KommentarChristliche Karteileichen?

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt auf Rekordniveau. Es ist Zeit sich stärker den „Taufscheinchristen“ zuzuwenden.

Die Kirchenbindung in Deutschland erodiert, das Glaubensleben in den Kirchen erlahmt zusehends und das Christliche an sich scheint sich bisweilen aus der Gesellschaft herauszuschleichen wie ein ungebetener Gast. Doch diese massive Langzeitveränderung unseres Gemeinwesens, die anderen Mega-Trends wie der Globalisierung oder der Digitalisierung durchaus ebenbürtig ist, scheint oft als unvermeidliches Naturereignis hingenommen zu werden.

Die „Säkularisierung“ oder auch Entkirchlichung der Gesellschaft bestimmt kaum die öffentliche Debatte, wird eher verschämt betrachtet – und vor allem hat sie in den Kirchen noch nicht wirklich zu größerer Unruhe geführt. Business as usual, auch dank bislang steigender Kirchensteuereinnahmen. Die wesentlichen Sünden dabei heißen Gleichmut, Überheblichkeit und Resignation. Sie sind ein süßes Gift, welches für die Zeitgenossen beruhigend wirkt. Kirchlicher Frieden für unsere Zeit – wohl wissend, dass unsere Kinder in einer völlig anderen Welt leben werden.

Alarmgeschrei ist durchaus angebracht. Die Kirchenaustrittszahlen haben im Jahr 2014 einen neuen Rekordstand erreicht. 217 716 Menschen haben im vergangenen Jahr die katholische Kirche verlassen. So viele wie noch nie in einem Jahr. Erstmals stellen die Katholiken weniger als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei der evangelischen Kirche sieht es eher noch dramatischer aus. Man rechnet mit einer Zahl von rund 400 000 Austritten. Der Traditionsabbruch ist ohne Beispiel. Dabei hat das Statistische Bundesamt schon vor Jahren festgestellt, dass die aktiven Austritte nur den demografischen Prozess beschleunigen. Im Jahr 2014 gab es 164 833 Taufen, etwas mehr als im Jahr davor. Doch insgesamt werden nur noch weniger als ein Viertel der Neugeborenen „katholisch“ getauft.

Es gibt nun verschiedene Erklärungsmodelle, die Kirchenaustritt und schwindende Kirchenbindung verständlich machen sollen. Gängig ist es, die Kirchenaustritte an verschiedenen kirchlichen Krisen festzumachen. So ist 2014 ein „annus horribilis“ für die Kirchenstatistik, weil es offenbar zwei „Austrittswellen“ gab. Zum einen die Debatte um den Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst am Anfang des Jahres und die veränderte Praxis beim Kirchensteuereinzug im Herbst. Doch dem Problem wirklich auf den Grund geht man damit nicht, im Gegenteil. Natürlich sind die Krisen nicht Ursache für eine Trennung von der Kirche, sondern lediglich Auslöser für eine bereits bestehende Loslösung. Wer sich nun also hinter diesen Krisen versteckt, seine Hände in Unschuld wäscht, verkennt das Problem.

Was aber bedeutet es, wenn ein großer Teil der Kirchenmitglieder ohne feste Bindung an seine Kirche lebt? Es gibt eine in gewisser Weise überhebliche Art, dies zu interpretieren. Wenn diese sogenannten „Taufscheinchristen“ die Kirche verließen, meinen manche, so sei dies ein fast schon heilsamer Vorgang, um quasi die Spreu vom Weizen zu trennen. Nur, mit einem missionarischen Auftrag lässt sich derartige Selbstgenügsamkeit kaum in Einklang bringen. Schon der Ausdruck „Taufscheinchristen“ scheint theologisch zumindest heikel. Christlich gesprochen wird man ja wohl nie zur „Karteileiche“.

Zwei weitere Erklärmuster sind im Umlauf. Zum einen wird der Mitgliederschwund auf den allgemeinen Niedergang von Großorganisationen zurückgeführt. Kirchen seien demnach gar nicht so schlecht im Halten von Mitgliederstrukturen, vergleiche man dies mit Parteien und Gewerkschaften. Damit droht die Kirche sich selbst kleiner zu machen, als sie sich vom Selbstverständnis her verstehen müsste. Zum anderen gibt es noch eine sehr verführerische Argumentationskette. Früher habe die Kirche durch gesellschaftlichen Druck und Unfreiheit ihre Schäflein rekrutiert und beisammengehalten, nun aber gelte die allgemeine Freiheit, ein großer Gewinn, ein christlicher Gewinn, insofern sei es nur richtig, dass Katholiken aus freien Stücken die Kirche verlassen könnten – und sich ihr wieder zuwenden dürften. Eben ohne Androhung von Höllenqualen.

Der Kirchenaustritt wird so – überspitzt gesagt – zu einem fast christlichen Freiheitsakt, der den Glauben aus der Schraubzwinge von Tradition, Konvention und Milieu herausholt. Freilich müsste dann auch die Bewegung zurück noch erfolgen, zurück in die nun veränderte katholische Kirche. Dass dies noch nicht ganz gelingt, wird auch daran deutlich, dass Papst Franziskus bislang offenbar noch keine positive Auswirkung auf die Kirchenbindung zu entfalten vermag.

In der aktuellen Kirchenstatistik gibt es noch andere Zahlen, die zunächst hoffnungsvoll stimmen sollen. Es gibt einen leichten Anstieg beim Sakramentenempfang und auch beim durchschnittlichen Gottesdienstbesuch. Doch ist das ja ein fast unausweichlicher statistischer Erfolg eines eben falsch verstandenen „Gesundschrumpfens“. Es braucht einen Perspektivwechsel hin auf die 90 Prozent der Kirchenmitglieder, die kaum in die Messe gehen, vom Christentum immer weniger verstehen und dennoch noch (!) nicht ausgetreten sind. Ihnen müssen sich die Bischöfe und auch die gesamte Kirche zuwenden. Es ist geradezu absurd, wie viel von „Mission“ die Rede ist und wie wenig ausgeprägt die Sorge um die eigenen Leute. Kirchenaustritt – das ist auch eine Folge von resignativen Verwahrlosungstendenzen den eigenen Seelen gegenüber. Das muss sich ändern.

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