Hanns-Josef Ortheil über die innere Beziehung von Religion und LebenskunstLiteratur und Spiritualität

Kaum ein anderer Gegenwartsautor hat die Kraft des Religiösen so intensiv zum Gegenstand seines autofiktionalesn Erzählens gemacht wie Ortheil.

Hanns-Josef Ortheil über Kindheitserfahrungen mit Religion und Lebensglück
„Ich habe die Glaubensmomente meiner Kindheit in bester Erinnerung. Natürlich haben sie sich während meines weiteren Lebens verwandelt. Ganz verschwunden sind sie aber nie.“ In mehreren Romanen schreibt der Hanns-Josef Ortheil über Erfahrungen des Religiösen. Es sind sehr persönliche Bücher, ohne Kitsch und voller Intensität.© Pixabay

„Ich habe die Glaubensmomente meiner Kindheit in bester Erinnerung. Natürlich haben sie sich während meines weiteren Lebens verwandelt. Ganz verschwunden sind sie aber nie“: Unverhohlen affirmativ und konfessorisch kommentiert der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil (geb. 1951) in der kürzlich erschienenen Anthologie „Glaubensmomente“ die „Geschichte seines Glaubens“ anhand ausgewählter Texte aus eigenen Romanen, Erzählungen und Tagebüchern. Die Religionsscheu tonangebender Literaturkritiker ignoriert der breite Leserschichten erreichende Autor ebenso wie mit dem Vorgängerband „Glücksmomente“ den reflexhaften Kitschverdacht gegenüber schriftstellerischen Thematisierungen gelingenden Lebens.

Kein anderer Gegenwartsautor hat mit vergleichbarer Intensität die welterschließende Kraft des Religiösen zum Gegenstand seines autofiktionalen Erzählens gemacht wie Ortheil, kaum einer die spezifische Welterfahrung seiner rheinisch-katholischen Herkunft narrativ so breit entfaltet (vgl. HK, Juni 2015, 286–290). Als lebensprägend erwiesen sich in erster Linie frühe und intensive Sinneswahrnehmungen, vor allem Seh- und Hörerlebnisse in Kirchenräumen, Momente der Stille und Meditation, aber auch gemeinschaftsstiftende Gottesdienstfeiern sowie mit gelassener Selbstverständlichkeit praktizierte (Gebets-) Rituale. Ihre nachhaltige Wirkung stellt „Glaubensmomente“ eindringlich vor Augen: Augenblicke einer besonders intensiven Gegenwart, durch die christlicher Glaube dem Leben Form gab, ihm gerade im Kontrast von Sonn- und Werktag eine verinnernde Tiefendimension erschloss.

Wie es seinen Eltern gelang, den Tod von vier Kindern vor seiner Geburt zu überleben, ist für den 64-Jährigen noch immer unfassbar. Die Überwindung dieses familiären Traumas, ausfabuliert in dem Roman „Die Erfindung des Lebens“ (2009), belegt, „inwiefern der Glaube für meine Eltern (und dann eben auch für mich) das wichtigste Fundament ihres Lebens war“. Zugleich betont er immer wieder seine Reserve gegenüber ausbuchstabierten Glaubenssätzen und theologisch-philosophische Glaubensdebatten.

Ortheils Faszination für die Formensprache der Liturgie wie für den Alltag formende rituelle Praktiken sind indes nicht selbstbestätigend als „Renaissance des Katholischen“ zu verbuchen. Vielmehr ist seine schriftstellerische Achtsamkeit auf die sinnlich-ästhetische Dimension des Religiösen Teil seines fortlaufenden Projekts einer literarischen Lebenskunst. Lernte er doch im Kölner Dom „die Anfangsgründe einer uralten Ästhetik, nämlich der des ‚Schönen, Guten und Wahren‘. Das Schöne bestand aus Bildern, Plastiken, Farben und viel Musik. Das Gute bestand aus den Empfehlungen des Neuen Testaments für ein richtiges Leben. Und das Wahre bestand aus den Glaubensinhalten selbst und all ihren schwer zu ergründenden Geheimnissen.“ Die „Anmutung eines spirituellen Wahrnehmens“ (286) ist daher zentral für Ortheils Denken und Schreiben. Ja, Glaube ist für den „relativ konstanten Kirchgänger“ „kein äußeres Regiment, sondern eine Durchdringung der Welt von innen her“ (289).

Zu seinem 65. Geburtstag wartet Ortheil mit einem heiter-entspannten Buch über die Lebenskunst auf: „Was ich liebe – und was nicht“. In Anlehnung an Roland Barthes’ „Über mich selbst“ porträtiert sich der Autor darin in vielen Facetten selbst. Das bunte Kaleidoskop lebenslang ausgebildeter Passionen und Rituale – Reisen, Essen und Trinken, Musik hören, Filme sehen, Liebesromane, Lesen, Schreiben, Lehren und vieles mehr –, die die Basis seines literarischen Oeuvres bilden, „soll etwas von der Lebendigkeit und Fülle der zugrundeliegenden ‚Lebensprosa‘ wiedergeben“ und die Lesenden anregen, sich in diesem Spiegel selber genauer zu erkennen.

Ein eigenes Kapitel ist dem „Glauben“ gewidmet, unter dem Motto „Die Durchdringung des Lebens“ zieht Ortheil das Fazit: „Spirituelle Erfahrungen sind Erfahrungen einer anderen, zweiten, hochgradig konstruierten und mit Bedeutung durchtränkten Welt. Als Kind habe ich sie in den Gotteshäusern kennengelernt und war von ihnen danach so fasziniert, dass ich sie immer wieder gesucht habe. Alles und jedes sollte eine ‚Bedeutung‘ haben, selbst der Alltag sollte davon erstrahlen.“ Die Welt nicht einfach in ihrer bloßen Faktizität hinnehmen, vielmehr als bedeutungstragend lesen: darum ging Ortheil später bei dem Zeichendeuter Roland Barthes in die Schule, „um noch tiefere Schwingungen hinter den alltäglichen Dingen wahrzunehmen“.

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