Die Kirchen und die OktoberrevolutionHundert stürmische Jahre

Die Russische Revolution traf die orthodoxe Kirche 1917 unvorbereitet und in einer schwierigen Situation: Sie war Teil des zaristischen Systems. Die Kommunisten verfolgten die Religionen als Staatsfeinde. Die Folgen sind bis heute spürbar.

Russisch-orthodoxe Kirche
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Am Ende des an Jubiläen reichen Jahres 2017 steht die Erinnerung an ein Ereignis, das keinen kirchlichen Anlass, aber enorme Konsequenzen für alle Kirchen und Religionsgemeinschaften hatte: Die Russische Revolution fand vor hundert Jahren statt, im November 1917. Nach dem damals in Russland noch gültigen julianischen Kalender wird sie Oktoberrevolution genannt. Vermutlich gab es nur wenige Institutionen in Russland, für die die Ereignisse des Jahres 1917 so massive Folgen hatten wie für die orthodoxe Kirche; doch auch für die anderen Religionsgemeinschaften, die es im Russischen Reich gab, und schließlich für alle Kirchen weltweit hatte die Oktoberrevolution Auswirkungen, die zum Teil bis heute spürbar sind.

Die Revolution hatte zur Folge, dass erstmals ein Staat nach der kommunistischen Lehre eingerichtet und verwaltet wurde, die im 19. Jahrhundert vor allem von den deutschen Denkern Karl Marx und Friedrich Engels entwickelt worden war. Nach dieser Lehre, die einen historisch notwendigen Geschichtsablauf impliziert, gilt Religion als ein Konstrukt, das dazu dient, die unterdrückten, arbeitenden Menschen auf eine bessere Zukunft zu vertrösten, damit sie an den bestehenden Verhältnissen nichts verändern. Sobald die Menschen diesen Zusammenhang verstanden und sich befreit hätten, würde Religion von selber verschwinden.

Diese Theorie und die Wahrnehmung, dass die Kirchen als die institutionalisierten Formen von Religion die bestehenden Verhältnisse stützten, bewirkten die massive Gegnerschaft der Kommunisten gegenüber den Kirchen, die von diesen zumeist erwidert wurde.

In Russland galt die orthodoxe Kirche nicht zu Unrecht als Handlangerin des zaristischen Regimes. Seit den Reformen von Kaiser Peter dem Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts war sie völlig unter staatliche Kontrolle geraten. Peter hatte das Ziel, Russland und seine staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen – und damit auch die Kirche – nach westlichen Vorbildern zu erneuern.

Er ersetzte das Kirchenoberhaupt, den Patriarchen, durch ein Gremium aus Bischöfen, Mönchen und Priestern, den „Heiligsten Dirigierenden Synod“, dem nun die Kirchenleitung oblag. Die wichtigste Funktion in diesem Gremium hatte der einzige Nichtkleriker inne, der sogenannte Oberprokuror, der als Vertreter des Herrschers Mitglied des Synods war. Diese Funktion war Ausdruck der Tatsache, dass der Synod als Instrument verstanden wurde, durch das der Wille des Herrschers in Fragen der orthodoxen Kirche umgesetzt werden sollte.

Die Hierarchie hatte den Kontakt zu den Gläubigen längst verloren

Diese Konstellation hatte zur Folge, dass die Kirche zu einer Art Abteilung des Staates wurde. Das Schulwesen unterstand der Kirche, und die Priester, die vom Staat ein Gehalt bekamen, waren verpflichtet, staatsfeindliche Bestrebungen der Polizei zu melden, von denen sie etwa durch die Beichte erfahren hatten. Die Konversion zu einem anderen Bekenntnis und der Austritt aus der Kirche waren untersagt. Erst im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen im Jahr 1905 änderten sich einige dieser Bestimmungen.

Die Isolierung der Kirche von den gesellschaftlichen Entwicklungen nahm im frühen 20. Jahrhundert noch weiter zu. Lediglich die theologische Wissenschaft erlangte einen gewissen Aufschwung; im Bereich der kirchengeschichtlichen Forschungen erreichte die russische Theologie auch ein internationales Ansehen. Neben der wissenschaftlichen Theologie waren die Religionsphilosophie und die Mystik Bereiche des kirchlichen Lebens, die angesichts und infolge der verkrusteten Kirchenstrukturen auflebten.

Die russische Orthodoxie befand sich also in einer äußerst schwierigen Lage, als im 20. Jahrhundert die wohl gewaltigsten Herausforderungen ihrer Geschichte auf sie zukamen: eine riesige Organisation, der die Mehrheit der Bevölkerung angehörte, aber faktisch ohne Macht, fast völlig von der Intelligenz isoliert, die Hierarchie ohne Kontakt zu den Gläubigen. Die aufkommende Industrialisierung und die damit verbundene Modernisierung brachten für das Land zahlreiche Probleme, ebenso die nationale Frage, doch die Kirche wurde für nicht in der Lage gehalten, für diese vielfältigen Probleme Lösungen anzubieten. Sie galt als Teil des Systems, und das nicht zu Unrecht.

Die Februarrevolution von 1917 beseitigte das alte Regime und die Monarchie. Damit fielen auch zahlreiche Privilegien für die orthodoxe Kirche. Praktisch gleichzeitig mit dem Rücktritt des Zaren verfügte der Synod, dass in den Gottesdiensten an den dafür vorgesehenen Stellen nicht mehr für das Herrscherhaus, sondern für die „Rechtgläubige Provisorische Regierung“ gebetet werden sollte. Bald nach der Revolution wurde auch der Synod aufgelöst. Damit verzichtete der Staat auf die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Kirche, und sie konnte nun unabhängig agieren.

Im Sommer 1917 trat in Moskau ein schon lange geplantes Konzil zusammen, dessen Durchführung von den Behörden früher nicht ermöglicht worden war. Es beriet die Formen der Kirchenstruktur. Praktisch zeitgleich mit der Revolution, unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse von St. Petersburg, wurde das Patriarchat wiederhergestellt und der zum ersten Inhaber des Amtes bestimmte Moskauer Metropolit inthronisiert.

Auf die ersten Maßnahmen der Bolschewiki wie etwa die Verstaatlichung des kirchlichen Grundbesitzes reagierte die Kirche mit Exkommunikationsdrohungen. Doch schon bald erließ die Regierung eine Reihe von administrativen Maßnahmen, die den Wirkungskreis der Kirche erheblich einschränkten, und vor allem begannen blutige Verfolgungsmaßnahmen, die die einst mächtige Kirche bis auf wenige Reste dezimierten. Innerhalb von wenigen Jahren waren von den mehr als 130 Bischöfen nur noch vier im Amt, und von den einst 50 000 orthodoxen Kirchengebäuden standen der Kirche nur noch einige hundert zur Verfügung.

In Russland gab es auch andere Kirchen und Religionsgemeinschaften. Diese stimmten vielen Maßnahmen zunächst zu, die die Privilegien der orthodoxen Kirche abschafften. Tatsächlich unterstützten die neuen Machthaber zunächst auch andere Glaubensgemeinschaften, vor allem solche, die in einer gewissen Konkurrenz zur orthodoxen Kirche standen. Doch schon bald wurden alle religiösen Gruppen verfolgt, und viele von ihnen völlig ausgelöscht. Auch eine Erklärung des leitenden Metropoliten im Jahr 1927, wodurch die Kirche die Sowjetregierung als legitim anerkannte, änderte nichts an der Situation. Es gibt eindrucksvolle Zeugnisse von Menschen, die dennoch versuchten, ihren Glauben zu leben, sei es heimlich im Untergrund, oder in den wenigen verbliebenen offiziell genehmigten Kirchen. Der allgemeine Terror der Dreißigerjahre traf jedoch gläubige wie nichtreligiöse Menschen in gleichem Maße. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die verfasste, institutionalisierte Religion in Russland fast völlig ausgelöscht.

Sieht man sich den Kampf der Machthaber gegen die Kirche an, so fallen zwei Tendenzen auf, die einander zu widersprechen scheinen: Zum einen ist es die große Bereitschaft, mit der viele Menschen ohne großes Zögern ihre religiöse Identität ablegten. Die Orthodoxie galt als eine der wichtigsten Stützen des zaristischen Systems – doch innerhalb kürzester Zeit wandten sich die Menschen in Massen von ihrer bisherigen Kirche ab. Das „orthodoxe Russland“ mit seiner angeblich tiefen Spiritualität und Glaubensstärke war im frühen 20. Jahrhundert ein Konstrukt, das kaum eine Grundlage in der Realität besaß. Die Kirchenleitung hatte das nicht erkannt und wurde nicht nur von den politischen Ereignissen überrascht, sondern auch von der Reaktion so vieler Gläubiger.

Zu dieser Reaktion gehörte nicht nur die Abkehr von der Kirche, sondern auch der aggressive Kampf gegen sie. Es war nicht nur eine kleine Gruppe von Revolutionären, die sich gegen die Kirche stellte.

Zugleich gab es aber auch das entgegenlaufende Phänomen: Nicht wenige Menschen nahmen Anstoß an den gewaltsamen Methoden der Kirchenverfolgung und setzten sich – im Rahmen des Möglichen – gegen sie ein. Auch kirchenferne Menschen verurteilten die blasphemischen Aktionen. Zugleich gab es eine ganze Reihe von Menschen, die trotz aller Maßnahmen beim Glauben und in der Kirche blieben, ungeachtet der damit verbundenen Schwierigkeiten.

Die Situation veränderte sich fundamental mit dem Zweiten Weltkrieg: In der Sowjetunion ließ der Druck auf die orthodoxe Kirche nach, Stalin empfing sogar die führenden Vertreter der Kirche, da er im Krieg auf ihre Unterstützung angewiesen war. Nach dem Krieg konnte die orthodoxe Kirche – in einem sehr engen Rahmen und immer unter der Kontrolle des Staates – tätig sein; so wurden jetzt einige wenige Priesterseminare eröffnet, die Kirche konnte zuweilen Publikationen für den eigenen Gebrauch drucken, und die direkte, blutige Verfolgung endete. Aufgrund der Gebietsgewinne der UdSSR im Krieg gehörten nun auch Regionen mit einem blühenden religiösen Leben zum Staat, zumal die deutschen Behörden in den besetzten Gebieten die Kirchen gefördert hatten, um das Vertrauen der Bevölkerung zu erlangen.

Doch auch hier intervenierte der Staat: Er verbot die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine und übertrug die Gemeinden der orthodoxen Kirche. Diese musste sich in den folgenden Jahren immer wieder damit abfinden, dass Gemeinden auf Anordnung der Behörden geschlossen wurden. Doch in engen Grenzen ließ der Staat die orthodoxe Kirche agieren. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte, war Loyalität gegenüber dem Sowjetstaat. So stritten Vertreter der Kirche im Ausland stets ab, dass es religiöse Diskriminierung gebe, und verteidigten die Politik der Sowjetunion.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten auch erstmals Staaten unter kommunistische Herrschaft, die mehrheitlich katholisch oder evangelisch waren, entweder durch Eingliederung in die UdSSR (die baltischen Staaten), oder als Satellitenstaaten, in denen Moskau in den Jahren nach Kriegsende kommunistische Regime durchsetzte. Diese Länder durchliefen fast alle im Zeitraffer die Entwicklung, die sich in der UdSSR seit der Revolution vollzogen hatte: Auf eine Phase von Schauprozessen, willkürlichen Verhaftungen und Tötungen folgte zumeist eine Periode, in der die Kirchen agieren konnten, wenn auch in erheblich reduziertem Maße.

Allerdings ist bei den Staaten Ost- und Mitteleuropas, die nach dem Zweiten Weltkrieg kommunistisch wurden, zu differenzieren: Die Art und Weise, wie die Staaten die Kirchen einzuschränken versuchten, war sehr unterschiedlich. In Albanien war Religion durch die Verfassung seit 1967 verboten – im Unterschied zu allen anderen Staaten, die wenigstens formal Religionsfreiheit anerkannten. In dem Balkanland aber wurden allein schon die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und jeder religiöse Akt streng verfolgt.

Am anderen Ende der Skala stand Polen: Dort gelang es dem Regime nie, einen relevanten Anteil der Bevölkerung dafür zu gewinnen (oder dazu zu zwingen), das Bekenntnis zur katholischen Kirche aufzugeben. Nur dort gab es eine katholische Universität und auch eine Militärseelsorge.

In Jugoslawien war die Situation von Teilrepublik zu Teilrepublik unterschiedlich; die Kirchen und Religionsgemeinschaften konnten sich aber eine gewisse Autonomie bewahren. Das galt auch für die DDR, wo nach einem dramatischen Rückgang der Zahl der Gläubigen in den Fünfzigerjahren die beiden Kirchen ein Nischendasein führen konnten – abseits des staatlichen und gesellschaftlichen Mainstreams, aber mit einem gewissen Aktionsraum. Dieser führte vor allem in der evangelischen Kirche dazu, dass sie in der Zeit vor der friedlichen Revolution 1989 auch nichtkirchlichen Gruppen und Initiativen ein Obdach bieten konnte; Bischöfe und Pfarrer haben bei diesen politischen Prozessen eine wichtige Rolle gespielt.

In den Kirchen ist die Skepsis gegenüber der Moderne geblieben

In den Kirchen gab es unterschiedliche Ansichten darüber, wie man den neuen Machthabern begegnen sollte. Die erwähnte Loyalitätsbekundung der russischen Orthodoxie von 1927 hat an den Verfolgungen nichts geändert, wie auch spätere Solidaritätserklärungen die Religionspolitik nicht beeinflusst haben. Vor allem in der Tschechoslowakei und in Ungarn gab es Amtsträger und Personen in den Kirchen, die entweder von den Behörden gezwungen wurden oder aus eigener Überzeugung dazu bereit waren, mit dem Staat zusammenzuarbeiten, um die Kirche unter staatliche Kontrolle zu bringen.

Die katholischen Priester, die der staatlich kontrollierten Organisation „Pacem in terris“ angehörten, wurden kirchlicherseits oft einfach als Kollaborateure angesehen; viele von ihnen waren aber überzeugt, so das Beste für die Kirche erreichen zu können, und manche konnten ihren Einfluss auch positiv nutzen. Die Vorgehensweise der Behörden, die Motivation der Betroffenen und die Ergebnisse dieses Unterfangens sind ein komplexes Thema, das bisher noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet ist.

Eine eigene Vorgehensweise hat die evangelische Kirche in der DDR entwickelt. Das berühmte Wort des Bischofs Albrecht Schönherr auf der Eisenacher Synode von 1971 „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern wir wollen Kirche im Sozialismus sein“ steht für die Überzeugung, die gesellschaftlichen Gegebenheiten der DDR als den Kontext anzuerkennen, in dem sich die evangelische Kirche entwickelte. Das war eine völlig andere Position, als sie Schönherrs Vor-Vorgänger Otto Dibelius vertreten hatte, der die DDR für so wenig legitim hielt, dass er nicht einmal die von diesem Staat erlassenen Verkehrsregeln akzeptieren wollte. Doch auch trotz Schönherrs Anerkennung der realen Situation blieb die Kirche immer in einem gewissen Widerspruch zum Regime.

In Rumänien und Bulgarien genossen die orthodoxen Kirchen einen begrenzten Schutz, da sie traditionell eng mit der rumänischen beziehungsweise bulgarischen Nation verbunden waren. In Rumänien, wo die Situation durch die großen katholischen und evangelischen Minderheiten komplexer war, mussten sie in die Lobgesänge für den Diktator Nicolae Ceauşescu mit einstimmen. Hier fanden ökumenische Begegnungen mit für den Staat positiven Abschlusserklärungen statt, die nach den politischen Veränderungen, von den meisten Teilnehmern als bedeutungslos eingeschätzt wurden, weil sie von der Staatsmacht initiiert worden waren. Durch die fast ausschließliche Zugehörigkeit der römisch-katholischen Christen zur ungarischen und der evangelischen zur deutschen Minderheit waren die zwischenkirchlichen Beziehungen – ähnlich wie in Jugoslawien – immer auch zwischennationale Beziehungen, die häufig von einer schwierigen Geschichte belastet waren. In Bulgarien schließlich wurde die Orthodoxie als Element des nationalen Erbes gesehen; die religiöse Dimension spielte eine weniger wichtige Rolle. Doch auch hier stand Religion am Rande der Gesellschaft.

Es darf nicht vergessen werden, dass es kommunistische Regime auch in anderen Erdteilen gab und gibt, etwa in China, Nordkorea, Vietnam oder auf Kuba. Auch dort leben Christen. In China beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung zwischen 1,5 und vier Prozent, was bis zu 50 Millionen Christen bedeuten kann.

In allen diesen Staaten ist die Beziehung der Kirchen zum Staat und zur Nation eine Herausforderung. Im berühmten ersten Dekret der jungen Sowjetregierung über Religion vom Februar 1918 lautete der erste, von Lenin persönlich formulierte Satz: „Die Kirche wird vom Staat getrennt.“ Dieser Satz stimmte gerade nicht – der Staat wurde zwar von der Kirche getrennt, die seither keinen Einfluss mehr auf ihn hatte, aber sie wurde keineswegs vom Staat getrennt, sondern stand völlig unter seiner Kontrolle. Gerade bei den orthodoxen Kirchen lässt sich eine Tradition der Staatsnähe feststellen. Das bezog sich traditionell zwar auf orthodoxe Herrscher und Staaten, doch wirkte diese Nähe auch in der kommunistischen Zeit fort.

Die besondere Nähe zur eigenen (oder als „eigene“ wahrgenommenen) Nation hingegen lässt sich auch bei katholischen und – in geringerem Maße – evangelischen Kirchen finden. Vor allem in Vielvölkerstaaten waren die Kirchen oft Trägerinnen des nationalen Bewusstseins und wehrten sich entsprechend gegen eine Identifizierung mit dem als feindlich empfundenen Staat, wie es etwa bei Ukrainern oder Kroaten der Fall war. Diese spezifischen Haltungen wirken bei den Kirchen vielfach auch noch in unserer Zeit nach, also Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus. Die Gründe hierfür sind vielfältig und komplex.

Wir finden enge Beziehungen zwischen Staat und Kirche oder Staat und Nation jedoch auch in Ländern, die niemals kommunistisch waren. Die Bedeutung des Calvinismus für die Bestätigung der niederländischen nationalen Identität oder die des Katholizismus für das irische Bewusstsein zeigen das deutlich. Und doch gibt es einige Gemeinsamkeiten der Kirchen in früher sozialistischen Staaten: Sie haben die meisten Entwicklungen nicht mitvollziehen können, die die in größerer Freiheit lebenden Kirchen gemacht haben. Das betrifft das Zweite Vatikanische Konzil für die katholische Kirche, das oft erst mit großer Verzögerung rezipiert werden konnte. Es betrifft aber auch die Beziehung zu den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Da Modernisierung jedoch (nicht zu Unrecht) mit den sozialistischen Regimen gleichgesetzt wurde, verhielten sich die Kirchen nicht selten zögerlich gegenüber jeder Art von Änderung und Entwicklung.

Diese skeptische Haltung hat sich häufig bis heute erhalten. Dazu gehört auch die oft unkritische Sicht auf die eigene Geschichte, die häufig als Märtyrergeschichte verklärt wird. Das stimmt in vielen Fällen und in mancher Hinsicht, gibt aber nicht das ganze Bild wieder. Die Moderne wird jedenfalls oft als eine typisch westliche Entwicklung betrachtet, die alle negativen Folgen verursacht habe, die man im Westen wahrnimmt. Daher sei es angebracht, sich diesen Entwicklungen zu verschließen. In den Kirchen und zum Teil auch in den Theologien Mittel- und Osteuropas sind solche Positionen oftmals anzutreffen. Sie sind aus den Erfahrungen der Kirchen mit dem Kommunismus zu verstehen, doch ist zu bezweifeln, dass sie einen geeigneten Ansatz bieten können, um mit den Problemen und Herausforderungen der Zukunft umzugehen.

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