Martin Walser schreibt über Religion„Ich glaube nichts und ich knie“

Martin Walsers in diesem Frühjahr erschienenes Buch „Über Rechtfertigung, Eine Versuchung“ ist von manchem als Kniefall vor dem Alter, als altersbedingte Hinwendung zu Fragen des Glaubens missverstanden worden. Wer aber solches unterstellt, kennt Walsers Werk nicht.

 „Als ich den Roman Muttersohn veröffentlichte, in dem es um Glauben geht, Glaube als eine menschliche Fähigkeit, da wurde das öfter mehr oder weniger freundlich mit meinem Alter in Zusammenhang gebracht. So, als sei ich jetzt halt so weit.“ So Martin Walser in dem kurz nach „Muttersohn“ publizierten Buch „Über Rechtfertigung, Eine Versuchung“ (Reinbek bei Hamburg 2012, 32). Ein Schriftsteller, der über Rechtfertigung schreibt? Über dieses Theologenwort aus alten Zeiten? Ein nächstes Beispiel dafür, dass ursprünglich im Binnenraum von Kirchen und Theologie verhandelte Themen längst neue Präsenzen erfahren, andernorts – aber was soll dieses „andernorts“ eigentlich sein? – verhandelt werden.

Nicht dass über die Rechtfertigungsfrage in der Theologie nicht mehr debattiert würde. Aber öffentlichkeitswirksam, kulturprägend scheinen andere Orte geworden zu sein. Ob dies an der mangelnden Kreativität, womöglich auch Sprachfähigkeit der Theologie liegt, darf gefragt werden. Möglicherweise müsste bislang in klassischer Theologensprache Gesagtes nur mutiger übersetzt werden in ein gegenwärtig gängiges Sprachspiel. Und da jeder Übersetzungsvorgang Interpretation ist, wäre dies vielleicht nicht zum Schaden für die Sache. Denn nur wer interpretiert, nicht einfach wiederholt, versteht – und lädt zum Verstehen ein. Erschwerend für eine Theologie, die tatsächlich von Gott handeln will, kommt hinzu, dass zunehmend alles, was unter dem Label Theologie daherkommt, mit „Kirche“ identifiziert wird, und die gilt als verstaubt.

Dabei ließen sich wunderbare Gespräche inszenieren, aber was heißt, ließen? Sie finden ja statt. Dazu lässt sich kein anderer als Martin Walser, der sich überrascht zeigt ob der Resonanz seines Rechtfertigungsbuches, als Kronzeuge aufrufen: „Erstaunlich bleibt, dass theologieferne Kritiker sich berührt zeigen von diesem meinungsfernen Text. Aber dass Theologen ihre Sprache und ihre Vokabulare in den Dienst einer Lektüre stellen, die von ihnen einen Verzicht auf bewährte Denk- und Empfindungsgewohnheiten erbittet, das nährt im Autor die Einbildung, Religion und Literatur seien die zwei Seiten einer einzigen Medaille, und die heiße eben: unser Dasein“ (Präludium. Eine Erfahrung wie noch nie, in: Michael Felder, Mein Jenseits. Gespräche über Martin Walsers ‚Mein Jenseits‘, Berlin 2012, 7–9, 9). Bricht hier die berüchtigte Ironie Walsers durch? Nein. Dazu ist unser Dasein, das eine Dasein, das laut Walser in Literatur und Theologie besprochen wird, so komisch es auch manchmal anmutet, eine einfach zu ernste Angelegenheit.“

Rechtfertigung Gottes angesichts seines Sich-Verschweigens

Aber Walsers Freude enthält auch einen Warnschuss. Allzu einfach sollte man ihn nicht schon deshalb auf die Habenseite der Gottfrommen verbuchen, weil er nun über Rechtfertigung schreibt. Eine Literatur, die sich von den Beschwerlichkeiten und Abgründen des Daseins berühren lässt, lässt sich deshalb noch lange nicht zu der Behauptung verleiten, das Absolute sei darum. In der Moderne ist nichts mehr selbstverständlich, Heimat nicht und Religiosität erst recht nicht. Besser, angesichts des Religiositätsbooms: Gott nicht. Der tatsächlich geglaubte Gott.

Aber die Sehnsucht nach Beheimatung, auch nach Gerechtfertigtsein, diese Sehnsucht nach – sagen wir es übersetzt – nach einem „Leben in Fülle“, ist dies wie eh und je. Sich nicht tagtäglich neu erfinden zu müssen, um sein zu dürfen, nicht erst leisten zu müssen, um Akzeptanz zu finden, müde sein zu dürfen, ist alles andere als nur ein abgedroschenes Theologenthema. Aber ob es ein solches Gerechtfertigtwissen gibt, den unbedingten Zuspruch eines Gottes, der das Leben trägt, ist ungewiss.

Wunderbar oder gar wunderbar fromm an Walsers Rechtfertigungsbuch ist, dass er erst gar nicht auf die Idee kommt, sich dafür rechtfertigen zu wollen oder gar zu müssen, über den Glauben zu schreiben. Und da Walser in einer christlichen Kulturwelt schreibt, schreibt er, wenn er über Glauben handelt, über Rechtfertigung. Aber die Zeiten sind andere geworden. Es ist nicht mehr nur die Frage nach dem gnädigen Gott angesichts der Sünde des Menschen, welche wie noch zu Martin Luthers Zeiten den Glutkern der Rechtfertigungsfrage abgibt. Wobei erstaunlich genug ist, wie die Rechtfertigungsbedürftigkeit des Menschen, wenn sie theologisch angesprochen wird, immer noch auf die Sünde enggeführt wird.

Doch über Rechtfertigung schreiben, zwingt nach einigen Jahrhunderten glaubenszermürbender Theodizeediskussionen dazu, auch nach einer Rechtfertigung Gottes angesichts seines Sich-Verschweigens zu fragen. Dass ein gütiger Vater unterm Sternenzelt wohnt, war einem Friedrich Schiller noch selbstverständlich. Doch dieses Gottvertrauen ist weggebrochen. „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ist eine längst vergangene Mär“, heißt es in einem Vers von Ernst Jandl. So artikuliert sich der Zweifel, ob tatsächlich ein Gott existiert, der besorgt um den Menschen ist, ein Zweifel, der seit geraumer Zeit nagt.

Nur wundern kann sich Walser über einen selbstgefällig arglosen Atheismus, der sich in den letzten Jahren in nicht minder arglos inszenierten Fernsehtalkshows breit gemacht hat, einem Atheismus, dem kein Gott fehlt: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es“ (Rechtfertigung, 33). „In der Welt des Atheisten hat doch die Leere keinen Platz. Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen ,-ismus‘ ersetzt wird. Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt“ (Rechtfertigung, 98).

Es sei etwas verloren gegangen, hat Jürgen Habermas in seiner berüchtigten Friedenspreisrede formuliert, als sich „Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte“. Habermas ging es nicht um defätistische Stimmungsmache gegen die säkulare Moderne, die auf Freiheitsrechte pocht. Und erst recht wollte er nicht denen das Wort reden, die anstatt auf ein egalitäres Vernunftrecht zu setzen, das allen, religiösen und nichtreligiösen Menschen einleuchten könnte, Gesellschaft wieder auf Religion gründen wollen. Er erinnerte vielmehr an den keineswegs „unsentimentale(n) Wunsch“, dass das anderen zugefügte Leid ungeschehen gemacht werde, an die Beunruhigung, welche „die Irreversibilität vergangenen Leidens“ bei denen auslöst, welche der alten Gotteserzählung nicht mehr zu trauen vermögen (Glauben und Wissen. Friedenspreisrede des Deutschen Buchhandels, Frankfurt 2001, 24).

Ein Kniefall vor dem Alter?

Walser unterschieben zu wollen, es sei wohl der Kniefall vor dem Alter, wenn er sich nun Fragen des Glaubens zuwende, ist eine Unterstellung, die nur von einem zeugt: Dass man Walsers Werk nicht kennt (vgl. hingegen den sehr aufschlussreichen Aufsatz des Luzerner Theologen Christoph Gellner, Soll-Wörter wie Gott drücken einen Mangel aus, in: Jan Badewien/Hansgeorg Schmidt-Bergmann [Hg.], Martin Walser. Lebens- und Romanwelten, Karlsruhe 2008, 123–149). Allerdings befindet er sich damit, nun als eben alternd belächelt zu werden, in bester Gesellschaft. Auch ein Max Horkheimer, ein Walter Benjamin, ein Jürgen Habermas oder auch ein Alfred Döblin, der nach seiner Hinwendung zum Glauben sehr isoliert da stand, sahen und sehen sich mit diesem, nicht anders als bizarr zu bezeichnenden Vorwurf konfrontiert.

Denn erstens schützt das Alter grundsätzlich vor Einsicht nicht. Und selbst wenn man zweitens erst in vorangeschrittenen Lebensjahren erkennen sollte, dass die Frage nach Gott unausweichlich ist, so wäre zu kommentieren: besser spät als gar nicht. Besser erst spät erkennen, dass der Mensch sich aus sich selbst heraus nicht zu rechtfertigen vermag, als „seine Rechtfertigungsnot“, wie Walser spöttelt, „durch das Auflegen von Debussy-Platten narkotisieren“ (Rechtfertigung, 11). So wie Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg (vgl. Selbstbewusstsein und Ironie, Frankfurter Vorlesungen, in: Werke, Helmuth Kiesel [Hg.], Band 12, Frankfurt 1997, 586).

Für Walser spielen Fragen des Glaubens nicht erst neuerdings eine Rolle. Sie lassen sich bis in die Anfänge seines Schaffens zurückverfolgen. Im Jahr 1986 hat er unter dem Titel „Erfahrung“ ein Gedicht veröffentlicht: „Ich bin an den Sonntag gebunden/wie an eine Melodie, /ich habe keine andere gefunden, /ich glaube nichts und ich knie“ (Heilige Brocken. Aufsätze – Prosa – Gedichte, Frankfurt 1988, 74). Dies ist die Figur, die ihn bis heute in seinem literarischen Schaffen bestimmt: Wohl glauben zu mögen, dies aber nicht zu können. Die Hoffnung auf Resurrektion, die Habermas in seiner Friedenspreisrede für verloren glaubt, scheint auch Walser zu bestimmen. Aber glaubt Walser wirklich nichts?

Das Fehlen Gottes ist ein streunendes Thema in Walser gewaltigem Œuvre. Auch der Fehl Gottes, seine mögliche Schuld. Es sind zwei der Großen aus dem 19. Jahrhundert, die ihn sensibilisiert haben für die Frage nach der Rechtfertigung – beziehungsweise dafür, was fehlt, wenn kein Gott ist, der rechtfertigt: Friedrich Nietzsche, der jedenfalls endlich mit dem alten Gott, dem das Leben zermürbenden Schreckgespenst, aufräumen wollte, und Sören Kierkegaard. Beide rückten das Individuum neu ins Zentrum des Philosophierens, wenn auch völlig anders orientiert.

Nietzsche suchte nach einem neuen, dem fünften Evangelium (Peter Sloterdijk) nach dem geschichtlichen Ereignis des Todes Gottes. Gott ist tot, feiert keine Auferstehung mehr, aber Nietzsche sah auch genau, dass nun die Frage aller Fragen „Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?“ lauten würde.

Nicht so Kierkegaard, der große anthropologisch ansetzende Rechtfertigungstheoretiker: Gegen Hegel rückte er die Existenz des Einzelnen wieder ins Zentrum des Philosophierens, seine unvertretbare Stellung vor Gott. Kierkegaard meinte nochmals von einer allgemeinen Gottesgewissheit ausgehen zu dürfen, weil – so der Ausgangspunkt seiner Analysen – es nicht einen Menschen gebe, der nicht verzweifelt sei. Dass dem aber so ist, lässt sich nach Kierkegaard nur verstehen, weil ein jeder Mensch sich gegen den Grund sträubt, der den Menschen gesetzt hat: Gott.

Kultur der Rechthaberei

Verzweiflung ist damit Sünde, das Heilmittel dagegen der Glaube daran, sein zu dürfen, bereits gerechtfertigt zu sein. Und sich gerechtfertigt zu glauben, diesseits und jenseits von Sünde, hieße, bereits jetzt getröstet zu sein. Es mit den Ambivalenzen des eigenen Lebens, auch der Schuld, aushalten zu können, weil dieses Leben umfangen ist von dem größeren Ja eines Gottes zu ihm, der nicht erst Leistung sehen will. Aber wer lebt diesen Glauben schon. Nach Kierkegaard niemand.

Vielleicht waren es die dunkelsten Momente in Kierkegaards Biographie, die ihn dann doch noch erahnen ließen, dass nicht alles Sünde sei: dass es eine Schwermut gibt, die den Menschen grundlos zu überziehen vermag – und wenn nicht grundlos, so doch unverschuldet: Dass es eine Schwermut angesichts der Wechselfälle des Lebens, der Katastrophen anderer Menschen gibt, die das Leben in Traurigkeit versinken lassen. Vom Leiden an der Verzweiflung anderer, am Los der Gedemütigten und Gequälten ganz zu schweigen.

Karl Rahner hat einmal von einer dröhnenden Stille gesprochen, die sich dann breitmache, wenn der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, er mit sich allein sei. Diese Erfahrung des Auf-sich-zurück-Geworfenseins ist sicherlich nicht ausschließlich eine moderner Lebenskulturen. Aber es könnte sein, dass es spezifisch moderne Verarbeitungsmechanismen dieser Erfahrung gibt.

Nicht jede Formulierung kann glücklich sein, auch bei Walser nicht. Schon weil der Mensch tagtäglich ein erzählendes, sich seine Geschichte erzählendes und vor allem seine Geschichte zurechtbiegendes Tier ist, ist damit zu rechnen, dass die Strategie, andere ins Kreuzfeuer der Kritik zu nehmen, zur zweiten Natur des Menschen wird. Walser spricht von einer „Kultur des Rechthabens“ (Rechtfertigung, 30). Die heimliche Triebfeder dieser Kultur könnte die eines Ablenkungsmanövers sein. Scharfsinnig analysiert Walser die Mechanismen der Rechthaberei. Ob es in so manchen Debatten wirklich um die Sache geht oder tatsächlich nur um Rechthaberei, um Selbstbehauptung um der Selbstbehauptung willen, ist mit Fug und Recht zu fragen.

Freilich ist auch permanente Selbstkritik ein höchst fragliches Unterfangen. Von Nietzsche stammt das berüchtigte Wort „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden“. Man muss in dieser Tendenz zur Selbsterniedrigung nicht gleich den einen Willen zur Macht erkennen, um diesem Wort etwas abgewinnen zu können. Denn es gibt neben der Rechthaberei andere, subtile Formen der Verweigerung, die eigene Existenz zu übernehmen. Eine besteht darin, sich nur noch zu ironisieren. Auch dies ist ein verzweifelter Versuch, nicht anerkennen zu wollen, nur durch einen Anderen, am Ende durch Gott, die Anerkennung finden zu können, auf die die Rede von der Rechtfertigung zielt. Doch spricht sich in dieser Anerkennungssehnsucht nicht der Versuch des Menschen aus, sich wie der Graf von Münchhausen aus dem Sumpf der eigenen Rechthaberei zu ziehen und gerade so immer tiefer in diesen Sumpf zu versinken?

Religion – ein Verschönerungsverein?

Walser bringt diese Möglichkeit ins Spiel, mit dem von ihm so verehrten Theologen Karl Barth. Den „Abräumer“ nennt er ihn, weil Barth wie kein anderer im 20. Jahrhundert mit dem Glauben gebrochen hat, dass es dem Menschen irgendwie möglich sein könnte, aus sich selbst heraus etwas zu seiner Rechtfertigung beizutragen. Kein „Jota Einlenken ins Menschlich-Hiesige“ sei bei Barth (Rechtfertigung, 75). Nur die Gnade allein. So wie bei Nietzsche die Schönheit zum entscheidenden Medium werde. Nur im Schein könne die Menschheit erlöst werden. So hatte Nietzsche entschieden gegen einen jeden hinterwäldlerischen Glauben sein Erlösungsprogramm formuliert. Selbst-Rechtfertigung durch ästhetische Verklärung der Welt. Nach Nietzsche scheint Religion zwar nicht notwendig Verhübschung der Welt zu sein. Denn die ästhetische Rechtfertigung der Welt kann die Erfahrung der Härten des Weltverlaufs aufnehmen, auf ein ohne Wenn und Aber hinauslaufen – auf eine Akzeptanz der Welt jenseits von Gut und Böse. Aber ein solches Religionsprogramm nach Nietzsche muss nicht Gott wollen. Jedenfalls nicht notwendig.

In Walsers Novelle „Mein Jenseits“ heißt es: „Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon“ (Berlin 2010, 66). Was immer Glauben jetzt auch meint, in „Halbzeit“ hatte Walser seinen Helden noch weniger nachsichtig mit sich formulieren lassen: „Ich habe mich abgestrampelt, ein Gläubiger zu werden, aber jetzt ist Schluss, Schluss, Schluss. Gott gibt es nicht (…) und ich bin nicht der Mann, mir einen zu basteln“ (Halbzeit, Frankfurt 1997, 168). Kein Gott, also auch kein Glaube, der mit einem Gott rechnet. Religion verschönert vielmehr die Welt. Diese Idee von der Religion als „Verschönerungsverein“ spielt Walser in „Mein Jenseits“ nochmals durch, allerdings nicht mehr mit der Eindeutigkeit, welche nur die Religionskritik des 19. Jahrhunderts wiederholt.

Die Hauptfigur, den Chefarzt für Psychiatrie Augustin Feinlein, beruflich bereits auf dem absteigenden Ast und von der Liebe verschmäht, hat die Glaubenssehnsucht gepackt. Feinlein ist nicht nur von der Frage beunruhigt, was der Glaube sei, sondern mehr noch von der, warum andere zu glauben vermögen. Und vor allem: was diese eigentlich glauben. Die Glaubenswelt des oberschwäbischen Barock bildet die Kulisse der Novelle, und der Reliquienkult ist allgegenwärtig – bis heute immer noch. Die Heiligblut-Wallfahrt naht, was Feinlein Gelegenheit gibt, die Probe aufs Exempel zu machen. Schließlich ist der Verdacht ohne Anschauung blind. Er entwendet das Reliquiar, und – wie erwartet – nichts passiert. Die hohe Geistlichkeit ersetzt das Reliquiar, die Mysterien werden gefeiert wie zuvor. Das Volk ist wie immer dabei. Zu glauben lässt die Welt eben schöner erscheinen, schöner als im Wissen. Feinlein wird nicht müde, dies zu betonen.

Feinlein will freilich mehr als nur wissen. Es geht ihm nicht nur darum, die „Scheinheiligkeit bemerkbar zu machen“(Jenseits, 113). Das auch. Doch überhaupt müsse eine Reliquie gar nicht echt sein. Aber das müsse gesagt werden. Es komme darauf an, dass „die Gläubigen glauben“. Und hier kommt das Fehlen des Menschen wieder ins Spiel und dessen Rechtfertigungsbedürftigkeit. „Glauben heißt, die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist.“ Und: Eine „Sekunde Glauben ist mit tausend Stunden Zweifel und Verzweiflung nicht zu hoch bezahlt“ (Jenseits, 111/113).

Verzweifeln aber kann, dies weiß Walser sehr genau, nur ein Einzelner. Es ist eben die Tradition Kierkegaards, in der er schreibt. „Verzweifeln darf jeder für sich.“ So Karl, in „Angstblüte“ (Reinbek bei Hamburg, 2005, 28). Kierkegaard hätte gesagt: Verzweifeln kann nur ein Selbst, und ein jeder Mensch ist immer bereits verzweifelt. Karl ist verzweifelt, ist das, was in der modernen soziologischen Forschung als die Schattenseite modernen Menschseins beschrieben wird, das „unternehmerisch“ mit sich umzugehen hat (vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, Frankfurt 2007; sehr aufschlussreich jetzt auch Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt 2012). Diese Verzweiflung ist und bleibt für Walser der Nährboden der Religion. Deshalb die Sehnsucht nach einem Gerechtfertigtsein jenseits der üblichen Strategien der Rechthaberein. Vielleicht hat Feinlein ja recht: dass Menschen glauben, weil Gott fehlt. Aber deshalb muss Gott ja noch nicht nicht existieren. Nur weil Gott fehlt, ist dies noch kein Beweis für seine Nicht-Existenz. Nur dafür, dass der Mensch sich nach ihm sehnt. Aber ist dies nicht zu viel Anthropologie in der Theologie?

Das Evangelium Karl Barths

Zurück zu Karl Barth, von dem Walser wie von keinem anderen Theologen – allerdings nach Kierkegaard (vgl. „Die Verwaltung des Nichts“, 67) – beeindruckt ist, den er ob seiner „Negations-Paraden“ (Rechtfertigung, 73) bewundert. Entweder wird der Mensch ganz neuer Mensch, allein durch Gott neu gemacht. Oder aber es gibt keine Rechtfertigung, weil der alte Mensch sich immer noch selbst zu rechtfertigen versucht. So das Evangelium Barths. Wenn dies nur tatsächlich die Alternative ist. In „Mein Jenseits“ heißt es: „Das Jenseits ist eine andauernde Leistung. Wenn man aus irgendeinem Grund erschöpft ist, stellt es sich nicht ein“ (36 f.).

Rechtfertigung christlich heißt: Man darf erschöpft sein. Man muss sich nur als erschöpft respektieren und ist dann, wenn man dies zu glauben vermag, bereits gerechtfertigt. Womöglich aber hat ein solcher Rechtfertigungsglaube schon wieder zu viel von dem, in dem nach Walser der späte Barth geschwelgt habe: von diesem „Für-den Menschen-sein-Wollen Gottes“, „dieser Partner-Umarmung“. Er selbst sei „mit der Verwaltung des Nichts“ beschäftigt: „Meine Arbeit: Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist“ (Verwaltung des Nichts, 69/89). Dieses Geschäft ist ein melancholisches, denn Gott fehlt. Aber es schwingt auch eine Ironie mit, welche „den Verhältnissen wahrscheinlich mehr Rechtfertigung als jede direkte Kritik“ entzieht (Selbstbewusstsein und Ironie. 599). Es ist die Kierkegaardsche Ironie, welche den religiös Selbstgefälligen und allzu Gewissen den Boden unter den Füßen wegzieht.

Denn nicht ausgemacht ist, ob nicht selbst in der inbrünstigsten religiösen Praxis nichts anderes als Unglaube herrscht. Zu glauben ist eben schöner als nicht zu glauben angesichts des drohenden Nichts. Auch Folklore kann beheimaten, den Menschen für Momente aus der Erfahrung des üblichen Anforderungsreigens herausnehmen.

Aber ein solcher Glaube muss sagen, wie er es hält mit dem „Leere-Schrecken“, der sich breitmacht, dass Gott nicht hilft. Und ein Gott, „der nicht hilft“, so Walser in der Büchnerpreisrede, sei nun einmal „keiner“. Aber der fehlende Gott unterbricht auch den die „Welt beschimpfende(n) Daumenlutscher“, dem „der Nächste, der Nebenmensch“, „sein Horror“ ist (Woran Gott stirbt, in: Werke, Band 12, 432). Von den Salonatheisten ganz zu schweigen. Aber da diese nicht mehr von der Empfindlichkeit sind, wie ein Georg Büchner, dem Gott unter dem Seziermesser seines Gewissens starb, weil er ihn vermisste, er vom Fehlen Gottes verwundet war wie auch Walser, so werden sie diese Ironie, diese dem Geist der Melancholie atmende Ironie, wohl überhören. Walser zitiert Augustinus mit einer Stelle, von der er sagt, sie sei ihm die liebste: „Wenn wir merken, dass unsere Gebete flau werden, und wir merken, dass uns das schmerzt, dann beten wir schon“ (Rechtfertigung, 92). In der Tat – frühestens.

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