Umgang mit Euthanasie-Opfern des NationalsozialismusSpäte Anerkennung

Die Nationalsozialisten ermordeten Hunderttausende Menschen, weil sie an einer Erbkrankheit litten, als geisteskrank galten oder weil sie nicht der NS-Norm entsprachen. Erst seit relativ kurzer Zeit erinnern Mahnmale und Kunst an ihre Schicksale. Was mit ihnen geschehen ist, sollte uns lehren, sensibel mit Menschen mit Behinderung umzugehen und in der Debatte um Sterbehilfe verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

Katholische Behindertenanstalt während der NS-Zeit
© KNA-Bild

Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann.“ Ernst Putzki wusste, dass ihn der Tod erwartet, als er am 3. September 1943 aus der Landesheilanstalt Weilmünster an seine Mutter schrieb. Der Brief erreichte die Mutter nicht, wohl aber die Todesnachricht – offiziell „Trostbrief“ genannt –, in der es hieß, ihr Sohn sei an einer Lungenentzündung verstorben. Ernst Putzki war von den Ärzten mit dem Etikett „geisteskrank“ versehen worden und starb nur wenige Monate nach seiner Ankunft in Hadamar, einem der zentralen Schauplätze nationalsozialistischer Krankenmorde.

Lange waren die Opfer der Zwangssterilisationen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die etwa 300 000 Toten der „Aktion T4“ sowie der späteren systematischen Morde schlicht vergessen. Und das, obgleich die Massentötungen mithilfe von Gas als technischer „Probelauf“ für den Holocaust zu interpretieren sind.

„Es muss wieder mehr gestorben werden.“ Dieser Satz entstammt dem Kinofilm „Nebel im August“. Ein Mediziner spricht ihn aus, während er mit seinen nationalsozialistischen Kollegen berät, wie die „Volksgesundheit“ aufrechterhalten, wie die Kosten für das Gesundheitswesen verringert und wie das als „lebensunwert“ klassifizierte Leben möglichst effektiv „ausgemerzt“ werden könnte. Die Filmszene ist fiktiv, der Hintergrund real: Die Nationalsozialisten ermordeten psychisch kranke und physisch behinderte Menschen, unheilbar Kranke, aber auch invalide Veteranen planmäßig und – nach Unmutsäußerungen aus der Bevölkerung – möglichst unauffällig.

„Euthanasie“ ist seitdem ein in Deutschland hochaufgeladener Begriff. Denn die NS-Reichsärzteschaft verbrämte mit diesem Euphemismus die hunderttausendfach verübten Morde an Menschen, die als unproduktive „Ballastexistenzen“ galten und von ihren Ärzten und ihrem Pflegepersonal in staatlichen und kirchlichen Heilanstalten ums Leben gebracht wurden. Mindestens 5000 Kinder und Jugendliche wurden ermordet – Schutzbefohlene, als „lebensunwert“ „abgestempelt“ von jenen, die für ihre Betreuung und Versorgung, Heilung, Entwicklung und Erziehung verantwortlich waren. Sie töteten mit überdosierten Medikamenten oder Gas – oder, weil auch dies als zu kostspielig galt, durch eine gezielte Mangelernährung, so dass die Patienten verhungerten oder an Infektionen starben.

Der berührende Film „Nebel im August“ hatte im vergangenen Jahr Premiere. Der Regisseur Kai Wessel erzählt darin leicht verfremdet die Geschichte von Ernst Lossa nach dem gleichnamigen Roman von Robert Domes. Mit 13 Jahren geriet der Junge in eine Heil- und Pflegeeinrichtung für Kinder und erlebte, wie wehrlose und kranke Gleichaltrige getötet wurden. Ernst Lossa versuchte, andere Kinder vor dem Verhungern zu schützen. Wegen seiner Aufmüpfigkeit wurde der kleine Patient schließlich selbst vom Anstaltspersonal mit einer todbringenden Injektion vergiftet. Ernst Lossas erschütternde Geschichte ist gut dokumentiert und hat bereits unmittelbar nach Kriegsende in der frühen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen durch die Justiz eine über sein kurzes Leben hinausweisende Rolle gespielt. Dank vieler Zufälle ist er eines der wenigen Opfer der „Euthanasie“, mit dem sich ein Gesicht verbindet.

Familien akzeptierten die Diagnose

Der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, in die Ernst Lossa mit der Diagnose „asozialer Psychopath“ geraten war, musste sich nach 1945 vor Gericht verantworten. Valentin Faltlhauser wurde wegen „Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag“ zu drei Jahren Haft verurteilt, für haftunfähig erklärt und später begnadigt. Der Psychiater Faltlhauser rechtfertigte seine Beteiligung an den Tötungen wehrloser Schutzbefohlener mit dem Hinweis, dass er als Arzt „barmherzig gegen die unglücklichen Geschöpfe“ gehandelt habe – in der Absicht also, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Eine gängige apologetische Äußerung, die auch viele Familien von psychisch oder Sterbenskranken bereitwillig akzeptierten. Und eine Äußerung, die uns bis heute zu hoher Wachsamkeit anhalten sollte und die grundgesetzlich garantierte unbedingte Schutzbedürftigkeit jeden Lebens begründet.

Die lange vor dem Nationalsozialismus entwickelten Theorien der Erbgesundheitslehre dienten als Rechtfertigung für Tötungen, Experimente und Zwangssterilisationen von Menschen, deren Gene angeblich „den gesunden Volkskörper schädigten“. Die „Eugenik“ ging davon aus, dass Genie und Wahnsinn, aber auch die Anlage zu kriminellen Taten im Gehirn ablesbar seien.

Die Hirnforscher waren in die Tötungen verstrickt. Sie lieferten das gedankliche Rüstzeug und bekamen im Gegenzug für ihre Forschung Hirne von Ermordeten zur Verfügung gestellt. Im Nachlass des Kaiser-Wilhelm-Instituts fanden Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main noch 1990 fragwürdige Hirnschnitte. Die Präparate sind mittlerweile bestattet, ein Mahnmal erinnert an die Verbrechen im Dienste einer der Moral entkoppelten Wissenschaft.

Viele Täter wurden rehabiliert

Die Täter aus den psychiatrischen Anstalten und Krankenhäusern wurden indes nach 1945 vielfach rehabilitiert. Unbefleckt blieb ihr Ruf als „Götter in Weiß“. Einen grundlegenden Elitewechsel hat es in der Medizin ebensowenig gegeben wie ein Infragestellen gängiger Behandlungsmethoden und Einstellungen gegenüber den Patienten. Die im Nationalsozialismus breit propagierte Verunglimpfung von Kranken als „sozial unerwünschten“ Mitgliedern der Gesellschaft wirkte lange nach.

In Kaufbeuren beispielsweise begann ein Paradigmenwechsel erst mit der Psychiatriereform in den Achtzigerjahren und einem jungen Klinikleiter, Michael von Cranach, der sich gegen alle Widerstände auch der Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit widmete. Er beschrieb später, dass die Reformen „in eine verschlafene und vernachlässigte Psychiatrie einbrachen, auf der eine unausgesprochene Last und Schuld haftete“.

Dass dem ermordeten Jungen Ernst Lossa mit „Nebel im August“ filmisch und literarisch ein Denkmal gesetzt wurde, unterscheidet ihn von den allermeisten Opfern der Kinder- und Krankenmorde und Zwangssterilisationen. Die meisten blieben anonym.

„Erinnern heißt auswählen“, schrieb einst Günter Grass. Die Opfer der NS-Euthanasie gerieten in Vergessenheit. Den Verbrechen des Holocaust ist in der Erinnerungskultur in Deutschland seit Langem ein fester Platz sicher. Daran wird auch die Forderung einer Geschichtsumdeutung nichts ändern, wie sie von Teilen der Rechtspopulisten erhoben wird. Im Gegenteil, die in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verankerte deutsche Mehrheitsgesellschaft hat sich lange schwergetan mit der Auseinandersetzung um Genozid und Verbrechen, sie hat Phasen der Verdrängung wie der Debatte hinter sich gebracht, bis sie bereit war zu einem Bekenntnis zu Schuld und Verantwortung. Sie hat Prozesse geführt und eröffnet diese auch heute noch, hört Zeitzeugen zu, errichtet Denkmale und verlegt Stolpersteine – und sie tritt in ihrer übergroßen Mehrheit Rufen nach einem „Schlussstrich“ entgegen. In der Verteidigung von Freiheit und Demokratie wird zu Recht immer auch der Hinweis auf Willkür und Menschenverachtung in den Diktaturen intoniert.

Die Bereitschaft der (west-)deutschen Gesellschaft, sich mit jüdischen Opfern zu identifizieren, begann 1979 mit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“. Der Film markierte in der Erinnerungskultur eine Zäsur, ebenso wie die Rede vom 8. Mai 1985, als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Niederlage Deutschlands nicht auf das Jahr der Befreiung 1945 datierte, sondern sie auf das der „Machtergreifung“ verlegte, also auf die Wahlen von 1933.

Für die Erinnerung an die Opfer der „Euthanasie“ gab es kein vergleichbares kollektives Schlüsselerlebnis. So wie den Deutschen 1967 von Alexander und Margarete Mitscherlich die „Unfähigkeit zu trauern“ bescheinigt wurde, ist eine andauernde „Unfähigkeit zur Empathie“ mit den Opfern der „Euthanasie“ zu diagnostizieren. Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bemerkte jüngst: „Wo Empathie nicht gefördert wird, verkümmert sie. Faschistische Regime beschränkten Empathie auf ‚Gemeinschaftsgenossen‘, wer nicht zur rassisch definierten Volksgemeinschaft gehörte, verdiente und bekam auch kein Mitgefühl.“

„Herr Pfarrer“, schrieben drei Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, „wir sind jetzt gestempelt worden, wir wissen gewiss, morgen kommen wir fort, wir werden vergast oder anders umgebracht.“ Die veröffentlichten Dokumente zeigen allerdings, dass auch das christliche Pflegepersonal kein Mitleid hatte, auch keine Gewissensbisse. Nur wenige Dokumente deuten auf Barmherzigkeit hin.

Vielmehr kommt die medizinhistorische Forschung zu dem Schluss, dass viele Anstaltsdirektoren, Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern die verlangten Meldebögen mit inkriminierenden Angaben ausfüllten, die Abtransporte ihrer mit Stempeln auf der Haut gekennzeichneten Schutzbefohlenen in die Vernichtungsanstalten organisierten, sich für Zwangssterilisationen bezahlen ließen, tödliche Spritzen verabreichten und Essen austeilten, dessen Nährwert bewusst reduziert war, um die Patienten dem Verhungern auszusetzen.

Auch Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, die sich um Menschen kümmerten, die nicht alleine zurechtkamen, die pflege- oder betreuungsbedürftig waren, beteiligten sich an den Verbrechen. Gleichwohl gibt es einzelne Zeugnisse des Widerstands gegen die Tötungen – Widerstand aus christlicher Überzeugung. Obgleich einige katholische Theologen durchaus den Theorien der Eugenik zuneigten und die Zwangssterilisationen guthießen – die katholische Kirche hatte mit der päpstlichen Enzyklika „Casti Connubii“ aus dem Jahr 1930 eine starke Argumentationshilfe gegen Zwangssterilisationen in der Hand. Die deutschen Bischöfe machten wiederholt deutlich, dass der Rassenwahn mit ihrem Glauben nicht zu vereinbaren ist und traten als Fürsprecher behinderter Menschen auf. In Hirtenbriefen und Predigten bezogen sie deutlich Position gegen die Ermordung Unschuldiger.

Zugleich sah sich die Kirchenleitung in einem Dilemma: Sie scheute die offene Auseinandersetzung mit staatlichen Stellen aus Furcht vor Repressalien gegen Priester und Gläubige. Zudem wollte sie die Entscheidungsgewalt über ihre eigenen Krankenanstalten nicht verlieren – auch, um die gefährdeten Patienten nach Kräften schützen zu können. Der Münchner Kardinal Michael Faulhaber hatte 1940 schriftlich beim Reichsjustizminister gegen die Massenmorde protestiert und fürchtete, weitere Protestnoten könnten die Morde noch beschleunigen. Der Protest von Clemens Graf von Galen gegen die „Aktion T4“ wiederum machte deutlich, dass der nationalsozialistischen Menschenverachtung eben doch wirksam entgegengetreten werden konnte. Die berühmte Predigt des Münsteraner Bischofs, der später zum Kardinal kreiert wurde, fand in Kirchenkreisen weite Verbreitung. Die Reichsregierung sah sich daraufhin genötigt zu reagieren. Die „Aktion T4“ wurde ausgesetzt, die Tötungen allerdings gingen – nun konsequent kaschiert – weiter.

Protest zeigte durchaus Wirkung

Auch in der evangelischen Kirche äußerten einige Bischöfe und Geistliche ihren Protest, etwa der württembergische Bischof Theophil Wurm, Pastor Friedrich von Bodelschwingh aus Bethel oder Pastor Paul Gerhard Braune, Vorsteher der Hoffnungstaler Anstalten. Doch von ihrem Einspruch drang nichts nach draußen, kritisiert der Historiker und Publizist Götz Aly. Er sieht darin ein wesentliches Versagen. Nach 1945 bekannte die evangelische Kirche zwar öffentlich ihre Schuld. Doch die Aufarbeitung der innerkirchlichen Machtergreifung durch die „Deutschen Christen“, die quasi zu einer Gleichschaltung der evangelischen Kirche geführt hatte, kam nur schleppend in Gang. Und erst recht der offene Umgang mit der Tatsache, dass auch in Anstalten wie den Bodelschwinghschen Menschen massenweise zwangssterilisiert wurden – offenbar ohne nennenswerten Einspruch.

Fest steht: Es gab einen Zusammenhang zwischen der Beendigung der „Aktion Gnadentod“ im Jahr 1941 und dem anschließenden Versuch, die Krankenmorde im Geheimen zu verüben, und den deutlichen Unmutsbekundungen aus der Kirche und der damals noch überwiegend kirchlich gebundenen Bevölkerung. Die Bürger protestierten im Übrigen viel deutlicher gegen die Tötung von Menschen mit Behinderung als gegen die sehr viel sichtbarere und in weitaus größerem Umfang betriebene Ausgrenzung, Entrechtung und Ermordung der jüdischen Nachbarn.

Viele Familien schämten sich

Doch auch in den Familien wurde nach dem Krieg vielfach verdrängt, dass physisch oder psychisch kranke Kinder, Eltern oder andere Verwandte ermordet worden waren. Dass es Angehörige gab, die nicht in die Norm passten, wurde schamvoll verschwiegen, ihr Leid vergessen und ihr gewaltsam herbeigeführter Tod oftmals akzeptiert. So wurde ihre Geschichte ausradiert. Ihre Schreie hat keiner gehört, die Gesellschaft hat sich mit ihnen nicht identifiziert. Die wenigen öffentlich gewordenen Schicksale einzelner basieren zumeist auf Spuren, Fotografien oder Briefe, die Enkel, Nichten oder Neffen Jahrzehnte später zufällig fanden.

Der Maler Gerhard Richter hat sich künstlerisch mit der Geschichte eines ausgelöschten Familienmitglieds auseinandergesetzt. In der Dresdner Familie des Künstlers berühren sich eine Opfer- und eine Tätergeschichte: Seine an Schizophrenie leidende Tante Marianne Schönfelder wurde in jungen Jahren ermordet – Richter hat sie zwanzig Jahre nach ihrem Tod anhand einer überlieferten Fotografie porträtiert. Richters erster Schwiegervater gehörte zu den Ärzten, die psychisch kranke Menschen sterilisierten – auch gegen deren Willen.

Beschämt, hilflos oder mitschuldig schwiegen viele Familien über die ermordeten Angehörigen. Das Kind mit Epilepsie, die psychisch labile Verwandte oder der Onkel, dessen krumme Haltung nicht auf eine mit seinem Heldenmut zu erklärende Kriegsverletzung zurückging, sondern auf eine „Missbildung“ – solche Verstöße gegen eine fiktive Norm waren peinlich schambesetzt. Auch die Nachkriegsgesellschaft schämte sich noch ihrer „Sorgenkinder“. Die Familien der Getöteten waren doppelt betroffen: Sie waren über die bemitleidenswerte Lage ihrer Angehörigen und über deren Todesursache getäuscht worden – und sie hatten sich täuschen lassen, in dem sie die offiziellen Erklärungen glaubten.

„Einen geliebten Angehörigen als unheilbar geisteskrank in einer Anstalt zu wissen, ist schmerzlicher als sein Tod“, schrieb die Mutter einer psychisch kranken jungen Frau, nachdem sie Nachricht vom Ableben ihrer Tochter erhalten hatte. Dem Arzt teilte die Mutter offenkundig erleichtert mit, dass ihr Kind „eigentlich bereits vor mehr als 22 Jahren für uns mehr als gestorben ist“.

Obgleich es lange gedauert hat, bis auch die 300 000 Opfer der „Euthanasie“ und die unter Zwang sterilisierten Menschen eine öffentliche Würdigung in der Gesellschaft erfuhren – historisch aufgearbeitet sind die Verbrechen seit langem. Auch viele Einrichtungen haben sich mittlerweile ihrer Geschichte gestellt, allerdings erst nach langem Zögern. Denn auch nach 1945 spielten oftmals Nützlichkeitserwägungen eine größere Rolle als das Bekenntnis zur Würde eines jeden Menschen. In einem Heim, das zur bayerischen Heil-und Pflegeanstalt Eglfing-Haar gehörte, musste der nach Kriegsende eingesetzte unbelastete Anstaltsleiter Gerhard Schmidt in Begleitung bewaffneter amerikanischer GIs dafür sorgen, dass die Patienten ihre Essensrationen bekamen. Die Mitarbeiter des Heims glaubten angesichts der Lebensmittelknappheit, sich weiter selbst bedienen zu dürfen. Die Leidtragenden waren die Patienten, die weiterhin hungerten – wie Gerhard Schmidts Sohn jüngst auf einer Gedenkfeier in München berichtete.

Der Deutsche Bundestag hat sich im November 2015 für ein Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung ausgesprochen – unter ausdrücklichem Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen an Menschen mit Behinderung und an Kranken. Aber auch noch an weiteren Stellen scheint das schmerzvolle Thema „Euthanasie“ derzeit im Bundestag auf, außerhalb des eigentlichen parlamentarischen Kerngeschäfts, also jenseits der Gesetzgebung: Zum einen kreiste das offizielle Gedenken zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar in diesem Jahr um die erschütternden hunderttausendfachen Morde an kranken und behinderten Menschen. Zum zweiten zeigte der Bundestag eine Ausstellung unter dem Titel „Wir sind viele“ mit großformatigen Fotografien von Jim Rakete. Der Fotograf hat 50 Menschen aus den Einrichtungen der Bodelschwinghschen Stiftungen sensibel porträtiert – ihr liebens- und vor allem unbedingt lebenswürdiges Menschsein spricht aus den Bildern. Darüber hinaus beschäftigte sich die Künstlerin Juliane Ebner mit den „Euthanasie“-Morden. Im Auftrag des Deutschen Bundestages drehte sie einen autobiografisch inspirierten Kurzfilm und erinnerte an viele Schmerzpunkte der deutschen Geschichte. In einem ihrer Erzählstränge kommt auch ein getötetes Kind mit Down-Syndrom vor.

„Wenn es gar keine Brücke gibt von meinen Erinnerungen zu euren, warum schreibe ich das hier überhaupt?“, fragte Ruth Klüger 1992 in ihrem autobiografischen Band „weiter leben“. Klüger hat Auschwitz überlebt. Vielfach ist die Brücke zu den Opfern der „Euthanasie“-Morde brüchig, längst eingerissen, vielfach bestand sie nie. Zwar erinnert seit 2014 an zentraler Stelle in Berlin, in der Tiergartenstraße, wo die Verbrechen erdacht wurden und die der „Aktion T4“ den Namen gab, ein Mahnmal an die Toten. Auch an vielen anderen Orten wird ihnen inzwischen ein bleibendes, auch öffentlich sichtbares Andenken gewährt – in den einstigen Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern sowie mit „Stolpersteinen“ des Künstlers Gunter Demnig. Offen ist indes die archivrechtlich strittige Frage, ob ihre Namen in öffentlichen Totenbüchern genannt, die Opfer also als Individuen kenntlich gemacht werden dürfen.

Aus der Vergangenheit ergibt sich für die heutige Gesellschaft die Aufgabe, besonders verantwortungsvoll mit der Unterschiedlichkeit und Individualität von Menschen umzugehen, mit Krankheit und mit Betreuungsbedürftigkeit. Eine besonders sensible Frage bleibt dabei die Gestaltung des Lebensendes wie das jüngste Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Suizidbeihilfe belegt.

Der gesellschaftliche Emanzipationsprozess, in dem Menschen mit einer psychischen oder körperlichen Behinderung vom weggesperrten Anstaltsbewohner zum Individuum mit einem förderungswürdigen Potenzial zur größtmöglichen Selbstbestimmtheit wurden, dauert an. Das Bemühen um Eigenständigkeit und die Anerkennung von Individualität rührt auch an das Selbstverständnis der Pflegewirtschaft: Wie viel Hilfe ist nötig, wie viel Freiraum möglich? Und wer darf darüber befinden? Die Fragen, wie Inklusion und ein Zusamenleben in Würde gelingen können, sollten uns alle beschäftigen. Dazu gehört auch, eine Brücke zu jenen zu bauen, die keine Erinnerung haben.

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