LeitartikelDisruptive Barmherzigkeit

Papst Franziskus verändert die Kirche, aber doch anders als Kritiker wie Anhänger es befürchten beziehungsweise wünschen. Der Argentinier auf dem Stuhl Petri setzt auf einen struktur-skeptischen und anti-systematischen Prozess der Erneuerung. Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit wird dabei zu einem Höhepunkt seines Pontifikats und Ausdruck seiner Art, den Glauben zu vermitteln und die Kirche zu führen.

Papst Franziskus öffnet die Heilige Pforte der Lateranbasilika in Rom am 13. Dezember 2015 zum Beginn des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit.
Was meint Papst Franziskus mit Barmherzigkeit? Wie lässt sich sein Pontifikat bisher begreifen?© KNA-Bild

Wilde Tiere auf dem Petersplatz. Löwen, Bären, sogar eine Schlange soll gesichtet worden sein. Die Kirche mache sich zum „Affen“ tönte ein Kritiker. Papst Franziskus aber wollte zum Beginn des Jahres der Barmherzigkeit auf den Reichtum der Schöpfung verweisen. Mit einer überdimensionalen Lichtbild-Projektion wurde die Fassade des Petersdoms zur Leinwand. Inspirationsquelle für die Darbietung war die Enzyklika „Laudato si“; finanziert aber wurde die Show von der Weltbank. Passt das alles zusammen? Was ist die Botschaft? Wohin entwickelt sich die Kirche? Papst Franziskus, das Kirchenoberhaupt vom anderen Ende der Welt, ist im März 2016 drei Jahre im Amt, für Wirbel wolle er sorgen, hat er zu seinem Amtsantritt gesagt. Als erste Zwischenbilanz seines Pontifikats lässt sich festhalten: Das ist ihm gelungen. Es ist ein Wirbel, der manchen erfrischend vorkommt, manchen aber sogar fast endzeitlich heiß anmutet – vor allem aber ist er fremd, fast exotisch-wild. Die Veränderungen, die Franziskus der Kirche bringt, sind nicht leicht einzuordnen, sie entziehen sich schnellen (europäischen) Zuschreibungsschablonen. Möglicherweise ist dieses Pontifikat vor allem uneuropäisch – vom anderen Ende der Welt.

Am Ende des von ihm ausgerufenen außerordentlichen Heiligen Jahres wird der Papst 80 Jahre alt. Er hat schon mal öffentlich darüber spekuliert, dass ihm wenig Zeit bleibe und dass er – wie sein Vorgänger – zurücktreten könnte. Etwa zum 80. Geburtstag, dann wenn auch Kardinäle ihr Amt zur Verfügung stellen müssen? So könnte sich dann eine neue Praxis etablieren. Das mag noch sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass aber für Franziskus dieses Jahr bis zu seinem runden Geburtstag im Zentrum seines Pontifikats steht, ist offensichtlich. Er hat die Barmherzigkeit zu seinem Schlüsselbegriff gemacht. Und der Programmplan für dieses Jahr verheißt inszenierte Anlässe, die symbolisch seine päpstliche Botschaft darstellen. Da soll etwa ein „Jubiläum der Kurie“ gefeiert werden, die Aussendung der „Missionare der Barmherzigkeit“ und möglicherweise auch die Heiligsprechung von Mutter Teresa am 4. September werden so wichtige Ankerpunkte dieses Jahres sein.

Was aber meint er mit Barmherzigkeit? Wie lässt sich sein Pontifikat bisher begreifen? In knapp drei Jahren hat Franziskus schon zwei Synoden abhalten lassen. Befürworter wie Kritiker hatten die Bischofsversammlung im zurückliegenden Jahr zum Prüfstein seiner Amtsführung erhoben. Manche, auch Bischöfe, hatten sogar sinngemäß erklärt: Scheitert diese Synode, scheitert der Papst.

Nun, mit etwas Abstand muss man doch resümieren: Der größte Erfolg der Beratungen war, dass es nicht zum offenen Streit kam, dieser zumindest nicht allzu sehr nach außen getragen wurde und die Ergebnisse in der Sache – um es freundlich zu sagen – selbst dem Kirchenvolk nur als homöopathische Arznei verkauft werden konnten. Ein klares, eindeutiges inhaltliches Signal zumindest ging von der Synode nicht aus.

Dies war mit dem derzeit im Jubiläumsjahr viel beschworenen Zweiten Vatikanischen Konzil vor 50 Jahren anders. Flügelkämpfe gab es damals auch, das Beschwören der Einheit war und ist sowieso das Hintergrundrauschen jeder innerkirchlichen Auseinandersetzung – doch am Ende gab es damals eine klare Botschaft. Die Öffnung der Kirche zur Welt, die Veränderung einer jahrhundertealten Liturgie, die Aufgabe einer absoluten Exklusivität mit Blick auf das göttliche Heil. Von solch einer Revolution ist das Pontifikat Franziskus’ noch weit entfernt. Zumindest nach gängigen Maßstäben. Möglicherweise ist das ja auch gut so, möglicherweise hat ja auch das Konzil eine Polarisierung der Kirchen manifestiert, unter der sie bis heute mitunter leiden. Vielleicht hat Franziskus dies erkannt – und wählt deswegen einen subtileren Weg der Erneuerung.

Es gibt inzwischen viele Szenen, die diesen anderen Weg illustrieren. Vor ein paar Wochen besuchte Franziskus die deutsch-evangelische Gemeinde in Rom. Auch seine Vorgänger waren dort schon zu Gast. Er wird von einer Frau nach dem gemeinsamen Abendmahl von Katholiken und Protestanten gefragt. Kaum ein anderes Thema ist in der Ökumene ähnlich prominent, doch der Papst druckst herum. Diese Unklarheit in der Beantwortung der Frage ist kein Unvermögen, sondern Strategie. Er will zeigen, dass die vermutete Eindeutigkeit, in der ein Papst antworten müsste, eben zumindest mühsam ist. Man könnte auch kritisch sagen, wenn er davon spricht, selbst „keine Kompetenz“ zu haben, dass er es sich zu einfach mache, mit Rhetorik dem Problem ausweicht. Es lässt sich bei ihm eine gewisse Grundskepsis gegenüber einer allzu strahlenden Klarheit und Einfachheit vermuten. Er verweist auf Theologen und Kardinäle, die sich auch äußern müssten, um schließlich doch vor allem der Autorität des persönlichen Gewissens in der Frage das Wort zu reden. Ähnlich verhielt er sich bei anderer Gelegenheit bei dem Problem der Empfängnisverhütung. Was er wirklich sagen wollte, ließ sich schlussendlich nur im Wege der Interpretation herausfinden. Was er aber wörtlich sagte, war: „Die kirchliche Morallehre ist in diesem Punkt ratlos“. Diese Antwort ist derart verblüffend und nahezu unerhört, dass es Zeit braucht, ihre Wirkung zu begreifen. Eine Lehre, die ratlos ist?

Papst Franziskus‘ Vorgehensweise ließe sich zugespitzt als Guerilla-Taktik beschreiben. Er macht sich selbst klein und groß im Wechsel, taucht auf und ab im vatikanischen Dschungel, so unerwartet, dass ihm kaum beizukommen ist. Er ändert die Lehre nicht, sondern erklärt sich für nicht zuständig. Und im nächsten Schritt dekretiert er, wie im Fall der Eheannullierung, eine weitreichende Änderung, die nur scheinbar allein die Verfahren betrifft – und nicht die Lehre. Manche seiner Kritiker haben darin inzwischen die aus ihrer Sicht größte Gefahr erkannt: Er verändere die Grundkoordinaten. Nicht Eindeutigkeit und Amtsautorität sind fortan die obersten Insignien des Papstamtes, sondern das Gegenteil: Graustufen und Charisma zeichnen Franziskus aus. Beim Zweiten Vatikanum haben noch Welttheologen miteinander gerungen. Das war für alle Seiten in gewisser Weise akzeptabel, denn es war ein Ringen auf Augenhöhe. Nun stellt Franziskus das kohärent geglaubte System von Struktur und Lehre selbst infrage. Manche seiner Widersacher argwöhnen nun, es herrsche Willkür; ihnen wäre da wohl lieber gewesen, er hätte vielleicht dieses oder jenes verändert, aber doch das Grundsystem akzeptiert. Nun aber sagt Franziskus, die liebsten Momente des Papstamtes seien ihm die, wenn er das Amt ausübe wie ein Pfarrer. Das Jahr der Barmherzigkeit wird nun vermutlich zum Fest dieses Ansatzes.

Das würde dann auch bedeuten, dass jene Reformer in der Kirche enttäuscht würden, die weitreichende Veränderungen erwarten, die dann kodifiziert und im Ergebnis sichtbar sind. Im Nachgang zur Synode war zunächst mit einem sogenannten nachsynodalen Schreiben gerechnet worden, welches die Ratschläge der Bischöfe bewertet und daraus inhaltliche Konsequenzen zieht. Nun mutmaßen in Rom einige, dass der Papst ein solches Dokument in der erwarteten Form von Eindeutigkeit und Entschiedenheit aber möglicherweise nicht vorlegen wird: Die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion? Von Papst Franziskus ist vielleicht gar nicht mehr zu erwarten, dass er hier eine eindeutige Regelung trifft. Vielleicht gibt es eine gewisse Dezentralisierung, die wiederum eine Zulassung unter bestimmten Bedingungen ermöglicht. Zu seiner bisherigen Amtsführung würde es passen, keinen gradlinigen strukturellen Veränderungsschritt vorzunehmen. Vielmehr geht Franziskus eher disruptiv vor, das Bestehende reibt sich auf – und er hofft auf das Neue. Damit enttäuscht er auch manche Sympathisanten von der reformorientierten Seite, die eben ja gerade die Struktur selbst gerne verändert hätten, aber auch an den Strukturen hängen, weil sie in westlicher Lesart als immanent wichtig gelten.

Der Papst hingegen sagt: „Wenn wir einen Augenblick die Barmherzigkeit vergessen, dann wird jede unserer Anstrengungen nichtig, dann werden wir Sklaven unserer Institutionen und Strukturen, wie reformiert sie auch sein mögen“. Reform allein reicht dem Papst eben nicht. Natürlich geht es ihm um den Kern, die „lebendige und belebende Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes“ zu machen. Darin ist der Papst vielleicht viel radikaler als sowohl seine Kritiker also auch seine Sympathisanten meinen. Das mag man naiv oder fromm nennen, vor allem ist diese Art entwaffnend – und unbequem.

Ein anonymer Ex-Kurienmitarbeiter hat – ausweislich einer Medienveröffentlichung – dem Papst in einem öffentlichen Brief mitgeteilt, was ihm an dessen Amtsführung missfällt. Und manches, was der Prälat an Franziskus moniert, mag möglicherweise der Kritisierte gar nicht als Fehler, sondern sogar als Konzept verstanden wissen. „Glaube ohne Lehre gibt es nicht“, so formuliert der Kritiker. Doch für Franziskus recht verstanden gilt eher das Gegenteil: die Warnung vor zu viel Lehre ohne Glauben. „Es ist nicht gut, dass manche meinen, der Papst sehe viele Dinge anders als der Katechismus“, klagt der Brandbriefschreiber. Franziskus hingegen verweist immer wieder auf das gläubige Volk Gottes, das eben zum größten Teil dem Katechismus nicht mehr folgt. Schließlich steht noch der Autoritätsvorwurf im Raum, mit Kritik könne Franziskus nicht umgehen, es herrsche ein Regime der Angst. In der Tat täuschen sich alle, die meinen der Papst schaffe sich selber ab. Davon kann keine Rede sein. Auch das wird im Jahr der Barmherzigkeit noch zu sehen sein.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

Herder Korrespondenz-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Herder Korrespondenz-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.