Cancelleria ermordet – und er selbst nach Gaeta ins bourbonische Königreich Neapel flüchten musste, war es mit der liberalen Phase bei Pio Nono vorbei. 1850 kehrte er nach Rom zurück und schwenkte nun auf einen konzessionslos gegenrevolutionären Kurs ein. Mit den Bajonetten eines französischen Expeditionskorps und der zusätzlichen Unterstützung von Freiwilligen aller Länder (Zuaven) konnte dieser Staat, in dem das Kirchenrecht uneingeschränkt herrschte, sich bis 1870 halten. Am 20. September 1870 besetzten piemontesische Truppen den Kirchenstaat und die Stadt Rom. Da alle Bemühungen um eine politische Lösung gescheitert waren, um dem Papst einen Status zu gewähren, der ihn vom italienischen Staat unabhängig machte, betrachteten die Päpste sich fortan als Gefangene im Vatikan. Die Abkehr von seinen liberalen Anfängen wurde Pius IX. schwer angelastet. Der Papst-König galt fortan in freiheitlichdemokratischen Kreisen als schwarzes Schaf, als Verräter an der guten Sache, die er durch seine ersten Stellungnahmen („Benedite Gran Dio l’Italia“) gefördert hatte.

Besonders schockierend empfanden italienische Patrioten, dass der Papst zum Erhalt seines Staates zwischen 1850 und 1870 sich auf ausländische Bajonette stützte und innenpolitisch seinen Bürgern all jene Rechte verweigerte, die in anderen europäischen Staaten durchgesetzt wurden. Programmatischen Charakter für die gesellschaftlichen Leitvorstellungen seines Pontifikates gewannen der Syllabus von 1864 und die Einberufung eines Konzils im Jahre 1869/70. Der Syllabus von 1864 war ein Verzeichnis von 80 Sätzen, die – aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – als verdammenswürdig bezeichnet wurden. Zwar wurden sie nachträglich von bestürzten Theologen relativiert, doch galten sie fortan als schlagender Beweis für die Unvereinbarkeit von katholischer Kirche und moderner Kultur. Die chaotischen Thesen des Syllabus warfen ihren Schatten auf das fünf Jahre später einberufene Vatikanische Konzil. Es wurde als Kampfansage an die moderne Zivilisation angesehen. Die viel diskutierte Unfehlbarkeit des Papstes, was auch immer darunter zu verstehen ist, galt als das Paradigma verstiegener und lächerlicher Welteroberungspläne des Papsttums. Für das fortschrittliche Bürgertum zeichneten sich hier die letzten Zuckungen eines überholten mittelalterlichen Staats- und Kulturgebildes ab. Dem unaufhaltsamen Fortschritt der modernen Zivilisation werde diese Kirche nicht standhalten. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das Ende des Kirchenstaates auch die Auflösung der römisch-katholischen Kirche nach sich ziehen würde. Was die Zeitgenossen polemisch und abwertend als Rückfall ins Mittelalter bezeichneten, entsprach tatsächlich den gesellschaftlichen Vorstellungen des Papsttums. Die Erfahrung des Zusammenbruchs freiheitlich-demokratischer Bewegungen in der Revolution von 1848 war für Pio Nono im Grunde der Bankrott jener gesellschaftlicher Ideale, die aus der Französischen Revolution hervorgegangen waren. Die traumatische Erfahrung dieses Bruchs bestärkte den Papst in der Auffassung, er müsse zu den patriarchalischen Verhältnissen zurückkehren, wie sie vor der Revolution bestanden hatten. So baute er die Mauern des römischen Ghettos, die er zu Beginn seiner Regierungszeit hatte niederreißen lassen, wieder auf und widerrief die den Juden zugesprochenen Erleichterungen. Für ihn galt das Leitbild: Herrscher und Untertan, jeder für sich, fromm und frei, der Papst in väterlicher Sorge den Seinen zugetan.

Es kam zu einem kitschig verstiegenen Papstkult

Diese Rückkehr vertrug sich durchaus mit modernen Errungenschaften in Technik und Industrie. „Rom kehrt das Mittelalter hervor“, schrieb Ferdinand Gregorovius, der Historiker der Stadt Rom, am 2. Juni 1861 in sein Tagebuch. Als steinernes Lehrbuch wahrer Politik sollte auch die Stadt Rom die Schönheit des Mittelalters ihren Bewohnern und Besuchern vor Augen führen. Nicht mittelalterlich genug aussehende Kirchenbauten wurden mittelalterlich zugerichtet. In Kreisen des Kleinbürgertums, das dem Papsttum einen gewissen Schutz vor gierigen Spekulanten verdankte, war man mit dem Status quo nicht so unzufrieden.

Weit bedeutsamer jedoch in ihren gesamtkirchlichen Auswirkungen war der Rom- und Papstkult, der in der Person Pio Nonos seine Konkretisierung fand. In der Gestalt Pius’ IX., dem der italienische Nationalismus den Kirchenstaat entziehen wollte, sah das Kirchenvolk sozusagen einen schutzlos den Pfeilen der Angreifer ausgelieferten „virtuellen“ Märtyrer. Er beglaubigte die Kontinuität mit der Urkirche und der Kirche der Märtyrer. Die Kirche der Katakomben erlebte eine Renaissance und wurde in romanhaften Darstellungen lebendig (Callista, Fabiola). Es kam zu einem Papstkult, der zu kitschig verstiegenen, mitunter nahezu blasphemischen Parallelisierungen mit Jesus Christus führte: le doux Jésus sur terre. So etwas hatte es bisher wohl bei einzelnen, aber nicht als Massenbewegung gegeben. Dieser Kult lässt sich auch nicht auf die Aktivitäten der wenigen Nuntien in Verbindung mit Eiferern aus dem Jesuitenorden und klerikal gesinnten Journalisten zurückführen. Etiketten wie „fundamentalistischer Ultramontanismus“ oder „ultramontaner Fundamentalismus“ besagen noch nichts über die – wenig erforschte – Entstehung dieser Bewegung. Sie kommt aus einer Tiefe der Volksfrömmigkeit, der gegenüber Beschwörungen von Papsttreue und entsprechende Zusammenschlüsse nach dem Zweiten Vatikanum sich als sektiererische Geheimbünde ausnehmen. Pius IX. rief die Bewegung nicht ins Leben, er fühlte sich von ihr getragen und interpretierte sie als Zustimmung des Kirchenvolkes zu seiner Kirchenpolitik. Als Alexis de Tocqueville, einer der führenden und klügsten politischen Denker des 19. Jahrhunderts und dem liberalen Katholizismus nahestehend, 1856 Frankreich und Deutschland bereiste, fiel ihm auf, dass nicht so sehr der Papst selbst, sondern das Kirchenvolk auf eine autoritäre kirchliche Amtsführung drängte. „Der Papst wird stärker von den Gläubigen dazu angetrieben, absoluter Herr der Kirche zu werden, als sie von ihm, sich seiner Herrschaft zu unterstellen. Diese Bewegung ist, wenn nicht allgemein, so doch sehr verbreitet in katholischen Landen. Ich war sehr erstaunt in dieser Hinsicht die gleiche Einstellung in Frankreich wie in Deutschland zu finden. Die Haltung Roms ist in dem, was wir feststellen, eher Wirkung als Ursache.“

Wie ist das zu verstehen? Für das Kirchenvolk, dessen Lebensrhythmus von der um sich greifenden Industrialisierung gewaltsam verändert wurde, war der Papst eine Identifikationsfigur. In sie ließen sich Ängste, Befürchtungen und Erwartungen der als bedrohlich empfundenen Gegenwart projizieren. Tausende von Solidaritätsbekundungen mit dem Papst – vielfach mit Geldspenden verbunden – gingen in Rom ein. Sie entsprangen dem Bedürfnis, weitab von der bedrückenden Realität des Lebens sich eine symbolische Lichtgestalt zu erhalten, zu der man zumindest aufblicken durfte, auch wenn sie nur trösten, nicht aber konkrete Erwartungen erfüllen konnte. Im inbrünstigen Sich-Klammern an Marienerscheinungen (Lourdes, La Salette) ging das Kirchenvolk mit dem marianisch gestimmten Papst einig. Die Marienfrömmigkeit des Papstes, der seine Heilung von epileptischen Anfällen in seiner Jugend der Fürsprache Marias zuschrieb, hatte zugleich einen gesellschaftlich praktischen Zug. Maria, die Schlangenzertreterin, sollte der Schlange des modernen Unglaubens den Kopf zertreten. Als Gegenreaktion auf den rationalistischen Zeitgeist, der die Kirche ins Abseits drängte, baute Pius IX. die Kirche in gläubigem Trotz zur Festung aus. Die kirchenfeindliche Politik in einzelnen Ländern trieb den niederen Klerus und manche Bischöfe ohnehin in das Lager der römischen Politik. Gewiss hätte der Papst sich bei liberalen Katholiken Rat holen können. Diese sahen durchaus ein, dass das Rad der Geschichte nicht ins Mittelalter zurückgedreht werden könne. Für sie hätte die Kirche sich zumindest auf den Boden der durch die Französische Revolution geschaffenen Realitäten stellen müssen. Doch der liberale Katholizismus stellte im Gegensatz zur ultramontanen Bewegung keine Volksbewegung dar. Er blieb auf kleine elitäre Kreise beschränkt, die sich weder beim kirchlichen Fußvolk noch beim Papst selbst durchzusetzen vermochten. Bereits 1850 hatte Pius IX. seine liberalen Ratgeber (Rosmini, Corboli Bussi) in die Wüste geschickt. Unter diesen autoritären Voraussetzungen trat 1869 das Erste Vatikanische Konzil zusammen. Die Einstellung zur Welt schied die Bischöfe in Anhänger und Gegner päpstlicher Unfehlbarkeit. Es hieß, die gebildeteren Bischöfe seien gegen den Ausbau der päpstlichen Prärogativen, die Männer der Praxis dafür. Der 1871 ausbrechende oder sich verstärkende Kulturkampf schweißte die auf dem Konzil auseinander gebrochene Bischofsfront wieder zu einer Einheit zusammen.

Pius IX. war nicht einfach ein unzurechnungsfähiger Psychopath

In der katholischen Nachwelt war das Bild Pius’ IX. von der Unausweichlichkeit eines Kampfes und der Notwendigkeit seiner scharfen Abgrenzung gegenüber der als feindlich empfundenen Moderne bestimmt. Erst 1950 gelang dem belgischen Historiker Roger Aubert eine kritische Annäherung an Pius IX. Aubert, der damals keinen Zugang zu vatikanischen Akten hatte, gelang es, aus der Literatur der neueren Katholizismusgeschichte und nicht-vatikanischen Archivbeständen ein Bild Pius’ IX. zu zeichnen, das in seinen Grundzügen bis heute gültig ist. Aubert hat die italienische Forschung über den Pontifikat Pio Nonos, den längsten in der Papstgeschichte, maßgeblich angeregt. In seiner Linie brachte dann der Jesuit Giacomo Martina, der an der Gregoriana Kirchengeschichte lehrte, 1974–1990 eine umfassende dreibändige Biographie heraus. Sie konnte auch die inzwischen geöffneten vatikanischen Archive berücksichtigen. Weder Aubert noch Martina wurden über Fachkreise hinaus im deutschen Sprachraum rezipiert. Im Gegenteil. 1980 legte der Schweizer Theologe August Bernhard Hasler im Zusammenhang mit einer Monographie über das Erste Vatikanische Konzil eine Interpretation von Person und Pontifikat Pius’ IX. vor, die Person und Mythos Pius’ IX. dekonstruktivierte, indem er den Papst zu einem unzurechnungsfähigen Psychopathen erklärte. Klar durchzieht das Werk die Absicht, das Erste Vatikanische Konzil aus den Angeln zu heben und es als unfreien, vom Papst manipulierten Bischofskonvent hinzustellen. Eine Rezension von Hanno Helbling, dem Vatikanisten der „Neuen Zürcher Zeitung“, hielt fest, bei der Lektüre bekomme man Mitleid mit Pio Nono, so sehr sei das Werk auf eine vorgefasste Absicht hin angelegt. Hasler schrieb dann noch eine Kurzfassung seines Buches („Wie der Papst unfehlbar wurde“), die als antirömische Fibel und Hausbuch eine gewisse Verbreitung gewann. 1990 räumte der Frankfurter Kirchenhistoriker und Jesuit Klaus Schatz in seiner dreibändigen Geschichte des Ersten Vatikanums mit den Prämissen Haslers auf. Doch das von Hasler entworfene karikaturale Papstbild dürfte im Zusammenhang mit der Seligsprechung eine unvermeidliche Neubelebung erfahren, zumal es in der Biografie des Papstes gewisse Momente gibt, die wenig ins Leben eines Seligen passen: Zornausbrüche, polarisierender Umgang mit Bischöfen, unberechenbare Emotionalität, Schwanken in wichtigen Entscheidungen mit folgenschweren Konsequenzen. Man darf fragen, wo denn der legendäre Advocatus diaboli blieb, der die Aufgabe hat, die sperrigen und einer etwaigen Seligsprechung widersprechenden Einwände im Prozess vorzubringen. Er muss tief geschlafen haben.

Eine Würdigung seines Pontifikates – sie unterscheidet sich von derjenigen seiner Person – darf sich nicht auf die weniger anziehenden Aspekte seiner Persönlichkeit und die aus heutiger Sicht schärfer ins Blickfeld tretenden Begrenzungen seiner Amtsführung beschränken. Fest steht, dass er an der Frage des Kirchenstaates, deren Lösung ihm bei seiner Wahl 1846 zugedacht war, gescheitert ist. Hingegen ist es ihm gelungen, sich den religiös-kirchlichen Aufgaben seines Amtes zu stellen und den Ausbau der kirchlichen Organisation, der bereits unter seinem Vorgänger Gregor XVI. begonnen hatte, weiterzuführen: Förderung des Missionswesens auf allen Kontinenten, Auffangen der zahlreichen geistlichen Berufe, Errichtung neuer kirchlicher Hierarchien. Sein Zentralismus, dessen positive Nebenwirkungen auch seine schärfsten Kritiker nicht verschmähen, bildet die Voraussetzung dafür, dass die katholische Kirche im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert wider alles Erwarten zu einer gesellschaftlichen Macht wurde, mit der man rechnen musste. Ohne diese Straffung wäre die weltweite Öffnung, die Johannes XXIII. im Zweiten Vatikanischen Konzil vollzog, nicht möglich gewesen. Eine abwägende Würdigung der Wirksamkeit Pio Nonos wird ihm mehr zugute halten, als kritische Betrachter aus heutiger Perspektive ihm zubilligen mögen. Kirchenpolitische Korrektheit unserer Zeit darf nicht zum entscheidenden Kriterium einer Selig- oder Heiligsprechung werden. Das gilt für Pius IX. wie für andere. Würden die in schwerer geistiger Auseinandersetzung gewonnenen Erkenntnisse, die die Kirche meist nur widerstrebend zur Kenntnis genommen hat und die deshalb auch nicht ihr zu verdanken sind, zum gültigen Maßstab des Urteils erhoben, müssten viele Heilige ihren Heiligenschein abgeben: ein Bernhard von Clairvaux, der als großer Mystiker gilt und zu Kreuzzügen aufrief, ein Thomas Morus, der ein aktiver Verfolger von Häretikern war und sich auf die spätmittelalterliche englische Ketzergesetzgebung abstützte, oder ein Robert Bellarmin, der nur denjenigen als Christen gelten ließ, der den Papst anerkannte. An Ambivalenzen gebricht es auch bei Seligen und Heiligen nicht.

Im Blick auf die Seligsprechung „katholischer Antidemokraten“ aus der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges meinte letzthin Thomas Seiterich in „Publik-Forum“, sie rissen weniger alte Wunden auf als befürchtet. Das ist auch von der Seligsprechung Pio Nonos zu hoffen. Grundsätzlich ließe sich auch eine ganz andere Auffassung vertreten, nämlich die, dass wir mit seligen und heiligen Päpsten bestens eingedeckt sind. Bei 261 Amtsinhabern werden 77 als heilig geführt; die Seligen zählen hier bereits nicht mehr. Allerdings sind nur drei Päpste der letzten neun Jahrhunderte darunter: Cölestin, Pius V. und Pius X. Päpste sind vor einsame Entscheidungen gestellt, die der einfache Christ kaum je im Stande ist nachzuvollziehen. Die minutiöse Registrierung aller Äußerungen oder auch Nichtäußerungen eines Papstes bildet eine unerschöpfliche Quelle für divergierende Interpretationen, in denen der abstrakte moralische Anspruch gegen die schwierig zu erfassende geschichtliche Situation nahezu beliebig ausgespielt werden kann. Hingegen ist die bevorstehende Seligsprechung zweier Päpste, deren Pontifikat in sehr unterschiedliche Zeiten fiel, augenfälliger Ausdruck einer auf Ausgleich bedachten Kirchenpolitik und deswegen von politisch bedingten Kanonisierungen früherer Zeiten nicht so weit entfernt. Auch die Spurensuche nach dem Heiligen bleibt einem sehr menschlichen Rahmen verhaftet, wie festlich auch die Inszenierung diesbezüglicher Erklärungen sein mag.

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