PorträtTheodore McCarrick: Keine Gnade

Um zu begreifen, welchen Schock die Berichte über die sexuellen Verfehlungen von Ex-Kardinal Theodore McCarrick in Amerika ausgelöst haben, muss man sich vor Augen halten, welche Autorität er über Jahrzehnte verkörperte.

Ehemaliger US-Kardinal McCarrick
© KNA

Als im Jahr 2009 der demokratische Senator Edward Kennedy auf dem nationalen Heldenfriedhof in Arlington zu Grabe getragen wurde, war es Kardinal TheodoreMcCarrick, der Alt-Erzbischof von Washington, der am Grab einen Brief vorlas – den Brief, den Kennedy an Papst Benedikt XVI. geschrieben hatte und in dem er ihm die Nachricht von seiner tödlichen Krebserkrankung mitgeteilt hatte. Es war einer der bewegendsten Auftritte des damals noch sehr aktiven McCarrick. Und als 2014 die Geheimverhandlungen zwischen der Regierung von Barack Obama und Diktator Raul Castro in Kuba um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen stockten, spielte McCarrick eine Schlüsselrolle, als es darum ging, Papst Franziskus als Vermittler ins Spiel zu bringen – er tat es mit Erfolg, denn er hatte beste Kontakte zu allen Seiten.

Die herausragende Stellung, die McCarrick auf nationaler und internationaler Bühne einnahm, ist bis heute in Fotos dokumentiert, die ihn mit Päpsten, Präsidenten und anderen Prominenten zeigen. Umso tiefer ist nun sein Sturz, weil bekannt wurde, dass er offenbar vor knapp 50 Jahren als Priester in New York einen Minderjährigen missbraucht hat. Die Sache bekommt dadurch zusätzliche Dramatik, weil gleichzeitig Fakten öffentlich wurden, von denen manche schon lange unter Journalisten und kirchlichen Insidern als „Geraune“ bekannt waren. Sie diskreditieren den Kirchenmann in der Öffentlichkeit für den Rest seines Lebens und darüber hinaus.

Dass McCarrick über Jahrzehnte Priester und Seminaristen in sein Bett brachte, gehört jetzt ebenso zu seiner Vorgeschichte wie seine Biografie eines irischstämmigen Arbeiterkindes aus einfachsten Verhältnissen. Der Vater stirbt früh an Tuberkulose, die verwitwete Mutter arbeitet in einer Fabrik für Autoteile. Die von irischstämmigen Katholiken dominierte Pfarrei hat er später als seine eigentliche Familie beschrieben, mit vielen echten und sogenannten Tanten, Onkeln und Cousins. Mit 20 beschließt er, Priester zu werden. Was folgt, ist eine steile kirchliche Karriere, die er vor allem seinem Witz, seinem Sprachentalent und seinem einnehmenden Charme zu verdanken hat.

Als er 1986 Erzbischof von Newark wird, wendet er das in seiner Heimatpfarrei erlernte Onkel-Schema wieder an. In seinen Beziehungen zu jungen Seminaristen und Priestern ist er „Uncle Ted“. Die meisten Übergriffe finden in einem privaten Strandhaus in New Jersey statt, von dem er noch in einer Homestory 2004 freimütig erzählt, dass er dort seit 20 Jahren stets eine Woche Urlaub „mit einer Gruppe von Priestern und Seminaristen verbringt“. Die einzige Vorbedingung sei die, dass unter den Gästen „einer ist, der kochen kann“. Was er nicht sagt: Er lud immer einen Gast mehr ein, als das Haus Betten hat. Dieser Überzählige wurde dann eingeladen, das Lager des Erzbischofs zu teilen.

McCarrick schaffte es über Jahrzehnte, diesen Teil seines Lebens aus seiner kirchlichen Karriere herauszuhalten. Diese verlief umso glanzvoller, weil er es nicht nur verstand, beste Kontakte in Politik und Kirche zu knüpfen, sondern weil er auch ein begnadeter „Fundraiser“ war. Die von ihm 1988 mitgegründete und über lange Jahre geleitete „Papal Foundation“ hat ein Kapital von mehr als 200 Millionen US-Dollar angesammelt. Sie hat in allen Erdteilen Stipendien vergeben, Bauprojekte unterstützt und Bildungsprogramme gefördert. Seine bis 2017 andauernde Rolle im „Board of Trustees“ öffnete ihm im Vatikan und überall auf der Welt Türen. Nicht zuletzt deshalb konnte McCarrick auch noch bei der Papstwahl 2013 eine wichtige Rolle spielen. Er selbst hat später in einem Vortrag erzählt, wie er von einem „einflussreichen Mann in Rom“ auf den Namen Jorge Bergoglio angesprochen wurde und diesen dann noch beim Vorkonklave unterstützt habe. Dass McCarrick und Papst Franziskus im kirchenpolitischen Lagerkampf in den USA auf einer Wellenlänge lagen, ist offensichtlich. McCarrick hat sich stets gegen die „Kulturkämpfer“ im amerikanischen Episkopat positioniert.

Wie viel welcher Papst über die sexuellen Praktiken des Erzbischofs wusste, ist nach wie vor offen. Ebenfalls unbekannt ist, ob sein Name im Untersuchungsbericht über mutmaßliche Schwulenlobbies im Vatikan enthalten ist, den Benedikt XVI. seinem Nachfolger zum Amtsantritt überreicht hat. Ob Franziskus auch an McCarrick dachte, als er 2013 sagte: „Wenn jemand schwul ist, den Herrn sucht und guten Willen hat, wer bin ich, dass ich ihn verurteile“? So viel Barmherzigkeit kann der schwule Ex-Kardinal McCarrick mit seinen heute 88 Jahren in einer Zeit, in der das Amalgam von Macht und Sex auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten scharf kritisiert wird, in der Öffentlichkeit nicht mehr erwarten.

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