Ein Interview mit dem Philosophen Holm Tetens„Auferstehung der Toten, Gericht, Vergebung“

Der Berliner Philosoph Holm Tetens war Atheist, hat sich aber in jüngster Zeit dem Gottesgedanken zugewandt. Im Interview spricht er über die Vernünftigkeit des Gottesbegriffs, über die Erklärungsnöte einer naturalistischen Weltanschauung und über Gerechtigkeit für die Opfer der Weltgeschichte als wichtigstes Motiv der Hoffnung auf einen Gott, der das Heil der Menschen will. Die Fragen stellte Benjamin Leven.

Der Philosoph Holm Tetens
© Privat

Ich würde unser Gespräch gerne mit drei Zitaten beginnen und möchte Sie jeweils fragen, ob Sie den Aussagen zustimmen können. Das erste Zitat: „Der Atheismus des 19. und des 20. Jahrhunderts ist von seinen Wurzeln und seinem Ziel her ein Moralismus: ein Protest gegen die Ungerechtigkeiten der Welt und der Weltgeschichte. Eine Welt, in der ein solches Ausmaß an Ungerechtigkeit, an Leid der Unschuldigen und an Zynismus der Macht besteht, kann nicht Werk eines guten Gottes sein. Der Gott, der diese Welt zu verantworten hätte, wäre kein gerechter und schon gar nicht ein guter Gott. Um der Moral willen muss man diesen Gott bestreiten."

Holm Tetens: Der Atheismus hat tatsächlich auch diese Wurzel. Und ein solcher moralisch motivierter Atheismus ist in jedem Fall zu respektieren und intellektuell zu achten. Aber ich glaube, das Zitat beschreibt nicht die ganze Wahrheit. Es gibt auch einen Gewohnheitsatheismus, der keineswegs besonders intensiv reflektiert wird und der nicht am Zustand der Welt leidet. Man glaubt einfach nicht mehr an Gott und findet die Welt trotzdem im Prinzip in Ordnung.

Hier das nächste Zitat, aus demselben Text: „So schien es, da kein Gott ist, der Gerechtigkeit schafft, dass nun der Mensch selbst gerufen ist, die Gerechtigkeit herzustellen. (…) Dass daraus erst die größten Grausamkeiten und Zerstörungen des Rechts folgten, ist kein Zufall, sondern in der inneren Unwahrheit dieses Anspruchs begründet. Eine Welt, die sich selbst Gerechtigkeit schaffen muss, ist eine Welt ohne Hoffnung. Niemand und nichts antwortet auf das Leiden der Jahrhunderte."

Tetens: Dem stimme ich insofern zu, als man sagen kann: Das Projekt der Moderne ist ein gigantisches Selbsterlösungsprogramm. Es beruht auf der Vorstellung, dass wir in einem Universum leben, das sinnfrei ist und dem das Glück und die Moralität der Menschen gleichgültig ist. Die Moderne ist der Versuch, sich von den Übeln und Leiden der Welt, so weit es eben möglich ist, selbst zu befreien. Nun kann man Sünde geradezu definieren als die Wahnidee des Menschen, er sei Gott, er könne Gottes Platz einnehmen und er sei auf Gott nicht angewiesen. Wahnhaft ist die Idee schon insofern, als der Fortschritt prinzipiell ambivalent bleibt. Die großen Selbsterlösungsprojekte des 19. und 20. Jahrhunderts – Kommunismus und Faschismus – haben stets zerstörerische Auswirkungen von ungeahnten Ausmaßen gehabt. Ein anderes Beispiel: Wir leben in einer Zeit, in der die Naturerkenntnis durch die Wissenschaft explosionsartig angewachsen ist. Zugleich ist dies eine Phase, in der die Natur durch die Menschen in einer Weise zerstört und gefährdet wird, wie wir das aus keiner anderen zivilisatorischen Epoche kennen. Das zeigt die unglaubliche Ambivalenz des Selbsterlösungsprogramms Moderne, das immer in der Gefahr steht, das Gegenteil von dem zu produzieren, was eigentlich intendiert wird.

Und schließlich das dritte Zitat: „Ich bin überzeugt, dass die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist. Das bloß individuelle Bedürfnis nach einer Erfüllung, die uns in diesem Leben versagt ist, nach der Unsterblichkeit der Liebe, auf die wir warten, ist gewiss ein wichtiger Grund zu glauben, dass der Mensch auf Ewigkeit hin angelegt ist, aber nur im Verein mit der Unmöglichkeit, dass das Unrecht der Geschichte das letzte Wort sei, wird die Notwendigkeit des wiederkehrenden Christus und des neuen Lebens vollends einsichtig."

Tetens: Völlig d’accord. Das ist genau meine Sicht. Ich selbst habe zum Beispiel in vieler Hinsicht ein absolut privilegiertes Leben geführt. Darum könnte ich mit dem Gedanken leben, mit meinem Tod als individuelle Person ins Nichts zu verschwinden. Aber die Tatsache, dass die Geschichte voll von Menschen ist, denen unglaubliches Unrecht geschehen ist, und die ungesühnt und ungetröstet gestorben sind, ist ein so skandalöser Sachverhalt, dass man schon sehr gute Gründe haben muss, zu sagen: Ja, aber so ist die Welt eben, wir können leider nichts da­ran ändern. Es ist in der Tat einer der stärksten Gründe für den Gottesgedanken, angesichts der ungetröstet und ungesühnt verstorbenen Opfer der Weltgeschichte darauf zu hoffen: Gott gibt nichts und niemanden endgültig verloren, er will unbedingt das Heil der Welt und der Menschen.

Alle drei Zitate stammen von Benedikt XVI., aus der Enzyklika „Spe Salvi" über die Hoffnung von 2007. Früher hätten Sie diesen Aussagen wohl nicht zustimmen können. Als Philosophieprofessor haben sie lange Zeit einen atheistischen und naturalistischen Standpunkt vertreten. Was besagt die naturalistische Position im Wesentlichen?

Tetens: Der Naturalismus sagt: Es gibt keine andere Wirklichkeit, als die Erfahrungswirklichkeit. Die Erfahrungswelt, in der wir leben, ist eine Welt, in der alle Phänomene bestens mit den Mitteln der Wissenschaften beschrieben und erklärt werden können. Für uns Menschen ist dies die Welt zwischen Geburt und Tod. Vor unserer Geburt waren wir nicht und nach unserem Tod werden wir nicht mehr sein. Außerdem besagt diese Weltsicht, dass die eigentliche Realität die materielle Realität ist. Alles, was es sonst gibt, muss in irgendeiner Form auf das Materielle zurückgeführt werden.

In ihrem Buch „Gott denken" von 2015 haben Sie eine philosophische Wende hin zum Theismus vollzogen. Sie schreiben darin, der Naturalismus habe ein Erklärungsproblem. Worin besteht es?

Tetens: Der Naturalismus hat zwei Probleme, die eng miteinander verbunden sind. Erstens kann der Naturalismus nicht zureichend das metaphysisch brisanteste und härteste Problem der Philosophie angemessen lösen, nämlich das Leib-Seele-Problem. Er hat größte Schwierigkeiten, verständlich zu machen, wie in einem angeblich rein materiellen Universium eines Tages Menschen als geistige Ich-Subjekte in Erscheinung treten. Damit hängt das zweite Problem zusammen. Die naturalistische Position kann sich selbst nicht auf kohärente Weise in dem Weltbild, das sie propagiert, unterbringen. Eine metaphysische Position sagt immer etwas über die Welt als Ganzes aus. Wenn jemand sagt, die Welt ist im Ganzen so und so, verlangt das, dass die Tatsache, dass er das sagt, selbst in dieser Sicht des Ganzen erklärend untergebracht werden kann. Aber naturalistische Positionen können nicht erklären, warum es Menschen gibt, die naturalistische Positionen vertreten. Wir haben hier das Problem eines Weltbildes, in dem das Subjekt dieses Weltbildes nicht angemessen vorkommt.

Sie sagen, der Naturalismus ist eine metaphysische Position. So mancher Naturalist würde sich aber wahrscheinlich dagegen wehren, seine Position habe etwas mit Metaphysik zu tun.

Tetens: Naturalisten, die sich für antimetaphysisch halten, unterliegen einem schlichten Missverständnis. Wenn jemand sagt, er sei Naturalist und halte sich nur an die Erfahrungstatsachen, dann steckt genau in dem Wörtchen „nur" das Problem. Wenn er sich „nur" daran hält, impliziert das ja, dass es nichts anderes gibt. Das aber ist kein Ergebnis der Wissenschaften. Die Wissenschaften sagen nur, es gibt die Erfahrungswelt und man kann sie erfolgreich wissenschaftlich beschreiben. Kein vernünftiger Mensch bezweifelt das. Aber daraus folgt niemals der Satz, dass es nur die Erfahrungstatsachen gibt. Diese Behauptung jedoch ist die eigentliche Quintessenz des Naturalismus. Und insofern ist der Naturalismus eine metaphysische Position. Er geht über die empirischen Ergebnisse der Wissenschaften hinaus.

Nun sagen manche Vertreter der Hirnforschung, der menschliche Geist sei eine Illusion. Gewisse biophysische Vorgänge im Gehirn würden uns darüber täuschen, dass wir ein Bewusstsein haben.

Tetens: Das beeindruckt mich am allerwenigsten. Der Hirnforscher nennt als Wissenschaftler nicht irgendwelche Gehirnzustände, die dafür verantwortlich sind, dass er das denkt. Er glaubt vielmehr gute Gründe dafür nennen zu können, dass sich das Verhältnis von Körper und Geist so verhält, wie er es beschreibt. Dabei kommt es zu einem Selbstwiderspruch: Denn der Hirnforscher sagt ja nicht, seine Position sei wahr, weil bestimmte Prozesse in gewissen Partien seines Gehirns dafür verantwortlich sind. Sondern er sagt natürlich, seine Position sei wahr, weil er glaubt, Gründe dafür anführen zu können. Diese Gründe haben mit Hirnzuständen erst einmal gar nichts zu tun. Leider sind viele Hirnforscher in dieser Hinsicht ziemlich unbelehrbar.

Nun schlagen Sie als Alternative zum Naturalismus jetzt den Theismus vor. Wieso kann denn der Theismus die Existenz von endlichen, geistigen Wesen in der Welt erklären?

Tetens: Ich glaube, dass der Theismus ein richtigeres Erklärungsprinzip hat: Geist kann nicht aus Materie erklärt werden, sondern Geist kann nur aus Geist erklärt werden. Der Theismus beginnt mit der Annahme eines vollkommenen geistigen Wesens. Der Theist wählt seine Erklärungsrichtung so, dass das weniger vollkommene Geistige aus dem vollkommeneren Geistigen erklärt werden kann. Durchdenkt man das gründlicher, so stellt sich heraus, dass diese Erklärung viel überzeugender ist, als naturalistisch zu erklären, wie das Geistige aus dem rein Materiellen, das blinden Naturgesetzen gehorcht, entstehen kann. Der Theismus sagt: Gott als vollkommenes geistiges Subjekt ist der Schöpfer jedes einzelnen endlichen geistigen Wesens.

Sie beschreiben in Ihrem Buch Gott nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Gott, auf den man hoffen kann. Was macht diese Hoffnung aus?

Tetens: Vor allen Dingen ist zu hoffen, dass die Verbrechen, die den Weg der Menschheit säumen, in der Perspektive der Opfer nicht das letzte Wort in der Sache sind. Darüber sollte man intensiv philosophisch nachdenken. Heute meinen wir ja oft, der Gottesgedanke verdanke sich einer Art Wunschdenken und sei tendenziell deshalb schon falsch. Ich glaube aber, dass sich gerade in dem unverschämten Optimismus der Erlösungshoffnung die Stärke des Gottesgedankens erweist.

Aber wie ist Erlösung philosophisch zu denken?

Tetens: Aus der Sicht rationaler Theologie lassen sich nur wenige strukturelle Merkmale von Erlösung benennen. Erstens: Der Erlösungsgedanke ist nur dann vernünftig zu denken, wenn der physische Tod eines menschlichen Individuums nicht das Ende dieses Individuums ist. Es muss also eine Fortexistenz des Individuums über den Tod hinaus geben. Zweitens: Es kann nicht sein, dass wir uns nach dem Tod in einem paradiesischen Zustand wiederfinden, der in keinem Zusammenhang zu dem steht, was in dieser Welt passiert ist. Es wäre eine merkwürdige Verhöhnung der Opfer, würde das Erlösungsgeschehen über die in dieser Welt geschehenen Verbrechen sozusagen schweigend hinweggehen. Es braucht also so etwas wie ein Gericht. Darunter verstehe ich: Jeder von uns wird konfrontiert mit der ungeschminkten Wahrheit seines Lebens, denn wir neigen alle dazu, uns über unsere Rolle im Leben zu täuschen, insbesondere über das Ausmaß, in dem wir selber als Opfer und Täter in die Übel und Leiden dieser Welt verstrickt sind. Drittens: Im Gericht haben wir die Möglichkeit, unsere Schuld zu bekennen, zu bereuen, um Verzeihung zu bitten und Verzeihung auch zu gewähren. Bei diesen drei Merkmalen der Erlösung sollte es rationale Theologie belassen: Auferstehung der Toten, Gericht, Vergebung.

Sie haben eben gesagt, wir sind in die Übel und Leiden der Welt unentrinnbar verstrickt, jeder ist Opfer und Täter. Ist das der rationale Sinn hinter der Erbsündenlehre?

Tetens: Ja. Der Grundgedanke der Sünde ist nach meinem Verständnis der, dass wir die Illusion haben, wir seien der Mittelpunkt der Welt. Für ein Ich-Subjekt liegt es sehr nahe, das zu denken. Wenn wir das glauben, sind wir nicht bereit, uns als Geschöpfe Gottes zu begreifen. Wir glauben dann, wir seien auf uns selbst gestellt und könten kraft eigener Machtvollkommenheit, ohne Gott, unserem Dasein Sinn und Glück verschaffen. Aber gerade bei dem Versuch, die Übel und Leiden der Welt aus eigener Kraft zu überwinden, verstricken wir uns selbst immer mehr in die Übel und Leiden der Welt.

Die Voraussetzung für Gericht und Vergebung ist für Sie die Auferstehung der Toten. Wie verstehen Sie das?

Tetens: Es liegt viel Tiefsinn in der christlichen Überzegung, dass wir als endliche Wesen nach dem Tod nicht einfach als unsterbliche Seelen weiterleben, sondern dass wir als leibliche Wesen auferstehen. Endliche Ich-Subjekte sind deshalb endlich, weil sie durch andere Ich-Subjekte begrenzt und bedingt sind. Sie können nur voneinander wissen und einander begegnen in einem nichtgeistigen, ihnen gemeinsam zugänglichen materiellen Medium. Insofern gibt es keine endlichen Ich-Subjekte ohne eine diesen Ich-Subjekten gemeinsame materielle Erfahrungswelt. Die Auferstehung der Toten ist – wie man früher auch formulierte – eine Auferstehung des Fleisches.

Und was passiert, wenn Menschen sich in ihrer Freiheit der Möglichkeit zur Versöhnung und Erlösung im Gericht verweigern?

Tetens: Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich nicht wirklich beantworten kann. Ich glaube jedenfalls, dass Gott uns auch im Gericht nicht als Marionetten behandelt, sondern als freie Wesen. Wenn Menschen vergeben und ihnen vergeben wird, dann nicht, weil Gott sie dazu zwingt, sondern weil es ihre freie Entscheidung ist. Deshalb muss man konsequenterweise auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Menschen sich dem Versöhnungsangebot Gottes verweigern. Vielleicht könnte man sagen, dass es einen doppelten Ausgang des Gerichts in dem Sinne gibt, dass diejenigen, die sich der Versöhnung verweigern, aus der Interaktion mit Gott und den Mitmenschen – und damit aus der Schöpfung Gottes – endgültig herausfallen.

Sie bezeichnen Gott als Schöpfer der Welt. Gleichzeitig sagen Sie, die Welt ist erlösungsbedürftig. Das führt unweigerlich zu der Frage, wieso Gott die Welt so geschaffen hat, dass sie erlösungsbedürftig ist.

Tetens: Diese Frage, die Theodizeefrage, ist natürlich die Frage philosophischer Theologie schlechthin. Man muss vorausschicken: Niemand kennt eine restlos überzeugende Antwort. Wir nennen die Welt gut, weil sie Gottes Schöpfung ist. Aber das entspricht ja nicht ganz den Tatsachen. Denn es gibt in der Welt moralische und physische Übel. Die Welt kann allenfalls gut genannt werden in einem heilsgeschichtlichen Sinne: Gott verheißt uns, dass die Schöpfung noch gut werden wird. Nun bereiten mir die moralischen Übel keine besonderen Kopfschmerzen. Denn nicht Gott hat sie in die Welt gebracht, sondern wir selbst. Gott hat uns als freie, selbstverantwortliche Wesen geschaffen. Mit dieser Freiheit haben wir auch die Möglichkeit, moralische Übel zu verursachen. Da müssen wir nicht erstaunt Gott fragen, woher diese Übel kommen. Bleibt das Rätsel der physischen Übel. Und auf diese Frage habe ich keine gute Antwort. Ich glaube allerdings, ohne das an dieser Stelle weiter ausführen zu wollen, dass diese Welt eine gefallene Schöpfung ist und dass es einen Zusammenhang zwischen den physischen und den moralischen Übeln gibt – dass, so hart das klingt, wir letzenendes auch für das Auftreten physischer Übel verantwortlich sind.

Müssen sich nicht auch die Atheisten und Naturalisten die Frage stellen, warum es die Übel in der Welt gibt?

Tetens: Ja, um diese Frage kommen auch Naturalisten nicht herum. Der Naturalist kann entweder die Antwort geben, dass die Übel und Leiden eines Tages durch immer mehr Wissenschaft und Technik überwunden werden. Das, glaube ich, ist eine grandiose Illusion und überhaupt keine befriedigende Antwort. Oder er kann sagen: So ist es nun einmal, es lässt sich nichts daran ändern und jeder muss irgendwie versuchen, in dieser Welt durchzukommen und nach Möglichkeit nicht Opfer oder Täter moralischer Übel zu werden. Das ist eine völlig respektable Antwort. Die dritte Option ist schließlich, sich die Welt schönzureden. Und das ist – befürchte ich – sogar die Mehrheitsposition.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass auch religiös vollkommen unmusikalische Menschen die Erlösungsbedürftigkeit der Welt erkennen können. Aber warum tun das so viele von ihnen nicht?

Tetens: Max Horkheimer, Theodor Adorno und Walter Benjamin haben in den Dreißigerjahren eine intensive Debatte über die Frage geführt: Wie haben wir uns zu den Opfern der Weltgeschichte zu stellen? Sie haben sich als Marxisten und Atheisten verstanden und sie waren überzeugt, dass die Leiden der Opfer nicht das letzte Wort sein sollten. Aber die theistische Lösung kam für sie nicht infrage. Sie waren sozusagen religiös unmusikalisch, haben aber die Erlösungsbedürftigkeit der Welt ganz klar gesehen. Auch ein Philosoph wie Albert Camus oder der rumänisch-französische Denker Emil Cioran sind Beispiele für Menschen, die sich als Atheisten verstehen, aber doch sehen, dass der Gottesgedanke auf einen Zustand der Welt zu antworten versucht, der auch in ihren Augen beklagenswert ist. Heute gibt es, im Gegensatz zu den eben beispielhaft genannten Denkern, viele Intellektuelle, die noch nicht einmal die Frage nach der richtigen Einstellung zu den ungetrösteten Opfern der Weltgeschichte anerkennen. Das scheint mir eine Form der Gedankenlosigkeit oder sogar des Illusionismus zu sein, die ich mir nicht restlos erklären kann. Ein wichtiges Motiv ist vielleicht, dass viele Intellektuelle Wissenschaft und Technik schätzen und beide eng verwoben mit der Aufklärung sind. In der Perspektive dieser Intellektueller wurde die Aufklärung gegen die Religion und die Kirchen errungen, sodass sie mit der Rückkehr zum Gottesgedanken die Rückkehr in ein dunkleres, unaufgeklärtes Zeitalter fürchten – obwohl diese Sicht, wenn man sich historisch genauer informiert, nur begrenzt den Tatsachen entspricht. Auf der anderen Seite gibt es auch Intellektuelle, die eine Art Gewohnheitsatheismus pflegen. Ihnen würde ich durchaus mit Blick auf die Opfer der Weltgeschichte den Vorwurf machen, nicht gründlich genug nachgedacht zu haben. Ich will damit nicht sagen, dass man in der Gottesfrage zwangsläufig zu einem positiven Ergebnis, nämlich zu einer Erlösungshoffnung, kommen muss, wenn man nur lange genug nachdenkt. Aber man müsste schon erkennen, dass die Frage nach einem Erlösergott nicht so einfach erledigt werden kann, als ginge es dabei gewissermaßen um eine Art Weihnachtsmann oder Frau Holle.

Gleichzeitig sprechen einige Religionssoziologen seit geraumer Zeit von einer Wiederkehr der Religion.

Tetens: Tatsächlich hat sich die Religion in der aufgeklärten, säkularen Gesellschaft nicht erledigt. Doch bei allem Freudestrahlen darüber, dass die sogenannte Säkularisierungsthese falsch ist, sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine tiefe Plausiblitätskrise des Christentums gibt, und zwar insbesondere in den intellektuellen Eliten. Wenn es den Kirchen nicht gelingt, einen Teil der Intellektuellen für die Sache des Glaubens zurückzugewinnen, dann werden die Kirchen einen sehr schweren und zunehmend schwereren Stand in der Gesellschaft haben.

Wie ist es dazu kommen, dass Sie selbst sich dem Gottesgedanken zugewendet haben, nachdem sie sich lange als Atheist positioniert haben?

Tetens: Das ist nicht besonders spektakulär. Ich hatte kein Bekehrungserlebnis. Ich bin in Bremen großgeworden und durch meine Mutter und meine beiden Großmütter evangelisch erzogen worden. In meiner Kindheit und Jugend hat mir der Glaube viel bedeutet. Ich habe dann als Jugendlicher begonnen, mich mit Theologie zu beschäftigen und habe zum Beispiel Rudolf Bultmann, Karl Barth, Paul Tillich, aber auch Dorothee Sölle gelesen. Durch die Beschäftigung mit der Theologie sind mir zunehmend Zweifel gekommen, ob der christliche Glaube vernünftig ist. Ungefähr zum Zeitpunkt des Abiturs war mir klar, dass ich kein Gläubiger mehr bin. Ich habe daraus sofort die Konsequenz gezogen, aus der Kirche auszutreten. Ich habe das gerade aus Respekt vor den religiösen Menschen getan, die wichtige Bezugspersonen für mich waren, beispielsweise der Pfarrer, der mich konfirmiert hat, und mein Deutschlehrer in der Oberstufe, der ein tiefreligiöser evangelischer Christ war. Als Philosoph habe ich mich dann tatsächlich konsequent als Naturalist und Atheist verstanden. Trotzdem habe ich mich immer mal wieder philosophisch mit der Gottesfrage beschäftigt, indem ich zum Beispiel Lehrveranstaltungen zur Religionsphilosophie angeboten habe. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, wie sich meine Position zu verändern begann. Ich wurde dem Gottesgedanken gegenüber wieder aufgeschlossener. Als ich mit dem Buch „Gott denken" begonnen habe, wusste ich noch nicht, dass es ein Buch wird, das die Vernünftigkeit des Gottesgedanken verteidigt. Dieses Resultat ist beim Schreiben entstanden. Ich würde nicht sagen, dass ich nun gottgläubig bin. Angemessener scheint es mir, wenn ich sage: Ich bin als Philosoph von der Vernünftigkeit des Gottesgedankens überzeugt. Aber diese philosophische Einsicht ist noch kein existenztragender Gottesglaube. Für mich gibt es ein Kriterium für Gläubigkeit, das ich jedenfalls gegenwärtig bestenfalls partiell erfülle: Ich bete nicht für mich als Privatperson zu Gott. Ich bete allerdings mit einer gewissen inneren Überzegung als Gottesdienstbesucher neben und vor allem mit den anderen Gottesdienstbesuchern öffentlich das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und die anderen Gebete. Aber als Individuum vollziehe ich diesen Schritt noch nicht.

Mit einigen Aspekten des christlichen Glaubens können Sie nach wie vor wenig anfangen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sie insbesondere Schwierigkeiten mit vielen traditionellen christologischen Aussagen haben.

Tetens: Ja, ich tue mich beispielsweise schwer mit dem immer wieder betonten Satz, dass Gott Mensch wird. Und ich habe Probleme damit, dass man diese Menschwerdung erläutert, indem man den Trinitätsgedanken einführt. Gott als ein unendliches, nichtmaterielles geistiges Wesen kann in einem halbwegs wörtlichen Sinne nicht Mensch werden. Dem Gedanken, dass Jesus Gottes Sohn ist, kann ich nur insofern Sinn abgewinnen, dass Gott sich im Leben dieses Menschen Jesus von Nazareth den Menschen in unüberbietbarer Weise offenbart hat – offenbart als der Gott, der es mit den Menschen und seiner Schöpfung unbedingt gut meint und ihnen das Heil zusagt. Ich verstehe insbesondere den Jesus der synoptischen Evangelien so, dass er die Nähe des Reiches Gottes predigt. Und das heißt, dass er das unbedingte Vertrauen zur Heilszusage Gottes verkündigt, dass er selber in diesem unbedingten Vertrauen auf Gott gelebt hat, bis in den Tod hinein.

Für die christliche Tradition bedeutet die Menschwerdung Gottes die Voraussetzung dafür, dass Gott imstande ist, mit den Menschen mitzuleiden.

Tetens: Damit ist ein weiterer Gedanke verbunden, mit dem ich bislang Schwierigkeiten habe, nämlich, dass Jesus am Kreuz für unsere Sünden gestorben ist. Das klingt so, als ob doch Blut fließen müsste, damit Gott uns das Heil zusagen kann. Ich glaube, wenn ich das ein wenig pointiert sagen soll, dass dem Kreuzestod Jesu keine heilsgeschichtliche Notwendigkeit zukommt. Die Kreuzigung ist ein Verbrechen unter vielen Menschheitsverbrechen. Jesus hat das, was er getan hat, nur insofern für uns getan, als er uns den gütigen Gott verkündigt und im unbedingten Vertrauen auf diesen Gott glaubhaft gelebt hat und gestorben ist.

Aber dass Gott vom Leiden erlöst, indem er selbst leidet, dass er vom Tod erlöst, indem er selbst stirbt und von den Opfern der Geschichte erlöst, indem er sich selbst opfert, das ist für Sie ein unverständlicher Gedanke?

Tetens: Ja, dass Gott selbst leiden musste, um uns von der Sünde und den Übeln und Leiden befreien und erlösen zu können, ist ein Gedanke, den ich bisher nur schwer nachvollziehen kann. Es bereitet in Wahrheit große ontologische und metaphische Schwierigkeiten, sich Gott als einen Leidenden vorzustellen. Gott zeigt Interesse an seiner Schöpfung und er will, dass sie am Ende gut wird. Aber er kann nicht Mensch werden und für seine Schöpfung leiden. Jemand, der das vertritt, könnte sich ja auch einmal fragen, was eigentlich daran hängt. Wir bewegen uns hier im Übrigen in einem Gebiet kirchlicher Dogmatik, das höchst umstritten ist. Theologen bieten ja selber sehr unterschiedliche Interpretationen an für den Satz, dass Gott um unserer Erlösung willen gestorben ist.

Würden Sie sich als Christ bezeichnen?

Tetens: Ich glaube jedenfalls, dass ich bei allen dogmatischen Differenzen im Detail und auch in manchen Grundlagen jedenfalls in vielen Dingen vom Christentum nicht weit entfernt bin. Außerdem bin ich natürlich weiterhin unterwegs und ich will und kann nicht ausschließen, dass mir in Zukunft noch verständlich wird, was, wie angedeutet, mir gegenwärtig sehr schwer fällt, gedanklich nachzuvollziehen. In der Theologie und im Nachdenken über Gott ist mir die katholische Theologie in manchem inzwischen näher, als sie es früher gewesen ist, wo ich mich vornehmlich mit der protestantischen Theologie beschäftigt habe. Was ich an der katholischen Theologie wirklich schätze, ist genau jenes Moment von rationaler Theologie, das im katholischen Denken immer bewahrt wurde. Wenn Sie so ein großartiges Buch nehmen wie die „Einführung in das Christentum" von Joseph Ratzinger, dann gefällt mir daran einfach, dass der erste Teil ein einziges, unglaublich beredtes Plädoyer für die Vernünftigkeit des Gottesglaubens ist – dafür, dass der Gott der Philosophen und der Gott des Glaubens sich nicht auseinanderdividieren lassen. Der Gott des Glaubens ist auch der Gott der Philosophen und der Gott der Philosophen kann jedenfalls eingebettet werden in die Vorstellung vom Gott des Glaubens. Vom Kirchenverständnis her bin ich aber eher Protestant. Ich glaube weiterhin nicht, dass zwischen Mensch und Gott eine Heilsexpertokratie gestellt werden muss. Gott und menschliches Individuum sind direkt aufeinander bezogen und Gott ist überall dort, wo Menschen sich in seinem Namen versammeln, über ihn nachdenken, zu ihm beten, ihn loben und preisen.

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