Warum Großpfarreien eine Lösung sein könnenReale und gefühlte Zumutungen

Die Kritik an den sogenannten XXL-Pfareien reißt nicht ab. Welche Erfahrungen hat man bisher im Bistum Essen gemacht, der ersten Diözese, die entsprechende Fusionen von Pfarreien vorgenommen hat?

Kirche zwischen Hochhäusern
© pixabay.de

Wow – das ist ja wie Katholikentag“, staunt der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates. Gegen Ende des Gottesdienstes zur Einführung des neuen Pfarrers setzt er zu seinem Grußwort an. Die Feier hat ihn sichtlich bewegt: Eine überfüllte Kirche mit einem großen Chor und mehreren Instrumentalisten, kräftiger Gesang, schwungvolle Lieder. Aus mehreren Gemeinden waren die Gläubigen mit „ihren“ Chören zusammengekommen. An diesem Nachmittag deutet sich an, was möglich wird, wenn Katholikinnen und Katholiken über ihre Kirchtürme hinausschauen und zueinanderfinden: Kirche wird zur Erfahrung einer großen Gemeinschaft, die Begeisterung weckt – ein wenig „wie Katholikentag“.

Mir hat sich die Szene mit dem staunenden PGR-Vorsitzenden eingeprägt. Es war die Einführung eines neuen Pfarrers in einer der Großpfarreien, die vielerorts auch – etwas despektierlich – „XXL-Pfarreien“ genannt werden. Viele Katholiken sehen in diesen Konstrukten eher Verlustgeschichten, während in der eben beschriebenen Szene jemand einen Gewinn zu ahnen beginnt: Wenn Gemeinden nicht für sich bleiben, sondern in einem größeren Bezugsrahmen miteinander wachsen, können auch Erfahrungen (wieder) möglich werden, die in der einzelnen Gemeinde so nicht (mehr) zu finden sind.

Entstanden sind die Großpfarreien im Bistum Essen aus einer wirtschaftlichen Not: Im Jahre 2006 hatte eine Untersuchung durch Wirtschaftsprüfer Alarm geschlagen: Radikale Umstrukturierungen waren notwendig, um nicht in eine ernsthafte Insolvenzgefahr zu geraten. Das führte zu drastischen Maßnahmen, die weitgehend in einem „Top-Down-Prozess“ umgesetzt wurden. Die bis dahin 259 eigenständigen Kirchengemeinden wurden aufgelöst und zu 43 neuen Pfarreien zusammengelegt – in der Folge wurden 96 Kirchengebäude aufgegeben, hinzu kamen erhebliche finanzielle Einschnitte.

Das war ein schmerzhafter Prozess, der Wunden geschlagen hat, die bis heute nachwirken: Pfarrer fühlten sich „degradiert“, weil sie in den neuen Strukturen „nur“ noch Pastoren sein können, kirchenrechtlich einem Kaplan vergleichbar; Gemeinden verloren ihre Souveränität und die Hoheit über Kindertagesstätten, die seither von einem Zweckverband gesteuert werden; hauptberufliches Personal gerät unter immer größeren Erwartungsdruck aus mehreren Gemeinden. Die Liste der realen oder gefühlten Verluste und Zumutungen ließe sich fortschreiben.

Kirche jenseits der Strukturfragen

Auch nach mehr als zehn Jahren wird die Struktur der Großpfarreien vielfach beklagt. Trotzdem ist die Zahl derer gewachsen, die den damals eingeschlagenen Weg für richtig halten. In einer Zeit, in der die Volkskirche an ihr Ende kommt, müssen Christen zusammenrücken, um sich zu stärken und handlungsfähig zu bleiben. Darum braucht es Strukturen, die Verbundenheit schaffen und Grenzen überwinden.

Seit 2012 wird intensiv darüber diskutiert, wie es um unsere Kirche jenseits der Strukturfragen bestellt ist. Der Dialogprozess, der nach dem Missbrauchs-Skandal angestoßen wurde, führte im Ruhrbistum zu einer gründlichen Bestandsaufnahme. Die wirtschaftlichen Probleme erwiesen sich dabei als Symptome einer tieferen, grundlegenden Krise. Das kirchlich verfasste Christentum verliert dramatisch an gesellschaftlicher Relevanz und Anschlussfähigkeit: Die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt kontinuierlich; viele Angebote stoßen auf sinkendes Interesse; die innerkirchlich noch gebundenen Menschen werden immer älter. Selbst ehemals aktive Christen ziehen sich zurück. Inhalte, Erscheinungsbild und Atmosphäre unserer Kirche werden nicht nur den jüngeren Generationen zunehmend fremd. All das bekommen unsere Gemeinden deutlich zu spüren.

Im Dialogprozess entstand ein Zukunftsbild, das auf diese Bestandsaufnahme reagiert und mit sieben Begriffen eine Vision für die Zukunft der Kirche entwickelt. Es beschreibt eine Kirche, die vielfältig ist und sich der ganzen Bandbreite der Menschen unserer Gesellschaft öffnet. Im Mittelpunkt stehen geistliche Erfahrungen: Menschen, die in ihrer Tiefe berührt werden vom Evangelium Jesu Christi, werden zu überzeugten und überzeugenden Christen. Sie alle tragen die Kirche und wissen sich gesendet, um die Werte des Evangeliums weiter zu sagen und zu leben. Wach nehmen sie wahr, was sich in der Gesellschaft tut und wo sie sich wirksam für andere einsetzen können. Die Kirche zeigt sich offen für Entwicklung und Veränderung, weil sie sich als lernend versteht. Und nicht zuletzt liegt ihr daran, nah bei den Menschen zu sein – nicht allein durch Institutionen, Gebäude und hauptberufliches Personal, sondern durch die gelebte alltägliche Nächstenliebe aller Mitglieder.

Die Kirche muss sich inhaltlich neu ausrichten, um eine wichtige Größe in der Gesellschaft zu bleiben. Die dafür notwendige innerkirchliche Auseinandersetzung braucht eine breite Basis – nicht nur, weil jede einzelne Gemeinde damit überfordert wäre, sondern weil es um eine grundsätzliche Krisensituation der Kirche geht.

Das Zukunftsbild dient als Grundlage für die „Pfarreientwicklungsprozesse“, die im vergangenen Jahr in allen Pfarreien des Bistums Essen begonnen haben. Es geht eben nicht allein um drängende wirtschaftliche und strukturelle Fragen. Natürlich muss ein finanzieller Konkurs in den kommenden Jahren verhindert werden, denn die Schere zwischen sinkenden Einnahmen und steigenden Kosten geht weiter auf. Genauso wichtig ist es, einen inhaltlich-geistlichen Konkurs abzuwenden.

So laufen in unseren Pfarreien wichtige Debatten: Was kommt in zehn bis zwanzig Jahren auf uns zu? Wie verändern sich die Menschen und die Stadtteile und Quartiere, in denen sie leben, und was bedeutet das für unsere Initiativen und Angebote? Wer trägt künftig unsere Gottesdienste und gestaltet das kirchliche Leben? Wie kann es gelingen, für Menschen interessant zu werden, die keinen Zugang zu den klassischen Gemeindeangeboten finden? Was muss sich verändern, damit Kirche attraktiv und anziehend wird? Wie können wir den christlichen Glauben so zum Ausdruck bringen, dass er von den Menschen unserer Zeit verstanden und angenommen werden kann?

Diese Debatten sind schwierig. Oft stehen schmerzhafte Entscheidungen im Vordergrund: Welche Kirchengebäude können und wollen wir erhalten? Von welchen Gebäuden müssen wir uns verabschieden, weil die finanziellen Mittel nicht reichen – spätestens dann, wenn größere Sanierungsmaßnahmen anstehen? Zuweilen wird deutlich, dass manche Gebäude nicht nur zu groß geworden sind, sondern auch keine angemessene Atmosphäre bieten, um darin geistliche Erfahrungen machen zu können.

Es ist offensichtlich: Wer meint, in allen Gemeinden könne alles wie gewohnt erhalten werden, erliegt einer Illusion. Die finanziellen Mittel, aber auch die personellen Möglichkeiten reichen nicht aus. Wie aber kann es gelingen, eine Balance zu finden zwischen zentralen Schwerpunkten und kleineren „Zellen“ kirchlichen Lebens, die ein gewisses Maß an kirchlicher Nähe in allen Teilen einer Großpfarrei sicherstellen?

Fluchtgedanken und die Suche nach Schuldigen ändern nicht die Realität

Ängste, Widerstände und erbitterte Verteilungskämpfe prägen derzeit viele Auseinandersetzungen. Manch einer will nicht wahrhaben, dass die volkskirchlichen Zeiten zu Ende sind. Da wird nach Schuldigen gesucht, die verantwortlich gemacht werden können für angebliche Fehlentwicklungen. Einfache Lösungsmuster tauchen auf: Wenn „die da oben beim Bistum“ einfach anderswo sparen würden; wenn „die Priester“ bessere Arbeit leisten würden; oder wenn das Ruhrbistum aufgelöst und in seine „reichen“ Ursprungsbistümer zurückgeführt würde, könnte alles bleiben, wie es ist. Solche Fluchtgedanken verändern aber nicht die Realität. Das erkennen auch die meisten, die in den Pfarreien und Gemeinden mutig nach vorne schauen und sich den Herausforderungen stellen.

Mich berührte vor wenigen Wochen ein Besuch in meiner sauerländischen Heimat, dem ländlichen Teil unseres Bistums. Hier umfassen die Großpfarreien mehrere Kleinstädte und Dörfer, die von Tälern und Hügeln getrennt sind. Die Idee, dort Gemeinden zusammenzuführen, galt vor zehn Jahren als aussichtsloses Unterfangen. Ich war nun zu Gast, als die Großpfarrei einen gemeinsamen Festgottesdienst in einer ihrer Kirchen feierte. Was mich freute: Aus beiden Kleinstädten, die zur Pfarrei zählen, waren die Menschen tatsächlich zusammengekommen – und bekräftigten in Gesprächen ihren Willen, die Gläubigen beider Orte zusammenzuführen.

Dieser Wille zu mehr Verbundenheit ist der Einsicht erwachsen, dass die einzelnen Gemeinden auf Dauer nicht mehr allein überlebensfähig sind. Längst zeichnet sich ab, dass für viele Aktivitäten gar nicht mehr genügend Menschen zu finden sind, die sich engagieren wollen – angefangen von der Chorarbeit bis hin zur Firmkatechese. Die Kirchengebäude sind angesichts der sinkenden Zahl der Gottesdienstfeiernden zu groß geworden. In meiner Heimatkirche hat man bereits die Kirchenbänke eines Seitenschiffs entfernt, weil sie nicht mehr benötigt werden. Natürlich erzeugen solche Phänomene Traurigkeit. Aber inzwischen wächst auch eine Haltung, die im Verbund der großen Pfarrei „jetzt erst recht“ nach gemeinsamen Wegen sucht.

Dabei entstehen manchmal geradezu „verrückte“ Ideen. Ein jüngerer Gremienvertreter einer anderen Pfarrei verriet mir, er habe in seiner Pfarrei vorgeschlagen, auf einzelne traditionelle Kirchengebäude zu verzichten, um stattdessen eine neue Kirche zu bauen. Im Gebiet der Pfarrei ist ein kulturelles Zentrum gewachsen, in dem sich Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung sammeln. Dort müsse die Kirchengemeinde in ganz neuer Form präsent sein. Sein Vorschlag scheint noch nicht mehrheitsfähig, aber dass solche Gedanken überhaupt ausgesprochen und diskutiert werden, ist ein großer Schritt. Es geht darum, nicht nur allein auf das bestehende Erbe der Vergangenheit zu schauen, sondern exemplarisch neue Versuche zu wagen, Kirche für unsere Zeit zu entwickeln.

Die Einblicke in die Debatten unserer Pfarreien zeigen, was geschehen kann, wenn das überkommene Kirchturm-Denken überwunden wird. Da wächst eine gemeinsame Sicht auf die Situation des Christentums und löst eine Haltung ab, die die „eigene“ Kirchenwelt gegen die „der anderen“ abgrenzen und verteidigen will. Die Frage ist nicht, wie ich „meine“ Kirche „rette“, sondern wie es uns Christen gemeinsam gelingt, dass die Botschaft Jesu Christi auch künftig noch von möglichst vielen Menschen als Fundament und Orientierung für das eigene Leben entdeckt werden kann. Das verändert die Perspektive: Es dreht sich dann nicht mehr alles – im übertragenen Sinn – um den eigenen Kirchturm, sondern um die Menschen, denen die Kirchtürme vielleicht gar nicht so wichtig sind.

Schätzungsweise 80 bis 90 Prozent der Kirchensteuerzahler nehmen selten bis gar nicht am Leben der Gemeinden teil. Was motiviert sie, die Kirche dennoch finanziell zu unterstützen? Was erwarten oder wünschen sie sich von ihrer Kirchengemeinde? Wie können Begegnungen möglich werden mit „Kirchenfernen“ und ganz besonders mit der jüngeren Generation? Wie reagieren Pfarreien und Gemeinden auf soziale und andere Entwicklungen in ihrer Umgebung? Und: Wie feiern wir unseren Glauben so, dass es andere Menschen anzieht – und wie müssen dazu die entsprechenden Räume gestaltet sein?

Die Herausforderungen gemeinsam bewältigen, nicht gegeneinander

Wir können in unserer Kirche die großen Herausforderungen der Zukunft nur miteinander, aber nicht neben- oder gar gegeneinander bewältigen. Wir müssen zusammenrücken, das „Kirchturm-Denken“ überwinden und uns darauf besinnen, was Katholizität bedeutet – nämlich gemeinsam Kirche zu sein. Wir befinden uns auf diesem Weg am Anfang. Nach wie vor sind viele Gläubige skeptisch, ob die größer werdenden Pfarreien eine Hilfe sind. Manches geht tatsächlich verloren und nicht immer ist erkennbar, ob Neues wächst. Pfarrer und pastorale Mitarbeitende stehen massiv unter Druck, weil sie Veränderungsprozesse steuern sollen, die es in sich haben.

Zudem haben viele von ihnen mit ganz anderen Träumen ihren Beruf gewählt. Teilweise zerreißt es engagierte Menschen in Pfarreien, wenn problematische Entscheidungen zu Unverständnis und Widerstand führen. Manche Kirchenmitglieder hängen derart an Gewohntem, dass sie ihre Glaubenspraxis und sogar ihre Kirchenzugehörigkeit aufgeben, wenn es nicht weitergeht wie bisher.

Letzteres wirft noch ganz andere Fragen auf: Was ist der tragende Grund eines Glaubens, der nicht mehr weiter praktiziert wird, sobald ein bestimmter äußerer Rahmen verloren geht? Welches Verständnis von Glaube und Kirche ist in der Vergangenheit vermittelt worden oder gewachsen, wenn eine nicht zu unterschätzende Zahl von Gläubigen nicht bereit ist, in einer anderen Kirche als der „eigenen“ den Glauben zu praktizieren?

Das Ringen um die angesprochenen Fragen hilft, drohende Lethargie und Resignation zu überwinden. Auch das zeigt sich: Da setzen Pfarreien an einzelnen Orten besondere Schwerpunkte – von der Jugendpastoral bis zum Engagement in sozialen Brennpunkten; da entstehen Initiativen für eine neue Förderung des Ehrenamtes und nicht zuletzt gibt es Versuche, Formen ehrenamtlicher Leitung in einzelnen Gemeinden einer Großpfarrei zu entwickeln. Bistumsweit arbeiten 20 Arbeitsgruppen an innovativen Projekten, deren Ziel es ist, jene Menschen zu erreichen, die in Distanz zur Kirche stehen. Gerade diejenigen, die sich von der Kirche abgewendet haben, stehen im Fokus einer größeren Studie: Was könnte helfen, um zu ihnen wieder neue Anknüpfungspunkte zu finden?

Kürzlich beschwerte sich ein junges Paar bei mir über die Zurückweisung in einer Gemeinde, in der es gerne heiraten und ihr Kind taufen lassen wollte. Das Pfarrbüro hielt sich an die Regel: Hochzeit und Taufe nur für Gemeindemitglieder, die auch vor Ort wohnen. Das junge Paar stellte angesichts dieser „Abfuhr“ eine treffende Frage: „Wir gehören keiner Gemeinde an und wollen das auch nicht. Aber wir möchten gerne Mitglied der katholischen Kirche sein! Geht das eigentlich?“

Diese provozierende Frage macht klar: Viele Menschen denken nicht mehr in den Kategorien, die uns innerkirchlich vertraut sind. Sie denken offener, flexibler, vielfältiger. Das stellt natürlich gewohnte Kirchenbilder infrage. Unser Zukunftsbild wirbt auch deshalb für eine größere Vielfalt in unserer Kirche, weil das Evangelium uns zu allen Menschen sendet. Wenn sich von unseren derzeitigen Kirchenstrukturen immer weniger Menschen angesprochen fühlen, dann besteht also dringender Veränderungsbedarf. Große Pfarreien sind eine Chance, in einem größeren territorialen Raum sehr vielfältige Kirchenwege für vielfältige Menschen zu ermöglichen – und dabei zugleich eine bleibende Verbundenheit zu sichern. So wird es dann bei aller Vielfalt immer wieder solche Momente geben, die „wie ein Katholikentag“ wirken: stärkend und verbindend.

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