Zur Konzeption der pastoralen Praxis in GemeindenVom Einfamilienhaus zur Berghütte

Die immer größer werdenden neuen pastoralen Strukturen in allen deutschen Diözesen basieren nicht wirklich auf einer theologischen Orientierung. Auf dem pastoralen Personal lastet ein immenser Druck, berechtigte Erwartungen der Gläubigen werden vielfach enttäuscht oder zurückgewiesen. Es bedarf grundlegend anderer Wege in der pastoralen Praxis in Gemeinden.

Hinweis auf die Heilige Messe am Ortseingang
"Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass sie in Gemeinden vorfinden, was sie von der Kirche brauchen."© KNA-Bild

Seit etwa zwei Jahrzehnten nimmt die Bildung neuer pastoraler Strukturen in allen deutschen Diözesen einen Großteil der Ressourcen in Beschlag. Die unzuträgliche Größe der neuen Struktureinheiten sowie das verstörende Ausmaß, in dem die Umsetzung der einschlägigen Konzepte sowohl beim pastoralen Personal als auch bei den Gläubigen zu Mehrbelastungen, Unmut, Enttäuschung, Konflikten und menschlicher Kälte führt, veranlassen zu der Überzeugung, dass sich die Kirche in Deutschland damit offensichtlich auf einem Irrweg befindet. Es darf kein „Weiter so“ mehr geben.

Von Details abgesehen weisen die Konzepte für neue pastorale Strukturen folgende gemeinsame Eckpunkte auf: Als Reaktion auf den Priestermangel werden mehrere bisherige Gemeinden zu Struktureinheiten („Pfarrgruppen“, „Seelsorgeeinheiten“ oder Ähnlichem) zusammengefasst. Ausgehend von der Zahl der verfügbaren Priester werden die Struktureinheiten so groß angelegt, dass sie jeweils mit einem leitenden Pfarrer besetzt werden können. Zunehmend muss man bereits mehrere der gerade geschaffenen Struktureinheiten zu noch größeren Einheiten verbinden.

Die bislang neben den Gemeinden bestehenden Formen und Orte pastoraler Praxis (kategoriale Seelsorge, Verbände, caritative Einrichtungen usw.) sollen sich in die größere Struktureinheit integrieren lassen. Das pastorale Personal (Priester, Pastoral- und Gemeindereferentinnen und -referenten, Diakone – im Weiteren unabhängig vom Geschlecht „Seelsorger“ genannt) wird auf der Ebene der größeren Struktureinheit angesiedelt.

Die unmittelbare Zuordnung der Seelsorger zu einer Gemeinde entfällt; stattdessen sollen sie zentral für die gesamte Struktureinheit pastorale Vollzüge vorhalten beziehungsweise in spezifischen Funktionen anfragbar sein. Mit Verweis auf die Überlastung des pastoralen Personals und unter Maximen wie „eigene Charismen verwirklichen“ werden die Gläubigen aufgefordert, selber pastorale Aufgaben vor Ort zu erfüllen. Die Gewinnung möglichst vieler „Ehrenamtlicher“ bildet folglich das dominante pragmatische Erfordernis. In der Gegenrichtung wechselt das hauptamtliche Personal zunehmend auf die Metaebene der Anwerbung, Befähigung und Begleitung ehrenamtlich tätiger Personen. Diese Maßnahmen erfordern Einspruch.

Die neuen Strukturen sind entgegen allen Beteuerungen nicht am pastoralen Bedarf oder an den Lebensräumen der Menschen orientiert. Vielmehr bildet der bestehende Zuschnitt des Weiheamtes – Beschränkung auf Männer, Verpflichtung auf den Zölibat, Alleinzuständigkeit für Leitung, Sakramenten-„Spendung“ und Predigt, hierarchische Vorrang- und klerikale Sonderstellung – den archimedischen Konstruktionspunkt, von dem aus sich entscheidet, was möglich und was nicht möglich ist, und der unter keinen Umständen verändert oder in Frage gestellt wird.

Der Rückgang der Priesterzahlen wird anhalten

Um diese apodiktische Maßgabe zu erfüllen, wird als Lösung für die durch den Priestermangel bedingten Probleme allein die Bildung immer größerer Einheiten vorgesehen. Die dabei geschaffenen Strukturgrößen haben aber längst die Grenze überschritten, bis zu der eine gedeihliche pastorale Praxis möglich ist. Der Rückgang der Priesterzahlen wird anhalten. Folglich steht klar vor Augen, dass eine verantwortbare pastorale Planung diesen „Lösungsweg“ nicht weiter gehen kann.

Die neuen Strukturen basieren nicht wirklich auf einer theologischen Orientierung. Vielmehr werden die Strukturkonzepte nachträglich zu ihrer Festlegung mit passenden theologischen Motiven als plausibilisierendem Überbau versehen. Konzeptbegriffe wie „Lebenswelt“ oder „Sozialräume“ suggerieren Lebensnähe und Zeitgemäßheit, verschleiern jedoch nur die tatsächliche Entfernung von den Lebenswelten der Menschen.

In den neuen Strukturen, vor allem aber auf diözesaner Ebene kommt es zu einer exzessiven Strukturwucherung in Form von Planungs- und Konzeptionsabteilungen, Gremien, Beratern und Beratungsprozessen, Projekten, Projektgruppen und Projektleitern, Steuerungsgruppen, Koordinationsstellen, Fortbildungsfunktionen, Stabsstellen usw. Diese Meta-Strukturen und Meta-Funktionen verbrauchen in nicht verantwortbarem Umfang Personal, Arbeitszeit und Geld.

Der Umgang mit den Menschen in den Gemeinden erfährt bedenkliche Deformationen. Man nimmt Menschen nicht als Personen, sondern als (potenzielle) Mitarbeiter wahr. Ihre Lebenswirklichkeiten bleiben ausgeblendet. Die Fokussierung auf die Kreise, die „zur Mitarbeit bereit“ sind, selektiert viele Bevölkerungssegmente aus.

Ideologische Fixierung auf das Ehrenamt

Der „gemeindepastorale Pelagianismus“ – das heißt, das theologisch verfehlte Denken, ein Christ müsse sich die Integration in die Gemeinde durch Aktivitäten „verdienen“ – wird als Konstruktionsprinzip in die Strukturen eingebaut. Die dominante Logik, dass die Gläubigen aufgrund des Priestermangels nun selber viele der bisher hauptamtlich erfüllten Aufgaben übernehmen müssten, führt zu einer ideologischen Fixierung auf das Ehrenamt. Eine solche verrechnende Einforderung von Ehrenamtlichkeit als Kompensation des (vermeintlich) fehlenden hauptamtlichen Personals bedeutet nicht nur eine fachliche, zeitliche und mentale Überforderung der Ehrenamtlichen; sie verletzt auch die wertvolle genuine Eigengesetzlichkeit des Ehrenamts.

Besonders bedenklich ist das Schema, den Gläubigen die Mitarbeit in der Gemeinde als Erfordernis ihrer „Berufung“ zu vermitteln. Es deutet das Strukturproblem der institutionellen Kirche zu einem Glaubensproblem der Menschen um. Schwierigkeiten bei der Bildung der neuen Strukturen werden damit in unredlicher Weise den Menschen als Glaubensmangel angelastet, als ungenügende Bereitschaft, ihre „Berufung durch Gott“ anzunehmen.

Der immense psychische, dienstrechtliche und arbeitsorganisatorische Druck auf das pastorale Personal einerseits und die massive Enttäuschung, vielfach auch brüskierende Zurückweisung von Erwartungen der Gläubigen andererseits führen zu erschreckend heftigen Verwerfungen, Konflikten und Beziehungsstörungen in den Gemeinden.

Der Bezug zur alltäglichen Lebenswirklichkeit geht verloren

Gemeinden verlieren ihre Funktion als Orte der Seelsorge. Das Abrücken von der unmittelbaren Zuordnung zu einer Gemeinde verleitet beziehungsweise zwingt die Seelsorger zu einer stillschweigenden, tabuisierten Dispensierung von der konkreten Seelsorgepraxis in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen. Diese Dispensierung verletzt das Übereinkommen, wonach die Gesellschaft die institutionelle Kirche finanziell, strukturell und rechtlich stützt, weil sie deren professionelle Leistungen als für die Gesellschaft insgesamt wichtig erachtet. Sie verletzt aber auch die Verantwortung gegenüber den einzelnen Menschen, die mit allem Recht von der Kirche eine fachlich gute Seelsorge erwarten können.

Sozialstrukturell geschieht bei den neuen pastoralen Strukturen mit der pastoralen Praxis das Gleiche wie beim Wechsel vom „Tante-Emma-Laden“ zum Supermarkt mit der Warenversorgung, nämlich die funktionale Ausdifferenzierung und Verlagerung an einen anderen Ort. Für die seelsorgliche Praxis ist das jedoch fatal, weil ihr die entscheidende, unabdingbare Grundlage, der Bezug zur alltäglichen Lebenswirklichkeit der Menschen, verloren geht.

Es bleibt das Fazit: Wenn an den derzeitigen Strukturbildungen festgehalten wird, geht die pastorale Praxis in den Gemeinden und gehen die Gemeinden als Orte pastoraler Praxis zugrunde. Wenn beispielsweise – um nur eine von unzähligen ähnlichen Beobachtungen zu nennen – ein Pfarrer unter dem Druck der neuen Struktur kategorisch entscheidet, bei Sterbefällen kein Requiem mehr zu feiern, bedeutet das: In einer der schwierigsten Situationen, in denen Menschen die Kirche brauchen, verweigert diese die Erfüllung ihrer Aufgabe. Das ist ein pastorales Desaster; eine solche Kirche braucht die Welt nicht. Eine davon unbeirrte Fortsetzung der Strukturkonzepte wäre verantwortungslos. Es ist dringend erforderlich innezuhalten, bei den konzeptionellen Überlegungen neu anzusetzen und frei von allen Vorentscheidungen und Denkverboten nach anderen Wegen der pastoralen Praxis in Gemeinden zu suchen. Die nachfolgenden Postulate verstehen sich als Vorschlag dafür.

Die Konzeption pastoraler Strukturen in den Gemeinden erfolgt auf der Grundlage einer vorausgehenden theologischen Reflexion über die Kriterien, Prinzipien und Ziele pastoraler Praxis. Die unhintergehbare Richtlinie dafür bildet das vom Zweiten Vatikanum formulierte ekklesiologische Prinzip, dass die Gemeinde „Kirche am Ort“ ist (Lumen gentium, Nr. 26). Gemeinden sind so zu gestalten, dass sie je an ihrem Ort das Wesen der Kirche für die Menschen erfahrbar machen. Ihre Maßgaben hierfür finden sie in den zentralen Motiven des konziliaren Kirchenverständnisses: „Volk Gottes“, „Sakrament“ und „Kirche in der Welt“.

Dabei muss es sich wirklich um eine pastorale Konzeption handeln, das heißt um eine, welche die Identität der Kirche als pastoraler Kirche verwirklicht. Die „Pastoralität“ der Kirche besteht in ihrem dienenden In-der-Welt- und Bei-den-Menschen-Sein.

Für die gemeindliche Praxis belässt man es bei einer Strukturebene, nämlich der Gemeinde selbst. Sie firmiert als Pfarrei im kirchenrechtlichen Sinn. Die Verbindung kleiner Gemeinden zu einer größeren Gemeinde geschieht in einer wirklichen Fusion, so dass Gremien, Verwaltungsakte und Arbeitsabläufe nicht mehrfach bewerkstelligt werden müssen.

Jeder Gemeinde wird ein Angehöriger einer pastoralen Berufsgruppe als Seelsorger unmittelbar zugeordnet, so dass die Menschen diese Person als ihren Seelsorger identifizieren und in Anspruch nehmen können. Die Besetzung jeder Gemeinde mit einem Seelsorger wird erreicht, indem man das gesamte pastorale Personal (Priester, Ordenspriester im pastoralen Dienst, Pastoralreferentinnen und -referenten, Gemeindereferentinnen und -referenten, Diakone) dafür einsetzt.

Meta-Strukturen und Meta-Tätigkeiten, das heißt die auf zwischengemeindlicher und diözesaner Ebene angesiedelten Verwaltungs-, Koordinierungs- und Konzeptionsfunktionen, werden radikal abgebaut und auf das unbedingt nötige Minimum begrenzt.

Die Konzeption pastoraler Praxis erfolgt in dem Wissen, dass die Gemeinde nicht mehr die unhinterfragte, leitende Sozialform christlichen Lebens bildet. Sie zielt darauf, die Vielfalt an Sozialformen und Orten christlichen Lebens jenseits von Gemeinden (Verbände, kategoriale Seelsorge, Bildungseinrichtungen, individuelle Glaubensformen usw.) zu bewahren und weiter auszudifferenzieren. Deren Gleichschaltung in einem einheitlichen Strukturgefüge ist ausdrücklich zu verhindern; die Heterogenität der Formen und Orte soll vielmehr ermöglichen, dass Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Dispositionen einen Ort christlichen Lebens oder pastorale Hilfe finden, ohne eine kirchliche Vereinnahmung befürchten zu müssen.

Ein signifikantes Kirchengebäude für jede Gemeinde

Das so genannte Territorialprinzip, wonach die Gemeinden auf ein Territorium bezogen sind und zur Gemeinde die dort lebenden Gläubigen gehören, wird auf zeitgemäße, das heißt nicht obrigkeitlich-totalitäre Weise aufrechterhalten. Es bildet den heilsamen Zwang für die Gemeinden, die vom Zweiten Vatikanum geforderte Weltweite beziehungsweise Zuwendung zu allen Menschen einzulösen und sich in diakonischer Verausgabung für alle Menschen verfügbar zu halten.

Jede Gemeinde verfügt über ein signifikantes Kirchengebäude, das als Manifestation der „Kirche am Ort“ identifizierbar und offen zugänglich ist. Dieser Kirchenraum ist (beispielsweise durch Präsenz von Seelsorgern, besetztes Pfarrbüro, Aufenthaltsmöglichkeit usw.) so zu gestalten, dass Menschen das für sie Notwendige finden können.

Seelsorger müssen die im Bereich der Gemeinde lebenden Menschen überschauen und deren alltägliche Lebenswirklichkeit wahrnehmen können. Deshalb gilt für die Größe der Gemeinden: Sie umfassen durchschnittlich 3600 katholische Gläubige, sollen aber 5000 katholische Gläubige nicht über- und – weil Gemeinden auch nicht zu klein sein dürfen – 1500 nicht unterschreiten.

Diesen Richtgrößen liegt folgende Kalkulation zugrunde: In den deutschen Diözesen gibt es (ausweislich der Zahlen der Deutschen Bischofskonferenz, Stand 2013) rund 17 800 Angehörige pastoraler Berufe (Priester, Ordenspriester im diözesanen Dienst, Pastoralreferenten und -referentinnen, Gemeindereferentinnen und -referenten, hauptberufliche Diakone), die prinzipiell als Seelsorger eingesetzt werden können. In dieser Zahl ist bereits berücksichtigt, dass etwa nur 60 Prozent aller Priester für die aktive Seelsorgepraxis zur Verfügung stehen. Von den 17 800 Seelsorgern wird ein Anteil von 25 Prozent abgezogen als Personalkontingent für nichtgemeindliche Felder der Seelsorge. Stellt man dann die in den einzelnen Diözesen verbleibende Zahl der Seelsorger der jeweiligen Katholikenzahl gegenüber, ergibt sich für ganz Deutschland derzeit ein rechnerisches Verhältnis von rund 1650 Katholiken pro Seelsorger.

Da nicht alle Angehörigen der pastoralen Berufe als gemeindeleitende Seelsorger eingesetzt werden können, wird im Interesse einer realistischen Planung für den durchschnittlichen Umfang einer Gemeinde die doppelte Katholikenzahl (etwa 3300) veranschlagt. Wenn man zudem die unterdurchschnittlichen Katholikenzahlen der ostdeutschen Diözesen herausrechnet, ergeben sich als Richtgröße für die durchschnittliche Gemeindegröße rund 3600 Katholiken. (Diese Kalkulation müsste auch bei einem weiteren Rückgang der Priesterzahlen für geraume Zeit Bestand haben, da die drei anderen pastoralen Berufsgruppen zumindest bis jetzt anwachsende Zahlen aufweisen.)

Die angeführten Durchschnittswerte beziehen sich auf die deutschen Diözesen insgesamt. Unterschiedliche Bedingungen führen in den einzelnen Diözesen zu Verschiebungen. Aber selbst für das Bistum mit der ungünstigsten Seelsorger-Katholiken-Proportion ergibt sich eine noch verträgliche durchschnittliche Gemeindegröße von etwa 4570 Katholiken.

Im Korridor zwischen 5000 und 1500 Katholiken muss sich die Definition der Gemeindegebiete tatsächlich an den Lebensräumen orientieren. Das jeweilige Territorium soll dem sozialen und kulturellen Gefüge entsprechen, in dem die Menschen durch ihre alltägliche Lebensführung verwurzelt sind beziehungsweise das sie sich durch kreative Gestaltung als Lebensraum angeeignet haben.

Rückkehr in die Seelsorge

Notwendig ist eine veränderte Haltung gegenüber den Menschen. Es bedarf einer strikten Abkehr vom „gemeindepastoralen Pelagianismus“, also von dem Denken, die Maximierung von Aktivitäten bilde das Ideal einer Gemeinde und der Stellenwert eines Menschen bemesse sich nach seinen Aktivitäten.

Vielmehr gilt die Maxime: Rückkehr in die Seelsorge. Die Gemeinden werden dezidiert als Orte der Seelsorge konzipiert. Aus theologischen Gründen muss die Seelsorge allen Menschen zur Verfügung stehen. Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass sie in Gemeinden vorfinden, was sie von der Kirche brauchen. Dieser Haltung der Verlässlichkeit dient das Prinzip pastoraler Praxis: bleibende Personen – gleiche Zeiten – feste Orte – vertraute Vollzüge.

Die Individualisierung des Lebens erfährt eine positive Wertung. Distanzierte Kirchlichkeit achtet man als eine legitime und notwendige Form christlichen Lebens. Die uneinheitliche, individuelle, selbstbestimmte Teilnahme an kirchlichen Vollzügen, in der beispielsweise die einen regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen, die anderen hingegen nur an markanten Zeitpunkten, bildet schon jetzt bis tief in die „Kernmitgliedschaft“ der Kirche hinein die Normalität christlicher Lebensweise. Diese individualisierte religiöse Praxis wird als Normalität anerkannt und nicht mehr als defizitäre Glaubensbereitschaft inkriminiert.

Der Verzicht auf die Macht, Menschen an sich beziehungsweise an die institutionelle Kirche zu binden, und die Fähigkeit, Menschen wieder weggehen zu lassen, werden den Seelsorgern, aber auch allen amtlichen Repräsentanten der Kirche als Anspruch ihrer Professionalität abverlangt.

Lebensweltliche Verwurzelung der Seelsorger

Für alle Angehörigen pastoraler Berufe gilt als erste Maßgabe: Seelsorge bildet ihre professionelle Identität – und zwar die Seelsorgetätigkeit in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen. Zu diesem Beruf haben sie sich entschieden; dafür sind sie von der Kirche angestellt. Deshalb werden die in einer Diözese verfügbaren und geeigneten Seelsorger tatsächlich als solche eingesetzt. Diese Seelsorgetätigkeit erwartet auch die Gesellschaft. Das macht es notwendig, bei der Rekrutierung des pastoralen Personals die Anforderungen hinsichtlich seelsorglicher Kompetenzen zu erhöhen und konsequenter einzuhalten.

Die direkte Zuordnung zu einer Gemeinde soll die lebensweltliche Verwurzelung der Seelsorger gewährleisten. Die diözesanen Verantwortungsträger haben Rahmenbedingungen zu schaffen, welche den Seelsorgern eine verlässliche Präsenz an den alltäglichen Lebensorten der Menschen ermöglichen.

Die Seelsorger werden mit der faktischen Leitung der Gemeinde beauftragt. Das schließt die Befugnis zu seelsorglichen Aufgaben wie Predigt und Beerdigung ein. In einer Übergangszeit sind für die an das Weiheamt gebundenen Funktionen Notlösungen vorzusehen, wie beispielsweise der Einsatz von Priestern nach Canon 517 §2 im Kirchenrecht (CIC 1983).

Das Weiheamt steht nicht als Zweck für sich

Für eine dauerhafte Lösung ist aber eine Änderung der lehramtlichen und kirchenrechtlichen Vorgaben zum Weiheamt erfoderlich. Diese dürfen den kontinuierlichen Vollzug der theologisch konstitutiven Akte in einer Gemeinde nicht verhindern, sondern müssen ihn ermöglichen. Das beinhaltet insbesondere die Betrauung der jeweiligen Seelsorger mit dem Eucharistievorsitz, den anderen sakramentalen Handlungen und der amtlichen Gemeindeleitung. Auf längere Sicht legt sich folgende Regelung nahe: Diejenige Person, die in einer Gemeinde die unmittelbare Seelsorgearbeit leistet, die die Gemeindeleitung innehat, die sich in diesen Tätigkeiten bewährt und von den Menschen anerkannt ist, kann das sakramentale Amt übertragen bekommen.

Eine solche Veränderung des Zuschnitts des Weiheamtes ist aus theologischen Gründen geboten. Denn das Weiheamt (und schon gar seine heute gegebene Ausgestaltung) steht nicht als Zweck für sich, sondern ist seinem sakramentalen Wesen nach, das heißt, als Vergegenwärtigung des Wirkens Jesu Christi, Dienstamt; es steht als Amt im Dienst für die Menschen; es ist gerade als Sakrament an die Menschen gebunden; es ist Mittel zum Heil der Menschen. Folglich ist es theologisch nur stimmig, das Weiheamt denjenigen Personen zu übertragen, deren Wirken die heilvolle Funktion dieses Amtes für die Menschen erleben lässt.

Als theologisch unverzichtbare pastorale Aufgaben müssen in Gemeinden gewährleistet sein: Feier der Sakramente, insbesondere der Eucharistie; Beerdigung, einschließlich Sterbe- und Trauerbegleitung; Predigt; Bildung in Form von Kindergarten und Jugendarbeit; Diakonie; seelsorgliche Begleitung in schwierigen Lebenssituationen. Von diesen Aufgaben können sich Seelsorger nicht dispensieren.

Im Gegenzug bedarf es einer radikalen „Entrümpelung“ des faktischen Gemeinde-„Lebens“ von all dem, was sich neben den unverzichtbaren Aufgaben – und diese teilweise verdrängend – als vermeintlich obligatorisches Repertoire an Aktivitäten, Veranstaltungen, Strukturen und Funktionen angesammelt hat. Auf diese verzichtbaren Arbeitslasten ist tatsächlich zu verzichten. Wenn an Praxisformen kein Interesse besteht, ist dies zu akzeptieren und nicht klagend den Menschen als „Passivität“ vorzuhalten. Seelsorger müssen ein diakonisches Selbstkonzept ausbilden, aufgrund dessen sie Aktivitäten und die Teilnahme der Menschen daran nicht als Befriedigung des eigenen Erfolgsbedürfnisses benötigen.

Als Grundlage all dieser Veränderungen braucht es in der pastoralen Praxis einen mentalen Wechsel, der sich bildlich als Wechsel vom „Einfamilienhaus“ zur „Berghütte“ beschreiben lässt.

Notwendig ist ein mentaler Wechsel

Die Sozialform Gemeinde wird bislang weitgehend in Analogie zu einem Einfamilienhaus verstanden. Dadurch entsteht die Vorstellung, eine Gemeinde sei umso besser konstituiert, je mehr „Leben“ (sprich: Aktivität) in diesem Haus stattfinde, je beständiger die Gemeindemitglieder an diesem gemeinsamen Leben teilnehmen und je länger und selbstverständlicher die Menschen im Haus der Gemeinde verbleiben. Die Gemeinde wird sich selbst zum Anliegen.

Das setzt Seelsorger unter den Erwartungsdruck, sie müssten all dies gewährleisten: möglichst viel Aktivität, eine beständige und zahlreiche Teilnahme an den Gemeindevollzügen sowie eine lang anhaltende Einbindung in die Gemeinde. Ein solches Gemeinde-Ideal greift jedoch an der individualisierten, pluralisierten Lebensform sowie an der Lebenswirklichkeit der Menschen von heute in eklatanter Weise vorbei. Seelsorger programmieren damit ihre dauerhafte Selbstfrustration.

Gemeinden sind stattdessen in Analogie zu einer Berghütte zu gestalten. Unter diesem Leitbild erweist sich eine Gemeinde als „gute“ Gemeinde, wenn Menschen sie verlässlich an ihren Lebenswegen und Lebensorten antreffen; wenn Menschen sie mal regelmäßig, mal unregelmäßig, mitunter auch nur in schwierigen Situationen ansteuern können, um dort das zu bekommen, was sie für ihre Lebenswege brauchen; wenn Menschen in ihnen so lange da sein können, wie es ihnen gut tut; wenn Menschen von ihnen auch wieder weggehen – weil nicht das Verbleiben in der „Hütte“, sondern das Gehen des eigenen Lebensweges die Bestimmung eines Menschen ist.

Damit ist von den Seelsorgern der belastende Erwartungsdruck genommen, sie müssten immerzu möglichst viel Aktivität bewerkstelligen und die Menschen zur Teilnahme daran animieren. Seelsorger bewähren sich – in Analogie zu den Hüttenwirten – dann in ihrer Rolle als Seelsorger, wenn sie am Ort der Gemeinde das verlässlich bereithalten, was die Menschen zum Bewältigen ihrer Lebenswege brauchen; wenn sie – unabhängig davon, ob die Menschen diese Hilfe regelmäßig, unregelmäßig oder nur in schwierigen Situationen in Anspruch nehmen – Menschen helfen, ihre Lebenswege auf erfüllte, gelingende Weise zu gehen. 

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