Über das Zusammenleben in der pluralen GesellschaftToleranz ist eine Zumutung

Anderen tolerant zu begegnen, ist eine Tugend, die uns viel abverlangt. Sie ist die Voraussetzung, um in der Demokratie anzukommen. Doch vor der Intoleranz darf nicht aus Toleranz geschwiegen werden. Kulturelle Rabatte schaden der freiheitlichen Gesellschaft ebenso wie Denk- und Sprechverbote im Namen politischer Korrektheit.

Joachim Gauck
© KNA-Bild

Mehrfach hat mich der Weg während meiner Zeit als Bundespräsident nach Münster geführt, und jedes Mal hat mir die Geschichte der Stadt ins Bewusstsein gerufen, wie bedroht ein friedliches Miteinander der Menschen immer bleibt. Sie hat mir aber auch die tröstliche Gewissheit vermittelt, dass, wo Toleranz herrscht, ein Miteinander gelingen und gewahrt bleiben kann.

Der unerschrockene Bischof Clemens August Graf von Galen, dessen Grab ich bei meiner ersten Reise nach Münster besuchte, forderte Toleranz und Achtung der Menschenwürde von einem totalitären Staat wie dem NS-Regime vergeblich ein. Für einen demokratischen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland hingegen ist Toleranz Verpflichtung geworden. Davon konnte ich mich in Münster nicht nur bei einem Besuch im Zentrum für Islamische Theologie überzeugen. Schon seit einem Jahrzehnt untersucht ein bundesweit einzigartiger Exzellenzcluster der Universität Münster das Verhältnis von Religion und Politik, und für die nächsten Jahre ist der Aufbau eines bundesweit einzigartigen Campus der Theologien geplant: Katholisch-Theologische Fakultät, Evangelisch-Theologische Fakultät und Zentrum für islamische Theologie werden unter einem Dach sein.

Das friedliche Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen zu fördern, diente auch die Verleihung des Internationalen Preises des Westfälischen Friedens 2016 in Münster an den König des Haschemitischen Königreichs Jordanien, Abdullah II., an der ich mitwirken durfte. In einer Region der Gewalt, des Terrors, der Vertreibung und des Zerfalls staatlicher Strukturen kann Jordanien nicht zuletzt deshalb als stabilisierender Faktor wirken, weil es sich dem Fundamentalismus entgegenstellt und die Koexistenz aller Religionsgemeinschaften verteidigt. Der Nahe Osten allerdings, so höre ich immer wieder und so wird es uns ja aktuell neu bewusst, brauche einen Westfälischen Frieden. Deshalb habe ich in meiner Laudatio für Abdullah II. gesagt: „Wenn wir darunter die Schaffung staatlicher und zwischenstaatlicher Voraussetzungen für religiöse Toleranz und Koexistenz verstehen, sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, solch einen Friedensschluss zu fördern.“

Der Friedensvertrag von Münster und Osnabrück vom 24. Oktober 1648 regelte Machtfragen neu, Verfassungsfragen neu, und er erklärte die Gleichberechtigung von katholischen und evangelischen Konfessionen. Auch wenn er kleinere religiöse Gruppen noch von der Toleranz ausschloss und die konfessionelle Polarisierung in der Realität keineswegs sofort verschwand, so spielt der Westfälische Frieden in der Geschichte der Toleranzidee doch eine wichtige Rolle. Denn die Idee der Toleranz, ursprünglich verbunden mit der Geschichte der christlichen Kirchen, löste sich mehr und mehr aus dem religionspolitischen Kontext und wurde zum allgemeinen Prinzip in einem demokratischen Verfassungsstaat.

Diese Tugend, die Toleranz, erfährt höchstes Lob, aber ihre Befolgung ist immer wieder anzumahnen. Sie wird als unerlässlich für ein friedliches Zusammenleben der Verschiedenen erklärt, aber den Einzelnen kostet sie auch immer wieder innere Überwindung. Schon in der Erziehung, angefangen bei den Kleinsten im Kindergarten, wird vermittelt: Achte deinen Nächsten. Respektiere den, der anders aussieht, der anders denkt, handelt, fühlt und der anders betet als du. Im Prinzip wissen wir nämlich: Gegenseitige Achtung und gegenseitiger Respekt sind umso mehr erforderlich, je vielfältiger unsere Gesellschaften werden und je enger die Welt zusammenrückt.

Starke Homogenität kann in der globalisierten Welt kaum existieren

Eine starke Homogenität mag denjenigen beheimaten, der nach Einheit mit seinesgleichen sucht. Aber starke Homogenität kann in unserer globalisierten Welt kaum mehr existieren, zudem mindert sie die Toleranz und befördert Abgrenzung und Ausgrenzung, manchmal in offen rassistischer Form. Nur wenn Differenzen ausgehalten und nicht in einem unter Umständen gewaltsamen Kräftemessen entschieden werden, ist ein friedliches Zusammenleben möglich. Eine offene Gesellschaft und eine friedliche Weltgemeinschaft können ohne Toleranz nicht existieren.

Allerdings habe ich den Eindruck, dass Toleranz trotz politischer Deklarationen und vielfältiger pädagogischer Bemühungen nicht zu-, sondern abnimmt. Fundamentalisten und Terroristen sowie Diktatoren und Autokraten verschiedener Couleur reagieren gegenüber dem Anderen – dem Fremden, dem politischen Gegner, dem Andersgläubigen – mit Verleumdungen und Zensur, Berufsverboten und Verhaftungen, mit Anschlägen, militärischer und polizeilicher Gewalt, nicht selten mit Entführungen und der Vergewaltigung von Frauen. Das Fernsehen bringt uns die Schreckensnachrichten fast jeden Abend ins Haus.

Selbst in demokratischen Gesellschaften hat Toleranz einen zunehmend schweren Stand. Rassistische, nationalistische, islamfeindliche oder antisemitische Positionen – gleichgültig, ob aus den Milieus einheimischer oder zugewanderter Bevölkerung – nehmen zu. Ebenso Straftaten gegenüber homo-, trans- und bisexuellen Menschen auch in Deutschland. Die politischen Spaltungen wachsen in nahezu allen westlichen Gesellschaften, und auch der Hass, die Shitstorms und Beleidigungen im digitalen Raum nehmen zu.

So erscheint das Plädoyer für Toleranz so manchem wie ein weltfremdes Ideal – gut gemeint, aber realitätsfern. Belege für diese Skepsis sind leicht zu finden: Im Kopf sind zwar fast alle Deutschen bereit, ein Loblied auf die Toleranz zu singen – wie es in ihren Herzen aussieht, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Regelmäßig ergeben Umfragen, dass sich die große Mehrheit der Deutschen für tolerant hält, doch gleichzeitig ergeben andere Umfragen, dass sich intolerante Einstellungen in einem Maße halten, die dieser Selbstwahrnehmung widersprechen. Schwulenehe – da stimmen über 70 Prozent der Deutschen im Prinzip zu, aber ein schwuler Schwiegersohn – das wäre für 40 Prozent ein Problem. Flüchtlinge – selbstverständlich hat Deutschland im Prinzip die Pflicht zum Schutz von Bedrohten; aber ein Flüchtlingsheim in meiner Nachbarschaft – das lehnen viele ab.

Toleranz kostet oft eine starke innere Überwindung, weil sie scheinbar Unvereinbares vereinbaren soll: Respekt ausgerechnet für jene Mitmenschen, deren Religion oder Meinung oder Lebensstil wir nicht teilen, teilweise sogar ausdrücklich falsch oder bedenklich finden und im ideologischen Disput bekämpfen möchten. Toleranz fordert, ganz einfach und ganz schwer, zu ertragen, was stört, und zu erdulden, was zu dulden schwer fällt. Der Politikwissenschaftler Rainer Forst hat es auf die treffende Kurzformel gebracht: Toleranz ist eine Zumutung.

Toleranz ist also nicht gleichzusetzen mit Offenheit. Toleranz bedeutet auch nicht schlichtes Gewährenlassen oder pure Gleichgültigkeit. Toleranz ist auch nicht gleichbedeutend mit Akzeptanz. Es wäre eine vollständige Überforderung des Menschen, wenn er gutheißen sollte, was er zwar duldet, was ihm intellektuell oder gefühlsmäßig aber widerstrebt. Oder wenn er als Bereicherung sehen sollte, was er eigentlich als Belastung oder gar Bedrohung empfindet. Selbst in Fällen, in denen ich eine andere Meinung tatsächlich wertschätze, bleibt doch jene Differenz, die mich meiner eigenen Einstellung den Vorzug geben lässt – ansonsten stünde diese zur Disposition. Toleranz ist also eine Tugend, die uns viel abverlangt.

Wie viel Differenz, wie viel Dissonanz halten wir aus?

Voltaire sah sich jedenfalls veranlasst, Gott in seinem „Gebet um Toleranz“ um Beistand für diese große Zivilisationsleistung zu bitten: „Gib, dass diejenigen, die am hellen Mittage Wachslichter anzünden, um Dich zu ehren, diejenigen ertragen, die mit dem Licht Deiner Sonne zufrieden sind; (gib,) dass diejenigen, die ihr Kleid mit einer weißen Leinwand bedecken, um zu sagen, dass man Dich lieben muss, diejenigen nicht verabscheuen, die eben dasselbe unter einem Mantel von schwarzer Wolle sagen.“ Wie viel Differenz, wie viel Dissonanz halten wir aus?

Vor einigen Jahren wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, eine Laudatio auf Kurt Westergaard zu halten, jenen dänischen Karikaturisten, der wegen seiner Mohammed-Zeichnungen Morddrohungen erhalten und ein Attentat überlebt hatte. Ich habe sofort zugesagt, obwohl mir seine Karikaturen ebenso wenig gefielen wie später die Karikaturen von Charlie Hebdo. Aber für mich war die Laudatio ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und zur Freiheit der Kunst, und damit zu unserer Verfassung und zur offenen Gesellschaft. Nach wie vor bin ich überzeugt: Eine offene Gesellschaft gibt allen dieselben Rechte, zum Beispiel auch das der Religionsfreiheit. Aber sie mutet allen auch gleichermaßen zu, mit Kritik, mit Streitkultur, auch mit Satire und unter Umständen sogar mit Beschimpfungen und Schmähungen zu leben und Kränkungen zu erdulden.

Gekränktheit verleiht nicht das Recht, die Freiheiten der anderen zu missachten. Wer es nicht lernt zu ertragen, dass andere andere Auffassungen vertreten, der hat es schwer, in einer Demokratie anzukommen. Erst recht und schon gar nicht lässt sich aus Gekränktheit ein Recht auf Mord und Terror ableiten.

Deutschland hat aufgrund seiner Vergangenheit eine besondere Sensibilität gegenüber Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sowie gegenüber völkischem und nationalistischem Denken entwickelt. Es ist gut, dass es keine Toleranz gibt gegenüber jenen, die Anschläge auf Flüchtlingsheime verüben, die Ausländerhass verbreiten oder den Holocaust leugnen. Es ist auch gut, dass in unserer Gesellschaft eine hohe Hemmschwelle herrscht gegenüber allem Tun, das andere diskriminiert oder gar physisch verletzt – dafür haben wir gute Gründe, nicht zuletzt verinnerlicht als Lehre aus unserer Geschichte.

Nicht selten erlebe ich allerdings, dass in unserer Gesellschaft mit zweierlei Maß gemessen wird. Aus einer falsch verstandenen Toleranz heraus erhalten Ein- und Zugewanderte nicht selten einen kulturellen Rabatt. So ist beispielsweise durch die Aussagen von Hunderten von Frauen belegt, dass die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht von Nordafrikanern und Arabern aus dem Nahen Osten ausgingen. Wie oft aber hörte ich danach auch das Argument: Wer die jungen Ausländer beschuldige, würde eine kollektive Stigmatisierung betreiben und das sei rassistisch. Manche verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass sexuelle Übergriffe ein Phänomen „des Mannes an sich“ seien. Meines Erachtens ist das eine Flucht aus einer ganz konkreten – teils kriminellen – Lebenssituation. Wer den Blick so von der ganz konkreten Situation weglenkt, relativiert meines Erachtens nicht nur konkrete Schuld. Er verzerrt auch das Bild der Wirklichkeit und verhindert eine adäquate Lösung.

Als nicht hilfreich für die Entwicklung einer gemeinsamen Zukunft von Einheimischen und Eingewanderten erlebe ich auch jene Einheimischen, die, um nicht wegen einer Kritik an Zugewanderten der Diskriminierung oder gar des Rassismus bezichtigt zu werden, ihre Kritik nur hinter vorgehaltener Hand äußern oder bei Wahlen ihr Kreuz hinter Protestparteien machen. Ein derartiger Rückzug hat für mich nichts mit Toleranz zu tun, wohl aber viel mit unfruchtbarer Konfliktvermeidung. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Toleranz gegenüber Intoleranz. Es befestigt in manchen Zuwanderermilieus althergebrachte hierarchische Strukturen und althergebrachtes Ressentiment.

Wir dürfen Intoleranz auch unter Zugewanderten nicht verschweigen

Es hat sehr lange gedauert, bis in unserer Öffentlichkeit neben dem Antisemitismus, der in unguter europäischer Tradition meistens von Rechtsradikalen ausgeht, auch der Antisemitismus ins Blickfeld geriet, der seinen Ursprung in den Ländern des Nahen Ostens hat. Meist gelangten nur einzelne eklatante Fälle in die Öffentlichkeit: Etwa als Rabbiner Daniel Alter auf offener Straße von muslimischen Jugendlichen geschlagen wurde. Oder als jüdische Eltern in Berlin an die Öffentlichkeit gingen, weil ihr Sohn massiv auf einer Schule gemobbt, bedroht und attackiert wurde. Dabei ist das Wort „Jude“ unter den Jugendlichen in einigen Berliner Stadtteilen längst gängiges Schimpfwort und Israel der allseits verfluchte Staat geworden.

Arye Shalicar weiß darüber zu berichten. Er wuchs im Berliner Stadtteil Wedding auf und war solange akzeptierter Teil einer Straßengang, wie er aufgrund seiner dunklen Haut und schwarzen Haare als Araber durchging. Sobald er sich jedoch als Jude outete, wurde er gemieden, beschimpft und körperlich angegriffen. Und wenn er zu seiner Freundin ging, lief er an einer Hausfassade vorbei, an der stand in großen Lettern: „Don’t worry, be Arab and kill Israelis“. Er wusste: Es waren seine ehemaligen Freunde, die diese Graffiti gesprüht hatten. Heute lebt Shalicar in Israel.

Gerade Menschen aus Einwandererfamilien haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir um der Demokratie, um des Rechtsstaats und um der Toleranz willen Intoleranz auch unter Zugewanderten nicht verschweigen dürfen. Sie haben mich auch gelehrt, dass eine Konstellation, in der sich eine Seite durchgängig zum Opfer erklärt und damit moralisch unangreifbar zu machen versucht, in eine Sackgasse führt. Toleranz muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Wer Toleranz einfordert, hat seinerseits auch Toleranz zu gewähren.

Raed Saleh, geboren als Palästinenser im Westjordanland und heute Fraktionsvorsitzender der Berliner SPD, hat es wunderbar auf den Punkt gebracht: Wer hier in Deutschland ein Minarett bauen dürfe, der müsse auch respektieren, wenn sich zwei Männer auf der Straße küssen.

In der DDR war es vor allem die staatlich praktizierte Intoleranz, die das Denken und Tun der Bürger einengte, ihre Vielfalt unterdrückte, ihre Fantasie lähmte, sie häufig in Anpassung beziehungsweise in den Untertanengeist trieb oder andere auch ins Aufbegehren. In den vergangenen Jahren habe ich nun allerdings erfahren, wie das große, vielgestaltige Feld der Demokratie auch durch gesellschaftliche Intoleranz beschnitten werden kann. Und zwar durch eine Intoleranz, die im Namen des Guten und Gerechten auftritt. An die Stelle von politischer Ideologie oder Religion ist bei diesen Debattenteilnehmern als Leitschnur eine häufig zeitgeistgeprägte Moral getreten; auch sie duldet nur sehr schwer andere Götter neben sich.

Zunächst erschien mir zum Beispiel eher kurios, was sich in den fernen USA ereignete. Wie kann es sein, dass Romane aus dem 18. oder 19. Jahrhundert aus dem Kanon einer Universität gestrichen werden, weil Studenten sich durch die Sprache oder die Art der Darstellung verletzt, psychisch überfordert oder gar traumatisiert fühlen? Wie kann es sein, dass Weißen abgesprochen wird, sich zu Schwarzen zu äußern, weil es als eine Art kultureller Vereinnahmung empfunden werden könnte?

Seit längerem ist der Druck, der von den Forderungen der politischen Korrektheit ausgeht, aber auch in unserem Land zu spüren. Auch bei uns gibt es immer mehr Versuche, die Sprache von angeblich diskriminierenden Wörtern zu „reinigen“ und Themen und Thesen auszugrenzen, die Minderheiten verletzen könnten.

Als vor zwei Jahren Hunderttausende von Flüchtlingen ins Land kamen, wagten die großen Medien kaum, über die Probleme und Gefahren zu berichten, die damit auch verbunden sein würden. Absolut dominant und fast euphorisch wurde die Willkommenskultur gefeiert. Die Wirklichkeit, die wir doch alle hätten aushalten können, auch mit ihren immanenten Widrigkeiten, wurde weich gespült, die Bandbreite der Gedanken und Meinungen jedenfalls in einer fortschrittlichen Leitkultur eingeengt.

Der Mensch ist Mensch, weil er so unterschiedlich ist

Wir stehen vor einem durchaus ambivalenten Prozess: Einerseits haben die Bemühungen um Anti-Diskriminierung in unserer Gesellschaft zahlreiche Früchte getragen. Unsere Gesellschaft ist sensibler geworden für vieles, was Einzelne oder Gruppen benachteiligt oder was sie zu Abgehängten werden lässt. Beispielsweise dürften religiöse, ethnische oder sexuelle Minderheiten in westlichen Gesellschaften noch nie so viele Rechte besessen haben wie heute. Niemals würde ich diese Fortschritte zu einer freien und gleichberechtigten Entwicklung aller missen wollen.

Gleichzeitig aber erscheint mir bei dieser Entwicklung auch einiges bedenklich. Ich kann mir keine freie Gesellschaft vorstellen, die imstande ist, jede Art von Unterschied auszugleichen und jede Art von Kränkung zu vermeiden. Und ich möchte mir auch keine Gesellschaft vorstellen, in der letztlich das subjektive Empfinden darüber entscheidet, was im öffentlichen Diskurs zugelassen und was untersagt ist und aus Angst, jemand könnte sich verletzt fühlen, das Feld des Sagbaren immer weiter eingegrenzt wird.

Auch wer Themen oder Argumente ausklammert, weil sie von der „falschen Seite“ kommen oder weil sie den moralischen Ansprüchen der dominanten Eliten nicht entsprechen, verengt den intellektuellen und politischen Disput. Er ist in der Gefahr, Zensur auszuüben gegenüber anderen und gegenüber sich selbst, und befördert genau das, was angeblich verhindert werden soll: Er treibt Menschen auf die Seite von Nationalisten oder Populisten, weil sie sich von der politischen Mitte mit ihren Bedenken nicht aufgehoben fühlen. Viele Wahlergebnisse in jüngerer Zeit belegen es.

Statt also den Debattenraum einzugrenzen, sollten wir viel entschiedener die Fähigkeit der Menschen stärken, sich in einer pluralen Gesellschaft zu bewegen und in Dialog und auch Streit mit anderen Positionen zu treten – durchaus auch „robust“, wie es der englische Historiker Timothy Garton Ash empfohlen hat. Diese größere Bandbreite in Debatten muss nicht automatisch das Ende unserer Zivilität bedeuten.

Zugleich sollten wir beständig, in welcher Tonlage auch immer, für die liberale offene Gesellschaft werben: auch bei Menschen, die Meinungen vertreten, die wir nicht teilen, die uns rückständig oder engstirnig erscheinen. Echte Überzeugung kann nicht durch moralischen Druck oder gar durch Sprechverbote erzwungen werden. Echte Überzeugung kann nur aus innerer Einsicht erwachsen.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt auch Situationen, in denen Argumente nicht mehr greifen. In denen intolerante Denk- und Verhaltensweisen nicht nur verfassungsfeindlich sind, sondern auch zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Deswegen war das Verfassungsgericht angerufen, um über ein mögliches Verbot der NPD zu entscheiden.

Deswegen haben wir zu Recht ein waches Augen auf alle Extremisten, kommen sie von rechts oder von links oder aus dem islamistischen Spektrum. Und deswegen müssen Gerichte auch darüber befinden, wie mit gewaltbereiten Islamisten zu verfahren ist, die in unserem Land den Dschihad predigen oder die aus den Gebieten des IS zurückkehren.

Dies sollten wir in unseren Diskussionen stärker bedenken: Nicht die Toleranz an sich ist der Wert, sondern die Toleranz als Teil eines Wertekonzepts, das das Humanum schützt und stützt. „Wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen“, so hatte bereits der Philosoph Karl Popper geschrieben, „wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“.

Es gibt Menschen, denen Toleranz immer fremd bleibt. Die sich abschotten und aggressiv auf andere reagieren. Das ist traurig, aber das wird so bleiben. Es gibt andererseits aber auch Menschen, die Toleranz ganz einfach verströmen. Das ist wunderschön, und es wird ebenfalls so bleiben. Und meine Erfahrung lehrt, dass Menschen in der Regel umso toleranter sein können, je mehr sie in sich selbst ruhen. Denn je stärker ihr Selbst ist, umso weniger handeln sie aus Ressentiment, Unsicherheit oder Aggression, sondern aus freier Entscheidung. In der Regel sind es auch Menschen mit einem starken Selbst, die nicht über jeden Selbstzweifel erhaben sind und ahnen, dass die Wahrheit nicht immer auf ihrer und die Fehleinschätzung nicht immer auf der anderen Seite liegt. Die trotz aller Differenzen zu anderen ganz tief in ihren Herzen die Sehnsucht nach Verständigung und ein tiefes Wissen um die Friedensfähigkeit des Menschen in sich tragen.

Respekt für die Freiheit des anderen

Ich wünsche mir Respekt für die Freiheit des anderen, wie sie schon Voltaire in seinem Gebet für Toleranz vor 250 Jahren ausdrückte, als er Gott bat: „Du gabst uns nicht ein Herz, dass wir einander hassen, nicht Hände, dass wir einander erwürgen sollten. Gib, dass wir einander helfen, die Last des kurzen, flüchtigen Lebens zu tragen; dass kleine Verschiedenheiten unter den Bedeckungen unsrer schwachen Körper, unter unsern unvollständigen Sprachen, unter unsern lächerlichen Gebräuchen, unsern mangelhaften Gesetzen, unsern törichten Meinungen, unter allen in unsern Augen so getrennten und vor Dir so gleichen Ständen, dass alle diese kleinen Abweichungen der Atome, die sich Menschen nennen, nicht Losungszeichen des Hasses und der Verfolgung werden!“

In dieser Haltung gilt es, die Toleranz zu verteidigen gegen die Intoleranz.Wie immerwährend notwendig das ist, hat sich besonders in Münster fest im Bewusstsein denkender Menschen verankert. Hier, wo am Ende des Dreißigjährigen Krieges eine tiefe Einsicht in einem einzigen Satz zusammengefasst wurde: Pax optima rerum.

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