ReformationsjubiläumEndspurt auf dem Weg nach Wittenberg

Die sogenannte Lutherdekade der EKD geht in ihr letztes Themenjahr – was hat sie bisher erreicht?

Die Schlosskirche von Wittenberg war völlig überfüllt. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) saß in der ersten Reihe, direkt neben Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen). Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) war gekommen, der Präsident des Lutherischen Weltbundes, Mark Hanson und der katholische Bischof von Magdeburg, Gerhard Feige. Dort, wo Martin Luther am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 seine 95 Thesen über den Ablasshandel angeschlagen haben soll, eröffnete die Evangelische Kirche in Deutschland am 21. September 2008 die „Lutherdekade“. Einen Reigen von Themenjahren auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017.

Heute, fast drei Monate nach der Eröffnung des letzten Themenjahres „Reformation und die Eine Welt“, die am 31. Oktober 2015 in Straßburg stattfand, lohnt zunächst einmal ein Blick zurück. Was wollte die EKD mit der „Lutherdekade“ eigentlich erreichen? Wolfgang Huber formulierte 2008 einige klare Erwartungen an die Jahre, die da kommen sollten. „Die Lutherdekade legt ein besonderes Gewicht auf den Lebensweg Martin Luthers, des Reformators“, sagte Huber in der Wittenberger Schlosskirche. Zur Seite trete ihr eine Reformdekade, in der die EKD die Konsequenzen bedenken wolle, die sich aus dem Anstoß der Reformation für die Gegenwart ergeben. „Die Jahre 2008 bis 2017 sollen in unserer Kirche eine Dekade der Reform sein, wie sie ein Jahrzehnt der Erinnerung an Martin Luther sind.“

Schon damals wandte sich Huber gegen eine „nationale und konfessionelle Engführung“ im Rahmen der Lutherdekade. Die Lutherdekade dürfe kein „Jubeljahrzehnt“ werden, sie müsse auch die Schatten und Grenzen Luthers zutage bringen. Und Huber erinnerte daran, dass Luther nie die Absicht gehabt habe, eine neue Kirche zu gründen. „Luther wollte eine Reform seiner katholischen Kirche an Haupt und Gliedern“, sagte Huber. „Ob wir von den Ursachen und Wirkungen der Reformation heute ein gemeinsames Bild haben und dieses Bild auch gemeinsam formulieren können, ist deshalb ein wichtiger Prüfstein dafür, wie weit wir mit der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen gekommen sind“.

Die erhoffte ökumenische Annäherung ist ausgeblieben

Der Versuch, ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigungslehre zu formulieren, sei ein Schritt in diese Richtung gewesen, dem Weitere folgen müssten. „Dann besteht die Aussicht, dass das Reformationsjubiläum 2017 wirklich zu einem ökumenischen Ereignis wird“.

Zudem habe Luthers Erkenntnis, „Niemand muss sich einen gnädigen und barmherzigen Gott verdienen, weil Gott immer schon gnädig und barmherzig ist“, im Mittelalter zu einem „Wind der Freiheit“ geführt. „Dieser Schritt ins Freie bestimmt das Gedenken an Luther bis auf den heutigen Tag“, sagte Huber damals. „Er soll die Lutherdekade zu einer Dekade der Freiheit machen“. Und manche Passagen der Rede von damals lesen sich im Rückblick fast prophetisch. „In einer Zeit, in der ein weltweit agierender Terrorismus Furcht auslöst und Kriege in neuer Gestalt um sich greifen, wird die Freiheit von Furcht zu einem Alltagsthema“, sagte Huber.

Das alles ist nun sieben Jahre her. Im Herbst dieses Jahres, am 31. Oktober 2016, wird das Reformationsjubiläum offiziell eröffnet werden. Das Calvin-Jahr 2009 ist ebenso Geschichte wie die Erinnerung an Philipp Melanchthon 2010 und die Themenjahre zu Reformation und Freiheit, Musik, Toleranz und Politik. Was also haben die Themenjahre der „Lutherdekade“ gebracht? Und wo steht die EKD mit ihrem Reformationsjubiläum heute? Wollte man zynisch sein, müsste man wohl „noch immer ganz am Anfang“ antworten. Die von Huber erhofften großen ökumenischen Fortschritte beispielsweise, die in ihrer Bedeutung an die „Gemeinsame Erklärung der Rechtfertigungslehre“ von 1999 herankommen sollten, hat es nicht gegeben.

Auf der Weltebene immerhin entstand mit dem Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“, das der Lutherische Weltbund und der Päpstliche Einheitsrat 2013 vorstellten, ein gemeinsames Papier zum Reformationsgedenken. In Deutschland dagegen verbrachten die EKD und die römisch-katholische Kirche den größten Teil der „Lutherdekade“ mit terminologischen Streitigkeiten, die späteren Generationen vermutlich eher peinlich sein werden. Konkret ging es immer wieder um die Frage, ob 2017 nun ein Jubiläum oder ein Gedenken stattfinden werde.

Nennenswerte Fortschritte in der Ökumene brachten diese Diskussionen nicht – aber immerhin konnten sie im Sommer 2015 beendet werden: Da nämlich veröffentlichten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx und der aktuelle Ratsvorsitzende der EKD, der Huber-Schüler Heinrich Bedford-Strohm, einen offiziellen Briefwechsel, in dem Bedford-Strohm den katholischen Begriff des Reformationsgedenkens gleichrangig mit dem evangelischen Reformationsjubiläum verwandte und die Katholiken zu einem „Christusfest“ einlud (vgl. HK, August 2015, 388-389). Geplant sind für 2017 nun ein Buß- und Versöhnungsgottesdienst von Katholiken und Protestanten sowie eine gemeinsame Pilgerreise nach Israel, die EKD und Deutsche Bischofskonferenz noch im Herbst des Jahres 2016 unternehmen wollen. Vielleicht trägt ein auf dem Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ aufbauender, eventueller Besuch von Papst Franziskus beim Jubiläum des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Lund noch zu weiteren ökumenischen Entwicklungen bei – insgesamt aber ist das eine eher dürftige Bilanz, erinnert man sich an die großen Erwartungen in Sachen Ökumene, die Wolfgang Huber noch 2008 bei der Eröffnung der Lutherdekade formuliert hatte.

Verlorenen Boden gut machen

Auf der Habenseite der EKD steht dagegen die Breitenwirkung der bisherigen Themenjahre. In den Kirchengemeinden zwischen List auf Sylt und Garmisch-Partenkirchen fanden im Rahmen der jeweiligen Themenjahre unzählige Veranstaltungen statt – besonders in den Jahren, die mit konkreten historischen Personen verbunden wurden, also 2009 Johannes Calvin und 2010 Philipp Melanchthon. Zumindest die Gemeindekirchenräte und die übrigen ehrenamtlich engagierten Mitglieder der evangelischen Kerngemeinden dürften in den letzten Jahren ihr Wissen über die Theologie Martin Luthers, den Zusammenhang von Rechtfertigung und Freiheit und die Wirkungsgeschichte der Reformation in den Bereichen Bildung, Kunst oder Musik deutlich vertieft haben.

Zuweilen geschah dies unter Mitwirkung der Reformationsbotschafterin Margot Käßmann, die 2012 vom EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in ihr Amt eingeführt wurde. Ihr Dienst solle nicht nur „an ein wichtiges geschichtliches Ereignis erinnern, sondern auch die inhaltlichen Anliegen der Reformation ‚allem Volk‘ vergegenwärtigen“, sagte Schneider damals. „Alles Volk“ freilich hört in letzter Zeit nicht mehr sehr viel von Käßmann. In der großen Öffentlichkeit ist es um die Theologin in den letzten Jahren zwar nicht ruhig, wohl aber ruhiger geworden. Im vergangenen Jahr kündigte sie sogar an, im Alter von nur 59 Jahren im Jahr 2018 in den Ruhestand gehen zu wollen. Immerhin wird man es auch ihr als Verdienst zurechnen können, dass die Dekade – wie von Wolfgang Huber angekündigt – nicht zu einem „Jubeljahrzehnt“ geworden ist. Intensiv setzte sich Käßmann etwa mit der Judenfeindschaft des späten Luther auseinander, zuweilen sogar so intensiv, dass man meinen konnte, es gebe für die EKD im Zusammenhang mit dem 500. Jahrestag der Reformation kaum noch ein anderes Thema.

Doch das Ergebnis gab der EKD am Ende Recht: Vor der Synode der EKD, die im November in Bremen tagte, würdigte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, den Umgang der EKD mit dem Reformationsjubiläum (vgl. HK, Dezember 2015, 617-618). „Schon früh wurde auf Ihrer Seite das problematische Verhältnis des Reformators zu den Juden thematisiert“, sagte Schuster da. „Sie haben diese unangenehme Seite Luthers nicht ausgeblendet, obwohl sie unbequeme Fragen aufwirft“. Dass sich die Synode mit einer Erklärung zu einer „Schuldverstrickung der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen“ und von einem „schuldhaften Versagen gegenüber dem Judentum“ in der Zeit des Nationalsozialismus bekannte, würdigte Schuster als „deutliche Worte“. „So, wie Sie das Reformationsjubiläum angehen, bietet es eine große Chance, verbindend zu wirken – in der Ökumene und im Verhältnis zu den Juden in Deutschland.“

Ganz offensichtlich also gelingt es der EKD unter der stringenten Leitung ihres neuen Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm und der mindestens ebenso engagierten Synodenpräses Irmgard Schwaetzer, in den letzten Monaten der Reformationsdekade verlorenen Boden gut zu machen. Was aber ist im letzten Themenjahr der Reformationsdekade noch zu erwarten? Zunächst einmal sind da die Dinge, die vor dem großen Jubiläum abgeschlossen werden sollen. Die Revision der Lutherbibel etwa soll Ende 2016 in den gottesdienstlichen Gebrauch genommen werden. Das Programm des Kirchentags 2017 muss fertiggestellt werden, wenigstens die Schwerpunktsetzungen müssen zum Jahresende klar sein.

Etwas unklar scheint noch immer das Verhältnis zwischen den nationalen und den internationalen Feierlichkeiten: Welche Rolle wird das LWB-Jubiläum in Lund Ende des Jahres spielen? Welche Rolle die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds, die 2017 nicht etwa in Deutschland, sondern im fernen Namibia stattfindet? Gelingt es der EKD und ihrer „Weltausstellung des Protestantismus“ wirklich, die Welt nach Wittenberg zu holen?

Inhaltlich jedenfalls steht das letzte Themenjahr der Dekade unter dem Motto „Reformation und die Eine Welt“. Praktisch wird es von der aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland zwar nicht überschattet, wohl aber massiv beeinflusst. Bei der Eröffnung am Reformationstag 2015 im Straßburger Münster waren die Flüchtlinge sogar das beherrschende Thema – in der Predigt Käßmanns ebenso, wie bei der Vergabe der Luther-Medaille der EKD an Eva-Luise und Horst Köhler, die sich mit den Worten Bedford-Strohms schon für Afrika engagierten, „lange bevor syrische und afrikanische Flüchtlinge zu Hunderttausenden zu uns kamen.“

Doch die Flüchtlingskrise und das bundesweite Engagement von Kirchengemeinden und Ehrenamtlichen für Heimatlose und Vertriebene aus Syrien, dem Irak und anderen Bürgerkriegsländern könnte der EKD in den letzten Monaten der Reformationsdekade auch noch eine große Chance bieten, an eines ihrer Kernthemen zu erinnern: Die Verbindung von Reformation und Freiheit nämlich, und der von Wolfgang Huber schon 2008 als „Alltagsthema“ bezeichneten „Freiheit von Furcht“ in den Zeiten des Terrorismus und der Kriege, womit kurz vor dem Ende der Dekade noch eine weitere Brücke zu ihrer Eröffnung 2008 in Wittenberg geschlagen werden könnte.

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