Joseph Haydns „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“Musikalische Meditation

Joseph Haydns Komposition für eine barocke Karfreitagsandacht, in der sich Wort, Musik, Raum, Zeit und Liturgie verbinden, lässt tiefe theologische Einsichten des Komponisten erkennen.

Kreuz
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Im Jahre 1821 veröffentlichte ein zur anglikanischen Kirche konvertierter, ehemals katholischer Priester seine „Letters from Spain“. José Maria Blanco White (1775–1841) stammte ursprünglich aus Spanien, lebte aber seit 1810 in England. Seine Briefsammlung ist eine einzigartige Quelle über das Leben in Spanien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Im neunten dieser insgesamt 13 Briefe schildert er einen Karfreitag im Sevilla des Jahres 1806. Während er sich über das bunte Brauchtum an den Kartagen eher abschätzig äußert, ist der vormittags um neun Uhr beginnende lateinische Karfreitagsgottesdienst mit den entblößten Altären, dem unbegleiteten Gesang der Psalmen und der Passion, der Kreuzverehrung und der einsamen Kommunion des Priesters für White der wohl eindrücklichste Ritus der römischen Kirche.

Doch ist diese streng nach dem nach-tridentinischen Missale von 1570 ablaufende Liturgie nicht der einzige Gottesdienst an diesem Tag. White berichtet, dass von zwölf bis fünfzehn Uhr ein weiterer stattfindet: die Tres Horas. Hier sind die theatralischen Elemente deutlich gesteigert. Die Kirche ist schwarz verhangen und abgedunkelt. Der ganze Raum wird von nur sechs ungebleichten Wachskerzen kaum erhellt, sichtbar ist vor allem ein großes Kruzifix auf dem Hochaltar unter einen schwarzen Baldachin. Im dicht bevölkerten Kirchenschiff hocken oder knien die schwarz gekleideten und verschleierten Frauen auf Matten in der Mitte, die Männer stehen oder knien am Rand. Um zwölf Uhr zieht der Priester ein und beginnt, nach einer persönlichen Einführung, aus einem gedruckten Buch Meditationen über die „Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz“ zu verlesen. Nach jedem Kreuzeswort und der dazu gehörenden Meditation wird ein Musikstück gespielt. Dies wiederholt sich sieben Mal. Mit dem Glockenschlag um Punkt fünfzehn Uhr verkündigt der Priester nach drei Stunden dann den Tod Jesu. Als letztes Musikstück ertönt ein erschütterndes Terremoto (Erdbeben). White berichtet, dass dieser Gottesdienst einen großen emotionalen Eindruck auf die Mitfeiernden machte.

Zwar nennt er nicht den Namen des Verfassers der Meditationen, wohl aber den des Komponisten, dessen Musik sie flankiert: Joseph Haydn. Denn in Sevilla erklingt seine 1786 entstandene Komposition „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ (Hob. XX:1), laut White „tatsächlich eines der besten Werke Haydns“. Und White weiß auch, dass Haydn sein masterpiece of harmony knapp 20 Jahre zuvor im Auftrag kirchlicher Würdenträger für die Tres Horas im spanischen Cádiz komponiert hat.

Der Bericht Blanco Whites ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Er zeigt, dass die morgendliche lateinische Karfreitagsliturgie in ihrer römischen Herbheit den Bedürfnissen spätbarocker affektiv-identifikatorischer Passionsfrömmigkeit schon lange nicht mehr genügte. Großen Zulauf fand daher eine theatralisch gestaltetete Andacht, die im Unterschied zur Liturgie sogar „zur richtigen Zeit“ stattfand und die durch die Verdunklung der Kirche eine direkte Identifikation mit dem Geschehen auf Golgotha ermöglichte. Denn im Kirchenschiff wird die dreistündige Finsternis inszeniert, die laut Mk 15,33 (Mt 27,45; Lk 23,44) von der sechsten bis zur neunten Stunde (also von zwölf bis fünfzehn Uhr) dauerte und dem Tod Jesu unmittelbar voranging.

Drei Stunden vor dem Kreuz

Der Gedanke, dass die Gläubigen die letzten drei Stunden des Lebens Jesu mit ihrem gekreuzigten Herrn in der Finsternis von Golgotha verbringen und dabei seine letzten Worte vom Kreuz betrachten, stammt von dem peruanischen Jesuitenpater Francisco del Castillo (1615–1673). Die auf ihn zurückgehende Andacht wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts von einem weiteren Jesuitenpater, Alonso Messía Bedoya (1655–1732), bearbeitet und schriftlich festgehalten. Seine später vielfach gedruckte „Devoción de las tres horas de la agonía de Cristo Nuestro Señor“ ist eben jenes Andachtsbuch, aus dem noch 1806 in Sevilla vorgetragen wird.

Die Andacht zu den Sieben Worten hat eine komplexe Vorgeschichte, die mit den Passionserzählungen der vier Evangelien beginnt und über die altkirchlichen Evangelienharmonien ins lateinische Mittelalter führt. Denn die vier Sterbeszenen der Evangelien wurden seit der Alten Kirche meist harmonisch und komplementär gelesen, flankiert von Diskussionen darüber, in welcher Reihenfolge Jesus seine sehr unterschiedlichen ultima verba wohl gesprochen hat. Am einflussreichsten war dabei Augustinus’ monumentales Werk „De consensu evangelistarum“. Aber erst im hohen Mittelalter, ab dem 12. und 13. Jahrhundert, entwickelte sich zunächst in zisterziensischem, dann vor allem im franziskanischen Milieu eine eigene Literaturgattung, die lateinischen Septenartraktate. Nun wurden die Worte Jesu aus den vier Passionserzählungen gelöst und zu einer Siebenerreihe geordnet. Während diese Traktate aber eher Erzeugnisse theologischer Gelehrsamkeit und moralischer Erbauung waren, wurden die Sieben Worte bald auch in anderen Gattungen rezipiert, in Gebeten, Hymnen, aber auch in landessprachlichen Kirchenliedern wie dem berühmten „Da iesus christ am krewtz stayndt“ aus dem Ende des 15. Jahrhunderts.

Über den immens erfolgreichen Septenartraktat „De septem verbis a Christo in cruce prolatis „(1618) des Kardinals Robert Bellarmin (1542–1621) wurde die Gattung im frühen 17. Jahrhundert auch in den Jesuitenorden vermittelt. Vermutlich war es dieser Traktat, der Francisco del Castillo und dann Alonso Messía Bedoya zu ihrer Devocion inspirierte. Im Unterschied zu seinem Ordensbruder Bellarmin entwickelte del Castillo aber eine volkssprachliche Andacht, die aus der konkreten devotionalen Praxis seiner Escuela de Cristo in Lima erwuchs. Nun rückt die Betrachtung des Leidens und Sterbens des Herrn ganz in das Zentrum. „Schau ihn genau an, oh Seele“ – im Dunkel des Kirchenraumes sind die Glaubenden selbst auf Golgotha präsent (presentes an el Monte Calvario) und begleiten ihren Erlöser, der für sie am Kreuz hängt, in den Stunden seiner Agonie.

Mit ihrem identifikatorischen und affektiv-emotionalen Grundzug traf die Andacht offenbar einen Nerv und breitete sich in der Fassung Messía Bedoyas im 18. Jahrhundert nicht nur in Lateinamerika, sondern dann auch in Spanien und Italien aus. Päpstliche Ablässe taten ihr Übriges. Da die Abschriften von Hand offenbar zu einem gewissen Wildwuchs führten, erschien 1757 in Sevilla eine erste spanische Druckfassung, schnell folgten weitere Ausgaben und bald auch erste Übersetzungen, etwa ins Italienische (1786). Bemerkenswert ist, dass sich die Andacht im 19. Jahrhundert auch in der anglikanischen Kirche verbreitete, bevor sie im 20. Jahrhundert dann auch hier verschwand.

Musikalische Betrachtung

Die Andacht dient laut der das Buch einleitenden Instruccion Messía Bedoyas dazu, die Foltern, Qualen und Todesängste zu betrachten (contemplar), die Jesus während der letzten drei Stunden seines Todeskampfes (tres horas de agonia), nämlich zwischen zwölf und drei Uhr nachmittags, auf sich genommen hat. Dem contemplar beziehungsweise dem meditar der Gläubigen dient die liturgische Inszenierung, die sich keineswegs auf die Rezitation der letzten Worte Jesu, die Verlesung der Meditationen und die Gebete durch den Priester beschränkt. Mindestens ebenso wichtig wie dieser instruktiv-didaktische Aspekt sind die genannten theatralischen Elemente. Das theatrum sacrum des Kirchenraumes eröffnet dem versammelten Volk den je eigenen Zugang zum Geschehen auf Golgotha.

Die gegenüber der älteren Form der Andacht entscheidende Innovation Messía Bedoyas bestand aber darin, jede der sieben Meditationen in den Gesang einer Lamentacion oder in ein Instrumentalstück (ò se tocan algunos instrumentos) übergehen zu lassen. Dadurch wird die Musik zu einem wesentlichen Element des meditar, sie eröffnet den Gläubigen im Anschluss an die Lesung und die Auslegung des jeweiligen Wortes Jesu die Möglichkeit der eigenen, individuellen Kontemplation. Erst mit dieser Idee sind die Tres Horas im eigentlichen Sinne entstanden. Die Spiritualität der Andacht – aber auch ihr immenser Erfolg – verdankt sich also ganz wesentlich dem Zusammenspiel von Wort, Musik, Raum, Zeit, Licht und liturgischer Performanz. Hier setzt Haydn kongenial an.

Musik im heiligen Dunkel

Whites „Briefe aus Spanien“ bezeugen – zumindest für das Jahr 1806 – die nachhaltige Erfolgsgeschichte der Tres Horas in Kombination mit der Musik Haydns. Der Komponist genoss in Spanien schon zu Lebzeiten eine hohe Popularität. Man spielte dort seine Sinfonien (häufig sogar in Gottesdiensten), Musikschriftsteller würdigten ihn und der iberische Dichter Tomás de Iriarte (1750–1791) besang den Komponisten mehrfach in Gedichten, etwa mit Versen wie „Nur deiner außergewöhnlichen Begabung gewährten die Musen die Gnade, / immer so jung und üppig zu sein, / dass die Neugier nie satt wird: / auch wenn Deine Werke tausend Mal sich aufgeführt sehen.“

Der hohen Reputation Haydns entspricht der um 1785 erfolgte Auftrag, die musikalischen Passagen der Tres Horas zu komponieren. Die Andacht sollte in der so genannten Santa Cueva („Heilige Höhle“) in Cádiz gefeiert werden, einem unter der zentral gelegenen Iglesia del Rosario befindlichen Raum, den man 1756 bei Umbaumaßnahmen entdeckt und peu à peu ausgebaut hatte. Fortan diente er der sogenannten Santa-Cueva-Gemeinschaft als Andachtsort. Zwei ihrer Aktivisten wiederum leiteten die Auftragsvergabe an Haydn in die Wege: José Sáenz de Santamaria, Marqués de Valde Íñigo, ein Kaufmannssohn und Priester, der den 1783 beendeten Ausbau der Santa Cueva maßgeblich finanziert hatte, sowie der hochgebildete Francisco de Paula Maria de Micón, Marques de Méritos, welcher nicht nur als versierter Musiker galt, sondern auch über Kontakte zum großen Kreis der Haydn-Verehrer in Madrid verfügte. Wenn man dem Zeugnis seines Neffen Nicolás María de Cambiaso Glauben schenken darf, war es de Méritos, der den entscheidenden Briefwechsel mit Haydn führte. Obwohl die betreffende Korrespondenz verschollen ist, können wir annehmen, dass der briefliche Austausch äußerst instruktiv gewesen ist. Denn nachdem Haydn sein ursprünglich für Orchester geschriebenes und höchstwahrscheinlich 1787 in Cádiz uraufgeführtes Werk gut zehn Jahre später in ein Oratorium für Soli, Chor und Orchester verwandelt hatte, schickte er dessen Druckfassung eine ausführliche Erläuterung der Tres Horas voran, die sich größtenteils mit der Beschreibung von Blanco White deckt. Er habe, berichtete Haydn, etwa 1785 den Auftrag für die Sieben Worte bekommen – samt einer Beschreibung des Rituals: Der kirchliche Aufführungsort werde für die Tres Horas zur Gänze mit schwarzem Tuch ausgekleidet, „nur eine in der Mitte hängende Lampe“ habe „das heilige Dunkel erleuchtet.“ Anschließend steige der Priester auf die Kanzel, spreche eines der Sieben Worte aus, stelle eine kurze Betrachtung an und begebe sich dann zum Altar, um dort niederzuknien und zu meditieren – ein Innehalten, das die Musik begleite. Dieser Vorgang wiederhole sich bei jedem Wort.

Weitaus erstaunlicher als Haydns klare Vorstellung vom Ablauf des Ritus sind allerdings seine profunden Kenntnisse von den inneren Zusammenhängen und dem theologischen Gehalt der Sieben Worte. Jedenfalls kündet seine Vertonung von Einsichten, die weit über die damals üblichen Bibelkenntnisse hinausgingen. Wie Haydn sich das entsprechende Wissen angeeignet hat, ob ihm möglicherweise die einschlägigen Werke von Bellarmin oder Messia Bedoya zur Verfügung standen, liegt im Dunkeln. Denkbar wäre auch, dass er sich von einem gestandenen Theologen in die Thematik einführen ließ. Die Möglichkeit aber, Haydn habe eine entsprechende Vorbildung besessen, ist auszuschließen: Seine Lehrzeit als Sängerknabe am Wiener Stephansdom (1740–1749), innerhalb derer ein solche Unterweisung hätte angesiedelt sein können, war eher musikalisch-praktisch orientiert und schenkte der Allgemeinbildung der Choristen nur wenig Aufmerksamkeit. Und seine relativ umfangreiche, wissenschaftlich recht gut erforschte Bibliothek beeindruckt zwar durch ihre thematisch breite Aufstellung, enthält aber keinerlei theologische Literatur.

Wort und Klang

Haydns inniges, ja zärtlich zu nennendes Verhältnis zu den Sieben Worten tritt bereits in der Grundidee seiner Komposition zutage. Sie sollte, so darf man vermuten, jeden Anflug von Beliebigkeit vermeiden. Eine Lösung etwa dergestalt, gefühlige Meditationsmusiken zu schreiben, dekorative Klangteppiche, auf denen sich die Hörer sozusagen ausruhen konnten, widersprachen sowohl dem künstlerischen Ethos wie auch der gelebten Religiosität Haydns. Sein Bemühen, die textliche Botschaft in einer reinen Instrumentalkomposition zu deuten, führte zu einer ebenso einfachen wie genialen Lösung – nämlich zu dem Plan, Rhythmus wie Sprachmelodie der Sieben (lateinischen) Worte in musikalische Motive umzusetzen, die den einzelnen Sonaten ein jeweils charakteristisches Profil verleihen. Maximilian Stadler (1748–1830), Komponist und Geistlicher, deutet in seiner Autobiographie an, er habe dem um eine Lösung ringenden Haydn zu dem skizzierten Verfahren geraten. Wenn dem so war, könnte Stadler, seinerzeit immerhin Kommendatarabt des Zisterzienserstifts Lilienfeld, mit seinem Kollegen aber ebenfalls über die theologischen Aspekte der Sieben Worte gesprochen und ihm geholfen haben, tiefer in deren Sinn und Struktur einzudringen. Doch wie auch immer: Haydns Sonaten gehen aufgrund ihrer sprachgezeugten Motivik eine unauflösbare Verbindung mit den Sieben Worten ein, sind trotz der ihnen gemeinsamen Gattungszugehörigkeit individuell auf die letzten Botschaften des Gekreuzigten zugeschnitten.

Symmetrische Anlage

Die in den Tres Horas festgelegte Abfolge der Sieben Worte lässt sich als eine axial ausgerichtete Spiegelform deuten, deren Zentrum die Klage „Deus meus, deus meus, utquid dereliquisti me?“ bildet, das vierte Wort. Sie markiert jenen Moment, in dem der Erlöser angesichts der ihm zugefügten Leiden seine Verzweiflung offenbart, weil er sich von Gott verlassen sieht. Wie im ersten und siebenten Wort („Vater, vergib ihnen“ beziehungsweise „Herr, in deine Hände“) richtet sich der Gekreuzigte an Gott, spricht er ein Gebet. In diese drei Gebete eingelagert sind die beiden weiteren Wortpaare. Im zweiten wie dritten Wort richtet sich der Gekreutigte an andere Dialogpartner, den so genannten Schächer sowie seine Mutter Maria („Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ beziehungsweise „Frau, siehe, dein Sohn!“). Das vierte und fünfte Wort („Mich dürstet“ beziehungsweise „Es ist vollbracht“) spricht Jesus gewissermaßen für und zu sich. Während er das zweite wie dritte Wort an Menschen richtet, er hier also noch auf die Erde schaut, richtet sich der Blick in dem analogen Wortpaar nach oben, gen Himmel, denn das „Mich dürstet“ meint nicht nur das körperliche Verlangen, sondern auch die ungestillte Sehnsucht nach den überirdischen Gefilden, ebenso versteht der Sterbende das „Vollbrachtsein“ als Vorstufe zum Einswerden mit Gott, ja zur Auferstehung.

Haydn zeichnet die Architektur und die Entwicklung der Sieben Worte aufs Feinste nach. So akzentuiert er die Sonderstellung der Gebete gleich auf mehrfache Weise. Zunächst schickt er den entsprechenden Sonaten (1, 4 und 7) als einzigen des Zyklus die Spielvorschrift Largo voran; sie hebt aber nicht, wie man aus heutiger Sicht anzunehmen geneigt ist, lediglich auf ein langsames Tempo ab, sondern auch auf eine besondere Art des musikalischen Vortrags, bei der jede Note mit besonderen Nachdruck zu spielen ist – eine sprachnahe Artikulationsweise, die dem Charakter eines Gebets entgegenkommt. Die mit den Worten 1, 4 und 7 verbundene Hinwendung zu Gott versinnbildlicht Haydn zudem, indem er für ihre klangliche Umsetzung den Drei-Viertel-Takt wählt, während die anderen Sonaten in gerader Taktart stehen. Als historischen Vorläufer des Dreier-Takts kann man das aus dem späten Mittelalter stammende tempus perfectum bezeichnen. Dessen Zeichen ist ein Kreis, das Symbol der Vollendung, der ebenso wie die Ziffer Drei auf Gott verweist, auf die Heilige Dreifaltigkeit. Das tempus imperfectum aber, das ungerade Metrum mit dem Stigma des Unvollendeten, signalisierte ein Halbkreis, der noch heute den Vier-Viertel-Takt anzeigt. Indem Haydn die Taktarten seiner Sonaten derart passgenau auswählt, offenbart er einerseits sein beachtliches Gespür für musikalische Traditionen, andererseits sein Verständnis für die kunstvolle Kompilation der Sieben Worte und ihren planvollen Aufbau, wie er sich in den mittelalterlichen Septenartraktaten herausgebildet hatte.

Haydns musikalische Rhetorik

Der 1732 geborene Komponist erlebte seine musikalische Sozialisation in der Barockzeit. Folglich liegt es nahe, dass Haydn (wie später noch Franz Schubert) mit der musikalischen Rhetorik des Barock vertraut war, dass er über deren Affekten- wie Figurenlehre Bescheid wusste – nicht zuletzt dank seiner langjährigen Praxis als Sänger.

Wie komplex es sich gestaltete, barocke Ausdrucksmittel mit den Ansprüchen der Aufklärung, sprich der Wiener Klassik, zu verbinden, lässt sich exemplarisch an den Sonaten zu den Worten 3 bis 5 ablesen. Auffallend an ihnen sind die Tonarten der Sonaten 3 und 5, E-Dur beziehungsweise A-Dur, auffallend deswegen, weil es die einzigen Sätze des Zyklus in einer Kreuztonart sind. Die Kreuz-Vorzeichen teilen sich zwar nicht auditiv mit, aber sie verweisen (wie schon im gleichen Kontext bei barocken Komponisten) auf das zentrale Geschehen: die Kreuzigung. Schaut man genauer hin, summiert man wie von selbst die Zahlen 4 (die Kreuze von E-Dur) und 3 (die Kreuze von A-Dur). Die Gesamtzahl 7 führt zum Gedanken an die Sieben Schmerzen Marias, zu denen die Hinrichtung ihres Sohnes gehört.

Dass Haydn hier das vierkreuzige E-Dur und das dreikreuzige A-Dur vorgeschrieben hat, ist kein Zufall. Seine Entscheidung basiert vielmehr auf mariologischen Prämissen oder gar Vorlieben. Sie werden einerseits offenbar, weil Haydn hier (in Wort beziehungsweise Sonate 3) Jesus’ Ansprache an seinen Lieblingsjünger weglässt („Siehe, deine Mutter!“) und somit den Blick ganz auf Maria fokussiert („Frau, siehe, dein Sohn!“). Und andererseits, weil er durch die Tonartenwahl die dritte wie fünfte Sonate aufeinander bezieht. Das Sitio, das „Mich dürstet“, bezieht sich folglich nicht allein auf die körperliche Befindlichkeit des Sterbenden, sondern auch auf seine Sehnsucht nach seiner Mutter, die ihm einst die Brust gegeben hat, aber auch nach Gott, der ihn verlassen hat. Die freundlichen Dur-Tonarten der dritten und fünften Sonate werfen aber ein helles Licht auf das finstere f-moll der vierten, den Klageruf des Gekreuzigten – auf eine Tonart, die der Musiktheoretiker Johann Mattheson (1661–1764) eindrucksvoll beschrieben hat. Sie „scheinet“ kommentierte er, „eine gelinde und gelassene / wiewol dabey tieffe und schwere / mit etwas Verzweiflung vergesellschaffte / tödliche Hertzens=Angst vorzustellen und ist über die massen beweglich [= bewegend].“

Haydn schafft zudem eine Klangsprache, die über die Symbolik im Notenbild hinausgeht und Aussagen im Sinn theologischer Deutung trifft. Sein klangsprachliches Denken wurzelt deutlich in der musikalischen Rhetorik des Barock. So bindet er bei bei „utquid“, also bei Jesu Frage, warum Gott ihn verlassen habe, vom dritten Schlag auf den ersten über, bedient sich also einer Figur, die als dubitatio bekannt ist, als akustisch wahrnehmbarer Zweifel, weil sie die Metrik hinterfragt. Und weiter: Dem an Gott gerichteten „Deus meus, deus meus“ entspricht Haydn, indem er es mit zwei analog gebauten Zweitakt-Gebilden unterlegt. Zu Beginn der vierten Sonate erklingt diese Passage in f-Moll. Bei ihrer Wiederholung aber steht sie in As-Dur, einer Tonart, bei der laut Ferdinand Gotthelf Hand (1786–1851), dem Verfasser einer musikästhetischen Schrift, „die Seele für ein Ueberirdisches aufgeht, und Ahndungen eines Jenseits oder einer höheren Beglückung faßt [... sie] zeichnet den frommen, Frieden Gottes athmenden Sinn und erhebt zur Unendlichkeit eines seligen Gefühls.“ Vereinfacht gesagt: Der Gekreuzigte verharrt nicht ausschließlich in der Gottesfinsternis des f-Moll, sondern erfährt auch die Nähe Gottes. Dies verfestigt sich interimsweise sogar zu einer Ahnung des Überirdischen, wie eine in der Bassstimme aufsteigende Skala andeutet, die der besagten As-Dur-Passage folgt.

Dabei lebt in Haydns Musik durchaus noch die von Robert Bellarmin gegenüber den Reformatoren nochmals stark betonte katholische Tradition fort, wonach die Seele Christi in ihrem höheren Teil auch während der Passion wahrhaft selig war und die beglückende Anschauung Gottes nie verlor. Auf der anderen Seite lassen Haydns Sonaten sowohl diese eine Christologie wie auch das eindimensionale Verständnis von Affekt im Barock hinter sich, um zu einer differenzierteren, schon auf die Romantik verweisenden Auffassung des Gefühls zu gelangen. Aber sie sind nicht nur als Psychogramme des Sterbens zu würdigen, sondern auch als klingende Exegese, deren Botschaft nur im engen Zusammenspiel von Theologie und Musikwissenschaft entschlüsselbar ist. Diese gemeinsame Arbeit steht noch am Anfang.

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