Religion in aktuellen deutschen Romanen„Wie tauft man richtig?“

Im Mittelpunkt von Romanen, die sich dem Thema Religion gewidmet haben, standen zuletzt mehrfach Priesterfiguren. Interessant wird es, wenn Schriftsteller sich nicht darauf beschränken, theologische Dialoge nachzuahmen oder den pastoralen Alltag aufzuzeichnen, sondern religiösen Fragen auf ihre eigene, nämlich literarische Weise nachspüren.

Der Literatur sagt man zu Recht nach, dass sie oft längst praktizierte, was später erst zur Theorie formuliert wurde. Lange bevor in der Diskussion um die Identität die Paradoxie Thema wurde, dass man erst zu dem werden muss, was man vermeintlich bereits war, hatte Literatur anhand von Geschichten über einzelne Figuren schon dieses Paradox erzählt. Lange bevor Begriffe wie Gender und Ethnizität Einzug in den Kulturwissenschaften hielten, hatte die Literatur schon das Material für diverse Erklärungsmodelle zur Verfügung gestellt, hybride Räume schon entworfen. Theoretiker verschiedenster wissenschaftlicher, nicht nur literaturwissenschaftlicher Disziplinen tun also gut daran, immer wieder einen Blick in die Literatur zu werfen.

In ihrer Komplexität entwirft Literatur aber nicht einfach Konzepte (die erst die Interpreten aus ihr herauslesen müssen), sondern in ihren singulären (vielleicht aber auch exemplarischen) Geschichten hinterfragt sie die Konzepte zugleich. Man könnte es als ein Qualitätsmerkmal von Literatur angeben, wenn sie das kann. Das Gegenteil wäre eine Literatur, die ohne Rücksicht auf Sprache und Machart bloß Klischees bedient. Literatur mit Qualitätsmerkmal erweist sich damit immer auch als Schule des Denkens.

Das ist wohl einer der wichtigsten Gründe, warum es lohnt, sich mit einem Interesse an Religion in die Literatur hineinzubegeben und zu sehen, was in literarischen Texten geschieht und was dies Theologen, Gläubigen, Zweifelnden, an Religion Interessierten erzählt.

In der Theologie läuft der Diskurs über die Bedeutung der Literatur oft unter dem Begriff der seismografischen Fähigkeit von Literatur. Faktisch beschränkt sich die Seismografie der Theologen oft darauf, kleine inhaltliche Fundstücke aufzuspüren. Ein Kapitel, das einen Kinderglauben und den Entschluss einer Romanfigur erzählt, das Kind taufen zu lassen, erlaubt dann die beglückende Entdeckung, dass ein Autor wie Hans-Josef Ortheil in „Lo und Lu“ (2001) heute noch so etwas wie Kinderglaube und Taufe kennt.

Immer, so zeigt dieses Beispiel, ist das Erkenntnisinteressedessen leitend, der auf die Suche geht. Was suche ich, wenn ich „Religion in der Literatur“ suche? Bestätigung über die Bedeutung der (eigenen) Religion? Theologische Fragestellungen? Warum suche ich diese in der Literatur und nicht in der Theologie? Suche ich Belege, dass die Literatur quasi wie ein Spiegel Wirklichkeiten, etwa pastorale Wirklichkeiten, beschreibt? Doch Literatur ist keine Einszueins-Abbildung. Suche ich Spuren, die die Wirkmächtigkeit der Bibel auch heute noch beweisen? Suche ich literarische Figuren, die aus der Bibel oder aus religiösen Kontexten stammen beziehungsweise mit religiösen Fragestellungen ringen? Suche ich religiöse Themen, Stoffe, Motive? Doch wann sind Themen in Literatur „religiös“, im Unterschied etwa zu existenziellen, ethischen, philosophischen Fragestellungen, mit denen sich Literatur immer auseinandersetzt?

Magda Motté hat in „Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart“ (Mainz 1997) eine Unterscheidung versucht. Die Grenzen sind aber nicht einfach zu ziehen, nimmt doch Literatur keine Rücksicht auf Grenzen – und gerade das macht sie so interessant. Zudem ist Literatur immer mehr als bloß das Thema, mehr als bloß der Plot. Das Thema „Religion in der Literatur“ lässt sich jedenfalls nicht plausibel eingrenzen und wird je nach Interesse und Fragestellung anders aussehen, ist immer eine Frage „an den Raum zwischen Leser und Text“ (Ulrike Draesner).

Priesterfiguren im Roman

Dass über Kinderglauben räsoniert wird, dass Kinder getauft, dass Schuldfragen gestellt werden, dass der Tod mit der Frage konfrontiert, was nach dem Leben kommt: Das alles kann mit einem Interesse an Religion zusammenhängen, muss aber nicht. Eine Figur aus religiösem Kontext (etwa die Figur eines Priesters) aufzugreifen und ihr die Hauptrolle im Handlungsgeschehen zuzuschreiben, gibt per se einem Roman noch keine religiöse „Bedeutung“ und signalisiert nicht unbedingt ein spezielles Interesse des Autors an Religion. Es war immer schon die Kunst der Literatur, Menschen zu erschreiben, die an Wendepunkten ihres Lebens stehen, die aufbrechen müssen, sich zu bewähren, deren Lebenskonzepte scheitern. Literatur erzählt auf komplexe Weise, wie Figuren ihr Leben bestimmen oder ihr Schicksal erdulden.

Wenn Dieter Wellershoff in seinem Roman „Der Himmel ist kein Ort“ (2009) einen Landpfarrer als Hauptfigur erfindet, erschreibt er damit zunächst einmal einfach eine Figur, die wie andere Figuren auch versucht, ihren Weg zu gehen. Dass sich bei einem Landpfarrer zudem die Sinn- und Gottesfrage stellt, schon angesichts der Predigten, die er bei Hochzeit und Beerdigung zu sprechen hat, versteht sich. Dass die Abgründe eines Landpfarrers größere sind als jene, denen sich andere gegenübersehen, ist nicht anzunehmen. Die besondere Herausforderung liegt für den Schriftsteller hier vermutlich darin, sich nicht nur Lebensumstände von Landpfarrern vorzustellen, sondern auch die beruflichen Bedingungen zu kennen – und dazu gehören pastoraler Stress, Abläufe von Sitzungen, sowie theologische Fragestellungen und Argumentationen.

Je „realistischer“ die psychologische Figurenzeichnung sein soll, und dem Autor Wellershoff sagt man psychologischen Realismus nach, desto wichtiger ist die Kunst, Personen lebendig zu erschreiben und Klischees zu vermeiden, die sich bei Priesterfiguren bekanntlich gerne aufdrängen. Letzteres gelingt Wellershoff leider nicht so recht.

Dabei beginnt der Roman spannend mit der Ungeklärtheit eines Unfallhergangs: Hat ein Vater seine Frau und seinen Sohn absichtlich mit dem Auto in den Baggersee gefahren? Die Frau ist nun tot, der Sohn im Koma, die Schuldzuweisungen in der Gemeinde steuern auf ein neues Unheil zu. Pfarrer Henrichsen möchte die Unschuldsvermutung gelten lassen, sieht sich aber selbst immer größeren Zweifeln ausgesetzt. Was Glauben bedeutet – dass mit Zweifeln gelebt werden muss – kann bei dieser Geschichte immer mitgelesen werden.

Anders als der katholische Kollege, den Petra Morsbach in ihrem Roman „Gottesdiener“ erfindet, wäre Henrichsen nicht dem Zölibat verpflichtet, aber sein Versuch, eine Beziehung zu einer um einige Jahre älteren Südamerikanerin aufzunehmen, scheitert in diesem Roman auch ästhetisch wegen der Klischees. Realistisch hingegen wirken manche Dialoge über Glaubensfragen, vor allem die theologische Akademieveranstaltung scheint wie abgeschrieben: So kennt man die verzweifelten (und dem Zweifler oft nicht hilfreichen) Versuche der Experten, die Kirche und die Welt von heute, die Vernunft und den Glauben in Einklang zu bringen.

Auch Morsbach liefert in ihrem Roman „Gottesdiener“ (2004) ein Sittenbild, wie es aktuellen Priesterstudien entstammen könnte (vgl. HK, März 2005, 144 f.). Man merkt, dass die Autorin den ganz normalen Wahnsinn eines durchschnittlichen pastoralen Alltags recherchiert hat, ebenso die unterschiedlichsten pastoralen Konzepte und diversen innerkirchlichen Richtungsstreitigkeiten. Isidor Rattenhuber, Pfarrer in Bodering in Niederbayern, lernt seinen Gefühlen zu trauen, auch wenn sie gegen Grundsätze der Kirche verstoßen. Antworten hat er auf seine Fragen keine, er hilft sich mit der Einsicht, dass es eher um die richtigen Fragen geht – vielleicht wird Gott dann einmal antworten. Wirklich überzeugt scheint er aber nicht, dafür ist er unermüdlich pastoral aktiv.

Im Unterschied zu vielen seiner literarisierten Kollegen hadert Isidor nicht mit Gott und erst gegen Ende ansatzweise mit der Kirche. Weniger als Theologie oder die eigenen Lehrsätze prägen die Anforderungen der Gemeinde sein Leben, Schicksale, die hinter jeder Tür lauern, und Fragen und Herausforderungen, die auch sein Leben unmittelbar betreffen, denen er allerdings selbst bestens auszuweichen versteht. Er hat sich seine eigene Form von Minimalglauben zurechtgelegt, nämlich: „Überall auf der Erde glaubten Menschen an irgend was. Die Formen, in denen sie glaubten, waren traditionell gewachsen, also zufällig. Isidor hatte eben in der hierzulande gültigen Tradition die Rolle des Priesters übernommen. Die Menschen brauchten das, und er tat es“ (255).

Mission versus Ironie

Die Literatur als Seismograf des Abgrundes zwischen den Sehnsüchten und Fragen des Menschen und den Antworten, die Theologie und Kirche geben, baut Arnold Stadler noch deutlicher aus. Was in seinem Roman „Salvatore“ (2008; vgl. HK, März 2009, 130 ff.) allerdings sichtbar wird: Je mehr ein Autor mit seiner Theologie überzeugen will, desto weniger überzeugt die Literatur als Literatur. Wenn Literatur mit missionarischem Eifer geschrieben wird (nicht nur in Sachen Religion), da geht dies ästhetisch oft schief. Soweit „sich Literatur nur für Meinungen engagiert, denen sie jeden Stoff unterwirft, mag sie sympathisch oder unsympathisch, nützlich oder schädlich scheinen, je nach den Meinungen, auf sich selbst jedenfalls als Erkenntnis durch Sprache hat sie dann verzichtet, dient nur als ideologisches Transportunternehmen“, stellte Reinhard Baumgart bereits 1968 fest.

Stadlers Roman „Salvatore“ zerbricht in drei Teile, merkte Paul Jandl seinerzeit an: in einen Anfang eines Romans, „der unversehens in die ausführliche Nacherzählung eines Films von Pier Paolo Pasolini übergeht. Am Ende gibt es noch einen Essay zu einem Gemälde Caravaggios“. Martin Mosebach weiß, was er tut, wenn er die Fragen der Religion und seine Sehnsucht nach der lateinischen Messe, mit denen er sich in Essays streitbar auseinandersetzt, aus seinen literarischen Werken draußen lässt. Stadlers Klagen über die verloren gegangene lateinische Heilige Messe und über die Theologen, die die Evangelien in Grund und Boden erklären, bis nur „Vater“ und „Amen“ als Worte Jesu übrig bleiben, sind in solcher Inbrunst geschrieben, dass man als Denker derselben bald nicht mehr Salvatore, sondern Stadler vermutet und dabei (wohl wie Stadler selbst) die Figur Salvatore völlig aus dem Blick verliert.

Stadler verweist zwar auf die Notwendigkeit, das Matthäus-Evangelium als Literatur zu lesen, und zwar ohne die exegetischen Befunde der Theologen zu beachten. Er lässt aber die Poetik seines eigenen Werkes außer Acht. Hier zeigt sich die Problematik, wenn eine theologische Streitschrift das Gewand der Literatur anzieht. Hier zeigt sich aber auch die Schwierigkeit, sich heute ästhetisch gelungen literarisch mit theologischen Fragen auseinanderzusetzen. Die Versuche der Einszueins-Wiedergabe von pastoralen Situationen, theologischen Diskussionen und Argumentationen scheinen nicht die gelungensten Varianten, die Literatur zu bieten hat.

Ein roter Faden, der sich durch einige Werke der letzten Jahre zieht, ist die Behauptung und Frage nach dem verloren gegangenen Geheimnisvollen des christlichen Glaubens. Vernünftigen Argumentationen wird das Unbegreifliche, Unfassbare des Glaubens gegenübergestellt, anhand von Figuren, die in dieser Spannung leben. Auch Sybille Lewitscharoff scheint das Thema unmittelbarer (mystischer) Berührung zu beschäftigen, erkennbar etwa in ihrem Roman „Apostoloff“ (2009) in Episoden, in denen sie die Icherzählerin Ikonen erfahren lässt. „Nur zögernd, im Hervor und Wieder-Weg kann sich an ihrer gemalten Haut etwas entzünden, im Glücksfall jenes unerschaffene Licht, das als Sendelicht auf den Betrachter trifft, mal spärlich, mal festlich reflektierend der Kerzen und Lämpchen Zitterlichter“ (64).

Im Unterschied zu Stadler geht Lewitscharoff aber mit Ironie an ihren Stoff heran – „Wir könnten etwas Weihrauch gebrauchen, um wieder in Stimmung zu kommen“ (65) – und die Intertextualität öffnet neue Denkräume. Das Verweisspiel in ihrem Roman „Consummatus“ (2006) beginnt beim Namen Ralph Zimmermann, der auch Bob Dylan einbezieht.

Eine „flaue Christenseele, die alles schluckt und gegen alle Erfahrung hofft und hofft und hofft“ (96), hat einen Besuch im Totenreich hinter sich und trinkt sich an einem Samstagvormittag einen an, während an der Decke die Toten (darunter Andy Warhol und Jim Morrison) Kaffeehaustratsch betreiben. Ein Mensch in Trauer und mit Schuld, der sich besäuft: ein trauriges Thema. Doch Lewitscharoffs Tote können sich auch über Tragödien köstlich amüsieren. Die Tragik löst sich in Vollrausch auf, der Text in Schneeflocken. Die zunehmende Alkoholisierung erlaubt allerlei theologische Reflexionen, die nicht minder ernst zu nehmen sind, rettet sie aber vor Missionierungsverdacht. Der Titel erinnert dann nicht mehr nur an Christi letzte Worte am Kreuz, sondern eher an das letzte Glas, das schon mehr als ein Wodka zu viel war. „Jungejunge, es ist vollbracht. Der letzte Schluck intus. Jetzt aber marschmarsch raus aus diesem Totenpensionat.“ (205). Consummatus: er ist vollbracht.

Bibel als Quellstoff

Als Quellstoff des Erzählens bezeichnet Lewitscharoff die Bibel. Wie für klassische Mythen und die kanonischen Klassiker der Literaturgeschichte gilt auch für die Bibel: Aufgreifen werden sie jene Schriftsteller, denen die Texte vertraut sind, und den Verweis auf den Quellstoff werden jene Leser verstehen, denen die Bibel vertraut ist. Aus der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre ist die Bibel als intertextueller Bezug nach wie vor nicht wegzudenken.

Ingo Schulze etwa hat in seinem Roman „Adam und Evelyn“ (2008) die Frage nach Paradies, Sündenfall und Vertreibung (jeweils im Plural) mit biblischen Bildern verwoben, die bis ins Detail reichen. Evelyn reicht statt einem Apfel Weintrauben und der zeitgenössische Adam fragt: „Sind die gewaschen?“ Am Anfang steht der noch unvertriebene Adam in der Dunkelkammer seines Hauses. Dort erschafft er seine Geschöpfe. Am Ende steht Adam im fremden Garten der neu (und mit den Engelchen Michaela und Gabriela!) bezogenen Wohngemeinschaft und verbrennt die Bilder, die er sich von seinen Frauen machte. Ein Paradies ist verloren, möglicherweise ein anderes gewonnen. Zwischen Dunkelkammer und Fotofeuer liegt nicht nur eine abenteuerliche Reise von der DDR über Prag, Ungarn und Österreich nach München, sondern auch die sich überstürzenden Ereignisse des Herbstes 1989. Die Intertextualität gibt aber keinen Hinweis auf gesteigertes Interesse an Religion. Die Vertreibungen aus dem Paradies sind ganz und gar weltliche (und plural).

Wie produktiv das Aufgreifen der Bibel für die Literatur sein kann, zeigt auch der Debütroman Terezia Moras, „Alle Tage“ (2004): „Der Name Abel lässt es auch gar nicht zu, die Bibel als Kopfkissenbuch zu unterschlagen, denn wo kann man mehr über Brutalitäten, ihre Auswirkungen, über Lesarten und Auslegungen in Erfahrung bringen?“ hieß es in der „Zeit“. Die Jury, die Moras Roman 2005 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse auszeichnete, lobte den Roman als „vielstimmiges Prosaepos“ und „eine Art zeitgenössische Heiligenlegende“ vor dem Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkrieges. Abel Nema (das Anagramm von Nema findet sich nicht zufällig am Ende) ist dieser zeitgenössische Heilige, der von nirgendwo herkommt und so staatenlos ist, dass sein alter Pass nicht einmal eine Scheidung von der Scheinehe zulässt. Er wird kopfüber aufgehängt und verliert seine zehn Sprachen, lebt aber weiter mit einem Satz, der in die Genesis zurückführt: „Es ist gut“.

Abel Nema erinnert schon auf der ersten Seite an Rasputin. Die Ähnlichkeit mit Dostojewski-Figuren ist auch den Romanfiguren von Andreas Maier eingeschrieben, der in seiner Poetikvorlesung auf seine Dostojewksi-Vorliebe hingewiesen hat, die sich auch in den Figurenzeichnungen und Erzählweisen seiner Romane spiegelt. Der orthodoxe Mönch Alexej in „Sanssouci“ (2009) hält den Konsum des Westens für gottlos und findet in der Armut auf dem russischen Land eine größere Wahrheit. Polaritäten wie Oberstadt und Höhlenwelt, Geistigkeit und Sadomasochismus, West und Ost sind durchgängig und betreffen auch das Christentum, auffällig sind die Verweise auf das Sich-Versenken, auf Licht, Dunkelheit, Glanz und Gesang der orthodoxen Rituale.

In Gesprächen wird der westliche dem orthodoxen Glauben gegenübergestellt: „Ich habe einmal einen weisen Mann kennen gelernt, einen katholischen, der sagte, das eigentliche Wesen der westeuropäischen Gemeindeführungen bestehe darin, den Menschen nicht Wahrheit, sondern recht zu geben. Er sagte, in unserem orthodoxen Glauben sei die Wahrheit eine Flaschenpost, die ungeöffnet durch unsere Zeremonie zu jedem hingetragen wird, während im Westen die Flasche immer schon geöffnet und die Postnachricht immer schon ausgelegt, interpretiert, benutzt und instrumentalisiert ist.“ (90)

Diese Aussage fällt in einem von vielen Gesprächen über Glaube und Wahrheit. Den intertextuellen Hinweis auf die Situierung zu diesem Gespräch, das dieser Roman als Ganzes ist, gibt das Motto: „Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wussten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war.“ Die Situation der Apostelgeschichte bildet die Grundsituation des Romans, in dem die Figuren reden, reden, reden, auch darüber, ob der Glaube Worte braucht, und vor allem über eine Person, die tot, aber in den Gesprächen anwesend ist.

Fabelhafte Radikalisierung   

Es ist auffällig: Sobald sich Schriftsteller nicht darauf beschränken, theologische Manifeste weiterzureichen, den pastoralen Alltag aufzuzeichnen oder theologische Dialoge nachzuahmen, sondern den Fragen, die den theologischen Diskurs beherrschen, auf eigene, nämlich literarische Weise nachspüren, wird die Literatur interessanter. Denn Literatur ist eben immer mehr als bloße Information, Literatur ist Form.

Das spürt man schon in den ersten Sätzen des Romans „Johanna“ (2006) von Felicitas Hoppe, der auch den Unterschied von Wissenschaft und Literatur erzählt. Hoppe hat sich mit Johanna von Orleans, wie sie selbst in ihrer Poetikvorlesung „Sieben Schätze“ schreibt, einer „der verwirrendsten und widersprüchlichsten Figuren“ (158) angenommen, auf eine Weise, die nicht nur Theologen, sondern auch Literaturwissenschafter verwirrte. Hoppes Johanna ist keine von gestern und der Roman nicht historisch, denn „Chroniken nacherzählen kann jeder, aber damit macht man keine neue Geschichte“ (74). Hoppe verzichtet auf Pseudorealistik, auf Verfahrensweisen, die durch das Anhäufen von „Fakten“ vorgeben, ganz nahe an der Realität zu sein.

Die Kunst besteht darin, ähnlich wie das Märchen das Komplexe einfach darzustellen. Einfach ist nicht das Gegenteil von komplex, Bilderreichtum bedeutet nicht, dass man als Leser den Verstand an der Garderobe abgeben muss. Ganz im Gegenteil, und so werden einen so entscheidende Fragen „WIE KRÖNT MAN RICHTIG?“ (40), „wie tauft man richtig?“ (149) auch noch nach der Lektüre begleiten. „Eine auf Erkenntnis ausgerichtete Erzählung“, schreibt Hoppe in ihrer Innsbrucker Poetik-Vorlesung „Über Geistesgegenwart“ und beschreibt damit eines ihrer eigenen Schreibrezepte, „erfordert allerdings nicht nur den Willen zu fabelhafter Reduktion, sondern in erster Linie ihre fabelhafte Radikalisierung. Nebenbei übrigens durchaus auch Witz und Esprit, denn ohne Selbstironie wagt man keinen ernsthaften Text.“ Ihr Schreibprinzip unterscheidet sich im ersten Halbsatz entscheidend von jenen, die vorgeben, genau zu wissen, was Realität sei, und ihr mit angeblichen Fakten nahekommen möchten. Hoppe behauptet nämlich schreibend: „Ich war nicht dabei, aber ich weiß es genau“.

Man kann Literatur immer lesen, wie man will, wenn man möchte auch als empirische Studie über Religion. Es sind aber nicht Ergebnisse von Priesterstudien, die der Literatur zu mehr Qualität verhelfen, sondern dieser erzählend-behauptende Entwurf der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, ihre Kreativität und Sprache. „Literatur bildet, wie wir wissen, nicht – ausgewogen und gerecht – ein Stück der Wirklichkeit ab, sie ist ihre eigene Wirklichkeit“, so Terezia Mora. „Nach Paul Klees Worten gibt sie nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar, und damit – siehe: die kleinste Veränderung ergibt eine neue Narration – verändert sie etwas.“

Die Suche nach „Religion in der Literatur“ wird immer spannend sein, wenn man beim Lesen den Fokus nicht auf Wirklichkeitsabbildung oder theologische Passung legt, sondern das Interesse weiter fasst, so weit wie die Literatur es fasst: Was erzählt die Literatur über Identität, Raum, Zeit, über den Menschen in dieser postmodernen Welt, seine Ängste und Hoffnungen – und wie tut sie das? Welchen Einfluss haben die Erzählweisen auf die Arbeit, die Theorien und das Sprechen von Theologen? Welchen Einfluss hat Literatur auf nicht-theologische Leser, Gewissheiten in Frage zu stellen und alle Schubladen, in denen religiöses Wissen sich scheinbar sicher abgesetzt hat, immer wieder umzudrehen. Das macht Unordnung, aber dadurch wird immer neu geordnet. Was ist Lesen, was ist Denken anderes?

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