Ein Gespräch über Sterbehilfe mit dem Gerontologen Thomas Klie„Die Ressource des sozialen Miteinanders“

Warum nehmen wir Anteil, wenn ein Nachbarkind die Nacht durchgeschrien hat, aber nicht an den Mühen der Nachbarin, die in der Begleitung eines dementen Angehörigen an ihre Grenzen stößt? Über das Leben als Hochbetagte und in Abhängigkeit von anderen, das Leitbild der geteilten Verantwortung für die Sorge beziehungsweise die Frage, was dies alles mit der aktuellen Diskussion über Sterbehilfe zu tun hat, sprachen wir mit dem Freiburger Gerontologen Thomas Klie. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.

HK: Herr Professor Klie, in Deutschland wird wieder einmal – bis ins Feuilleton hinein – über Sterbehilfe diskutiert, konkret geht es gerade um den assistierten Suizid. Was steckt hinter dieser Debatte? Sind es die Albträume einer überalterten Gesellschaft oder zeigt sich in dieser Diskussion einfach nur, dass dem Zeitgenossen Selbstbestimmung und Autonomie über alles gehen, und deshalb erst recht am Ende des Lebens keiner mehr reinreden soll?

Klie: Die Diskussion ist nicht neu. Sie wurde immer wieder einmal aufgegriffen in den letzten Jahrzehnten. Es geht bei der Diskussion letztlich um die Frage nach der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Es sind ja eher juristische „Finessen“, die uns zwischen Tötung auf Verlangen und assistiertem Suizid unterscheiden lassen. Wir können die Diskussion um den assistierten Suizid nicht aus dem Gesamtkomplex der Sterbehilfe herausnehmen. Wir leben in einer Gesellschaft, die anthropologisch auf ein eingeengtes, oft mit Autarkie verwechseltes Autonomiekonzept fokussiert ist. Die Vorstellungen von einem gelingenden, guten Leben sind mit persönlicher Leistungsfähigkeit, mit Selbstständigkeit, mit dem Freisein von Abhängigkeit verbunden. Überdies sind wir permanent zur Selbstinszenierung unserer erfolgreichen Person aufgefordert. Zu diesem Bild vom erfolgreichen Leben passt nicht eine Vorstellung von Leben, das mich existenziell auf die Hilfe anderer verweist. Ein Leben unter dem Vorzeichen des Verlustes zentraler zivilisatorischer Kompetenzen stellt sich für viele als eine narzisstische Kränkung als „moderne“ Menschen dar, die auf persönliche Unabhängigkeit, auf Erfolg und in gewisser Weise auch auf Jugendlichkeit gepolt sind. Diese Kränkung erklärt die Suche nach Wegen, so aus dem Leben gehen zu können, wie wir vor uns und den anderen heute bestehen können. 

HK: Ist dieser Wunsch nicht zu einem guten Stück nachvollziehbar?

Klie: Er ist sehr gut verständlich. Auch ich kann ihn in mir entdecken. Hinzu kommt: In einer Phase, in der es mir noch gut geht, ich mit der Prognose lebe, dass es bald bergab gehen wird, scheint es tröstlich, mit der Hilfe anderer aus dem Leben gehen zu können. Wir wissen aus der Psychologie, dass die Vorstellung, ich könnte mir möglicherweise das Leben nehmen, verzweifelte Menschen weniger verzweifelt sein lässt.

 „In der Sorge für andere steckt eine wichtige Seite erfüllten Lebens“

HK: Umfragen behaupten, dass fast jeder zweite Deutsche lieber den Freitod wählen würde, als selbst pflegebedürftig zu werden. Geht es darum, generell anderen nicht zur Last fallen zu wollen, oder ist es die Furcht vor physischem Schmerz? Und welche Rolle spielt das Schreckgespenst Demenz, der Totalverlust der eigenen Person?

Klie: Es ist eine Mischung aus unterschiedlichen Aspekten. Wir reden nicht gut über „Pflegebedürftige“, über die existenziellen Dimensionen unseres Lebens, die uns als erwachsene Menschen auf die Hilfe anderer verweisen. Die Begriffe der „Pflegebedürftigkeit“ oder auch des „Pflegefalls“ sind verräterisch: Sie reduzieren Menschen auf den Fall der Pflege. Anderes als ihre Defizite und ihr Hilfebedarf werden durch die Brille dieser Begriffe weder individuell noch kollektiv wahrgenommen und gewürdigt. Sie entstammen dem Wörterbuch der Inhumanität. Sozialrechtlich vermittelt der Begriff der Pflegebedürftigkeit Leistungsberechtigungen, pflegewissenschaftlich verbinden sich mit dem Begriff Vorstellungen von Qualitätsstandards. Man käme auch ohne einen solchen problematischen Begriff aus. Man kann wie in anderen Sozialgesetzen beschreiben, auf welche Leistungen jemand Anspruch hat. Wir stigmatisieren mit diesen Begriffen Menschen – durch unsere Sprache, unsere Wahrnehmung und unser Denken. Die gesellschaftlich präformierte reduktionistische Wahrnehmung des Menschen – in seinen Lebensthemen, seinen Ressourcen, seinen Wünschen und dem, was ihm elementar bedeutsam ist – verstärkt die sowieso in uns angelegte Furcht vor Krankheit und Verletzlichkeit.

HK: Was bedeutet diese begriffliche Stigmatisierung für die so Bezeichneten selbst?

Klie: Wir pathologisieren und medikalisieren Menschen im hohen Alter aufgrund von Diagnosen, die eigentlich gar keine sind. Nehmen Sie das Beispiel Demenz: Demenz ist ein Syndrom, keine Diagnose. Wir distanzieren uns durch unseren Blick und unsere Wahrnehmung von ihnen. Das, was uns allen schwerfällt, ist uns vorzustellen, dass wir nicht mehr als ganze Person vor dem Hintergrund unseres gelebten Lebens gesehen werden, für andere nicht mehr bedeutsam, sondern nur noch Last sind, eben nur noch als ein Fall der Pflege, der Geld kostet, der Geld verbraucht, der das Leben anderer auf negative Art beeinflusst und bestimmt. 

 „Wirkmächtig sind immer noch sehr defizitäre Bilder vom hohen Alter“

HK: Wie lässt sich der negative Blick wenden? Was ist einer Situation, in der wir zunehmend abhängig werden von anderen, Positives abzugewinnen?

Klie: Wir sehen viel zu wenig, dass in der Verantwortungsübernahme für den anderen, in der Sorge für andere eine wichtige Seite erfüllten Lebens steckt. Das Sorgen für andere – die vorausschauende und anteilnehmende Verantwortungsübernahme für einen anderen – gehört zu unserem Leben und Menschsein. Ebenso klammern wir einen wichtigen Teil unserer menschlichen Existenz aus, wenn wir sagen, dass die Abhängigkeit von anderen nicht zu unserem Leben gehört – vielleicht die frühen Jahre ausgenommen, denn die Abhängigkeit von Babys und Kleinkindern ist in unserer Gesellschaft im Wesentlichen positiv besetzt. Wir leben aber von der Ressource des sozialen Miteinanders. Sie ist die Voraussetzung für das Bestehen unserer Gesellschaft – im Kleinen wie im Großen.

HK: Und dennoch, ein Leben unter den Bedingungen von beispielsweise Demenz wünscht sich niemand…

Klie: Auch das ist verständlich. Auch ich wünsche mir ein Leben als Hochbetagter, in dem ich über meine intellektuellen Fähigkeiten verfüge. Wir wünschen uns ja auch nicht sterben zu müssen. Es ist eine individuelle und kollektive Leistung, Ja zu sagen zu einem Leben mit Demenz oder Verletzlichkeit, in einer Gesellschaft zu leben, in der Menschen unabhängig von ihrer individuellen Leistungsfähigkeit geachtete Menschen sind, in der wir die Würde eines jeden Menschen wahren. Die Kultur unserer Gesellschaft ist (auch) daran zu messen, wie wir mit verletzlichen Menschen umgehen und uns für ein Leben in Würde verantwortlich zeigen. 

HK: Welche Bilder des Alterns und des Alters insgesamt sind verantwortlich dafür, dass diese letzte Phase des Lebens so angstbesetzt ist? 

Klie: Wirkmächtig sind immer noch sehr defizitäre Bilder vom hohen Alter. Wir assoziieren mit dem hohen Alter und den alterstypischen Erkrankungen den „Pflegefall“, den Verfall und Nichts-mehr-Können, mit Demenz das „Leere-Hülse-Sein“. Solche Vorstellungen verstärken Aussagen von hochstehenden, in der Gesellschaft angesehenen Persönlichkeit, etwa vom früheren Intendanten des Mitteldeutschen Rundfunks, Udo Reiter, dem früheren Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens oder seinem Freund, dem katholischen Theologen Hans Küng, die sich selbst als „Pflegefall“ und „Dementen“ in hochproblematischer Weise die Würde absprechen. 

HK: Sie tun das doch gerade im Namen der Menschenwürde…

Klie: Solche Äußerungen erscheinen mit von Eitelkeit geprägt und sind für mich nicht nachvollziehbar, auch nicht hinnehmbar. Wie können Menschen, die in einem so hohen Maße ethische Anforderung an sich und an andere stellen, in einer solchen Art und Weise argumentieren! Ihre Formulierungen beeinflussen das gesellschaftliche Bild von Menschen mit Demenz extrem negativ. Wenn man die Einlassungen des Psychiaters und Neurologen Alfred Hoche zum „unwerten Leben“ aus dem Jahr 1922 liest, ist die Semantik eine ähnliche, auch wenn der Geist sicherlich ein ganz anderer ist. Wir stehen überhaupt in einer langen abendländischen Tradition, in der Menschen, die nicht mehr vom Verstand in einer kantischen Qualität bestimmt sind, die Fähigkeit zu einem Leben in Würde abgesprochen wird. Welche fatalen Auswirkungen muss das haben für eine Gesellschaft des langen Lebens, in der in absehbarer Zeit einige Millionen Menschen mit Demenz leben werden!

HK: Was muss sich demnach ändern, ohne dass damit umgekehrt die besonderen Herausforderungen für ein Leben mit Demenz, die Herausforderungen der Hochbetagten aus dem Blick geraten?

Klie: Wir müssen sehen lernen, dass ein Leben mit Demenz und unter Abhängigkeit uns auch bereichert, ein tieferes Verständnis von Leben überhaupt schenken kann. Es gibt Sinnfenster für ein „Leben mit Demenz“, wenn wir uns ihnen öffnen: Die Bedeutung der Emotionalität kann uns bewusst werden, das „sich abhanden kommen“ wird uns bewusst, die Bedeutung des Humors gewinnt an Bedeutung. Bei Hochbetagten und Menschen mit einem sehr intensiven Unterstützungsbedarf zeigen uns neue Studien, dass deren vorrangige Lebensthemen gar nicht ihre „Pflegebedürftigkeit“ betreffen. Ihnen geht es vor allem um das Anteilnehmen am Leben der nachwachsenden Generation. Entsprechend machen sich viele von ihnen Gedanken darüber, wie es in Zukunft mit unserer Gesellschaft weitergeht. Etwas weiterzugeben an die nachfolgenden Generationen, ist ihnen wichtig. Dabei kommt weniger das in den Blick, was sie noch können, sondern das, was nur sie können. Nur sie verfügen etwa über historische Erfahrungen, nur sie können Kultur vermitteln, die verloren zu gehen droht. Sie haben in einem besonderen Maße Zeit für andere. Ihre Aktivität ist eine besondere. Die Gestaltung ihres Lebens, ihr Umgang mit Einschränkungen und einer begrenzten Lebensperspektive fordert sie heraus. Es stellt sich vielfach als eine viel größere Leistung dar, unter der Bedingung eingeschränkter körperlicher Fähigkeit und zunehmender Vergesslichkeit ein freundlicher Mensch zu sein, Humor zu entfalten, Anteil zu nehmen, empathisch zu sein, als für Junge und „Gesunde“. Insofern können hochbetagte Menschen, auch mit Demenz – wir kennen das auch aus anderen Kulturen – so etwas wie „Lehrmeister“ sein. 

HK: Besteht bei einem solchen sympathischen oder emphatischen Blick auf beispielsweise ein Leben mit Demenz nicht umgekehrt die Gefahr dieses zu romantisieren?

Klie: Die Gefahr besteht. Ich will nichts romantisieren! Aber es ist doch die Conditio jedes menschlichen Miteinanders, dass wir zu erschließen suchen, worin das Besondere des Lebens eines Menschen liegt, der uns fremd geworden ist und der leidet – sowohl für uns persönlich als auch für die Gesellschaft insgesamt. Viele, die unter verträglichen Bedingungen die Sorge um hochbetagte Menschen teilen, berichten, dass die Zeit für sie eine sehr wichtige Erfahrung in ihrem Leben bietet, sie bereichert, ihnen Tiefe gibt und eine Beziehungserfahrung eröffnet, die sie überrascht. 

HK: Für viele Kritiker der aktuellen Sterbehilfe-Diskussion wird diese sowieso nur aus einer gewissen Notlage heraus geführt. Für die einen ist Deutschland ein palliativmedizinisches Entwicklungsland, für andere würde die höhere Verbreitung von Patientenverfügungen oder der Ausbau von Hospizplätzen den Druck aus der Debatte nehmen. Lenkt die Diskussion über Sterbehilfe nur von anderen, den eigentlich zu diskutierenden Problemen ab? 

Klie: Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe – er hat sich dieses Amt vermutlich nicht freiwillig ausgesucht – die Wertediskussion in den Vordergrund stellt. Eine grundlegende Pflegereform droht erneut vertagt zu werden. Man setzt auf einen Wertediskurs – und auf der Ebene der Sozialpolitik werden ein paar Wohltaten verteilt – auch für die Pflege, Grundlegendes passiert nicht. Diese Politik ist insofern gefährlich, als sie vernachlässigt, dass die Zuversicht in ein Leben, das auch Abhängigkeit akzeptiert, staatliche und kulturelle Rahmenbedingungen braucht. Diese Rahmenbedingungen verlangen einen aktiven Staat und nicht einen defensiven, der mit einer grundlegenden Reform der Pflege wartet, bis es wirklich nicht mehr anders geht. Wir haben im Deutschen Bundestag nur sehr wenige Abgeordnete, die sich das Thema Pflege wirklich zu eigen machen. Auch in den Bundesländern zeichnen sich nur ganz wenige durch eine proaktive und zukunftsorientierte Pflegepolitik aus. Eine Politik, die man verantwortlich nennen könnte, sähe anders aus.

 „Ein ‚eitler‘ Sozialstaat beweist sich selbst immer wieder die eigene hohe Qualität“

HK: Die Aussicht auf ein Leben in Pflegebedürftigkeit ist dabei ohnehin vor allem von Horrormeldungen und schrecklich anschaulichen Berichten und Reportagen aus dem Pflegealltag geprägt. Sind diese effektheischend übertrieben?

Klie: Nein, leider treffen viele Skandalmeldungen zu. Sie haben zugleich ihre Funktion, Angst vor einem Leben mit Hilfebedarf zu machen. Der Pflegeexperte und -kritiker Klaus Fussek hat in vielerlei Hinsicht recht. Auch wir in der Evangelischen Hochschule forschen seit über zwanzig Jahren zu Menschenrechtsverletzungen in der Pflege: Wo werden Menschen im Pflegebetrieb unzulässigerweise fixiert, sediert. Trotz all der aufgedeckten Skandale und Studien ändert sich kaum etwas. Wir wissen, es geht auch anders. Auch unter den gegebenen Bedingungen müssen Menschenrechte in dieser Weise nicht verletzt werden. 

HK: Und warum ändert sich dann nichts oder kaum etwas?

Klie: Der Pflegebereich ist zu einem riesigen Markt geworden, der hohe Renditen verspricht. Da werden gerne Probleme verdeckt. Viele Verantwortliche machen schlicht ihre Arbeit nicht gut. Und nicht zuletzt gibt es einen „eitlen“ Sozialstaat: Er beweist sich selbst immer wieder, wie hoch die eigene Qualität ist, indem er völlig überkandidelte Qualitätssicherungskonzepte entwickelt, die einen Großteil der Zeit und der Aufmerksamkeit bei den Pflegenden beanspruchen, ohne dass die ganze Qualitätssicherung in puncto Menschenrechte etwa irgendeinen positiven Effekt hätte. Qualitätssicherung, wie sie etwa in der Pflege betrieben wird, ist Selbstbestätigung eines selbstreferenziellen Systems. Es ist grundlegend falsch, dass ein so wichtiges Thema wie das der Pflege in die Hände der „Stakeholder“ gelegt wird. Und ebenso fatal ist es, dass in der Bevölkerung die Erwartung vorherrscht, der Staat solle und könne die Frage der Qualität der Pflege alleine richten, obwohl im Bereich Pflege die Angehörigen die größten Leistungen erbringen. Warum wird unsere Gesellschaft des langen Lebens nicht zivilgesellschaftlich aktiv für eine wirklich grundlegende Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Pflege? Dazu gehört allerdings auch – und das ist das Mühsame dabei – das „Commitment“, das „Ich-bin-dabei“, ich verstehe mich als Teil einer sorgenden Gesellschaft. 

 „Den Glauben beweisen durch gute Bewirtschaftung des gemeinsamen Lebens“

HK: Viele sehen in diesem ganzen Pflegedilemma aber vermutlich gar keine Lösungsmöglichkeiten mehr, nur noch eine überkomplexe Problemlage. Auch das bremst zivilgesellschaftliches Engagement. Was gibt es an positiven Vorstellungen und Modellen solcher Resignation entgegenzusetzen?

Klie: Für mich besteht ein tragfähiges Leitbild in dem der „geteilten Verantwortung“ der Sorge um Menschen, die alltäglich der Unterstützung und Begleitung bedürfen. Wir sind weiterhin als Familie, als Partner gefragt. Dabei ist es interessant, dass sich heute auch Männer – nicht nur als Partner, sondern auch Söhne – in einer historisch bisher unbekannten Weise an Pflegeaufgaben beteiligen, wenn auch noch in deutlicher Minderheit. Es ist offenbar für Männer leichter, sich an Pflegeaufgaben zu beteiligen als an der Kindererziehung. Wir haben noch niemals so viele Partnerschaften gehabt wie heute, das gab es früher, bedingt auch durch zwei Weltkriege nicht. Heute können wir auch im Alter füreinander einstehen, in alten und neuen Partnerschaften. Viele Menschen beschreiben die hier gesammelten Erfahrungen, wenn es gut geht, als eine wichtige Erfahrung ihres Lebens, auch in ihrer Beziehung.

HK: Und doch ist immer wieder von Beispielen zu lesen, wo gerade Partner, Familien mit der Pflege ihrer Angehörigen an wirklich existenzielle Belastungsgrenzen stoßen – trotz bester Absichten.

Klie: Wir dürfen uns nicht alleine lassen. Wir dürfen die Familien, Partnerschaften nicht alleine lassen. So wie wir Anteil nehmen, wenn ein Nachbarkind die Nacht durchgeschrien hat, müssen wir auch Anteil nehmen an den Mühen der Nachbarin oder dem Nachbarn, die in der Begleitung eines dementen Angehörigen an ihre Grenzen stoßen. Gerade nachbarschaftliche Zusammenhänge sind in ihrer solidarischen Qualität gefragt. Es wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, dass die Nachbarschaften die zweitwichtigste Pflege- oder Betreuungsstelle der Nation sind. Ambulante Pflegedienste können das nicht kompensieren, was in Nachbarschaften geleistet wird. Die Zukunft der Städte liegt in den Nachbarschaften, sagt man in der Stadtsoziologie. Das gilt auch bezogen auf die Sorge. Das Gefühl, ich bin gut versorgt, hängt stark davon ab, ob ich in einer Nachbarschaft lebe, die vom sozialen Miteinander geprägt ist. Die geteilte Verantwortung lebt von einem Mix von Hilfen. Wir brauchen Profis im engeren Sinne, die das Fachwissen einbringen und wir brauchen berufliche Helfer, die nicht so sehr vom Pflegefach kommen, sondern vorrangig dem individuellen Assistenzbedarf des einzelnen Menschen Rechnung tragen. Und wir brauchen engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sagen: Du bleibst unsere Mitbürgerin und unser Mitbürger. Vor Ort muss das Bewusstsein herrschen: Die Kultur und Sorgefähigkeit unseres Dorfes, unseres Quartiers, unserer Stadt zeigt sich auch darin, wie wir uns für sie weiterhin mitverantwortlich fühlen, anteilnehmend und vorausschauend.

HK: Welche Rolle können in dieser Gesellschaft der geteilten Verantwortung die Kirchen und ihre Gemeinden spielen?

Klie: Sie haben eine sehr wichtige Aufgabe. Kirchengemeinden bewiesen ihren Glauben immer auch durch gute Bewirtschaftung des gemeinsamen Lebens. Wenn wir nur noch predigen beziehungsweise zuhören und die Bewältigung unserer alltäglichen Herausforderungen unserer Existenz nicht mehr zum „Geschäft“ des täglichen Glaubens gehört, dann geht uns die Basis des Glaubens, seine existenzielle Verschränkung mit dem Leben verloren. Ich halte es in diesem Zusammenhang für eine problematische Entwicklung, dass wir in der Caritas und in der Diakonie die karitativen Aufgaben zunehmend unternehmerisch begreifen und gestalten, sie aber nicht mehr in den Alltag unserer Lebensführung und tätigen Glaubenspraxis integrieren. Die Ökonomisierung und Verdienstleistung von Unterstützungsaufgaben in der Pflege und bei Gesundheitsleistungen sind kulturell fatal: Anthropologisch degradieren wir den leidenden Menschen zum Kunden, übertragen die Bewirtschaftungsfragen dem Markt und die „Qualitätssicherung“ dem Staat. 

HK: Wie utopisch ist diese Leitvorstellung der geteilten Verantwortung gegenwärtig noch? 

Klie: Sie ist utopisch und realistisch zugleich. Es gibt ganz viele wunderbare Beispiele in Ost und West, in großen Städten und kleinen Gemeinden, wie solche geteilte Verantwortung funktionieren kann: Nachbarschaften werden neu gestiftet, in Wohnungsbaugesellschaften werden neue Formen des sorgenden Miteinanders entwickelt und gepflegt, Dörfer und Städte öffnen sich und erklären gemeinsam, „wir üben eine neue Gastfreundschaft – auch für Menschen mit Demenz ein“. So beispielsweise ein Ort im hessischen Kinzigtal, wo viele Familien ihre Haushalte öffnen für Menschen mit Demenz, nicht auf Dauer, aber eine Woche lang. Sie machen damit gute Erfahrungen. Es entstehen genossenschaftliche Formen gegenseitiger Unterstützung von der Kernzeitbetreuung für die Kinder bis zur Begleitung von Menschen mit Demenz. All diese neuen Wege auf alten Traditionen finden großen Anklang in der Bevölkerung. Das Thema Pflege und Sicherheit im Alter nimmt auf dem „Sorgenbarometer“ der Deutschen einen Spitzenplatz ein. Diese Sorge um die Sorge gilt es produktiv zu wenden: „Macht mit, entfaltet eure Mitverantwortlichkeit, sorgt vor!“ Die gemeinsame Annahme der Herausforderungen des demographischen Wandels, des langen Lebens, sie schafft neue Kreativität, macht Potenziale sichtbar und stiftet neues soziales Miteinander. Sie schenkt überdies Zuversicht für ein eigenes Leben unter der Bedingung der Verwiesenheit auf Hilfe anderer. Sie bietet überdies einen wichtigen Gegenentwurf im Kontext der Diskussion um den assistierten Suizid.

HK: Wie steht es in unserer Gesellschaft um die Rahmenbedingungen, damit ich solche Mitverantwortung auch übernehmen kann? 

Klie: In der Kommission für den Engagementbericht der Bundesregierung, der ich vorstehe, diskutieren wir genau diese Frage, wie wir Voraussetzungen dafür schaffen können, dass Menschen die Sorge um die Anderen in ihre alltägliche Lebensführung integrieren können. Die Skandinavier beispielsweise sind als Mann und Frau empirisch betrachtet stärker beteiligt an der Begleitung von auf Pflege angewiesener Menschen, weil sie eine sehr restriktive Arbeitszeitpolitik haben. Es ist ein gesellschaftliches „No-Go“ ewig Überstunden zu schieben. Es gehört dort zur Kultur, im eigenen Alltag auch die Sorge um Kinder, um ein gemeinschaftliches Leben, aber eben auch um Alte einzubeziehen. Dabei finden wir in Schweden einen sehr ausgebauten Sozialstaat, ebenso wie in Norwegen. In ihrer individuellen Zeitgestaltung wird Sorgeaufgaben mehr Raum gegeben. 

HK: Was könnten wir demnach von den Skandinaviern lernen?

Klie: Wir sind gefragt als Bürgerinnen und Bürger, als Familien uns dem Thema zu öffnen. Hierin liegt die kulturelle Antwort auf die Sterbehilfediskussion. Und wir brauchen einen Sozialstaat, der seine Verantwortung erkennt und die Verantwortung für seine Vorleistungsverpflichtungen ebenso einlöst wie für den wirksamen Schutz von Menschenrechten. Sorgende Gemeinschaften brauchen einen starken, aber keinen bevormundenden Sozialstaat, keinen der schon begrifflich demütigt, „Pflegefall“!, sondern würdigt und Würde sichert. Wenn ich weiß, dass ich zuversichtlich sein kann, dass für mich gesorgt wird, werden immer noch Verzweiflung und auch Suizidwünsche bleiben. Sie entstehen aber nicht reaktiv auf eine Gesellschaft, der ich nicht mehr vertrauen kann, dass sie mir auch dann noch Bedeutung schenkt, wenn ich ihre Solidarität brauche.

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