Charismatische Bewegungen im 21. JahrhundertEvangelikale und die Reformation

Evangelikale und charismatische Bewegungen sind in ihren Erscheinungsformen vielfältig. Sie werden in Zukunft immer stärker das kirchliche Leben in Europa beeinflussen. Welche kirchlichen und biblischen Schwerpunkte setzen die Bewegungen? Wie heben sie sich von der reformatorisch-protestantischen Kirche ab? Welche Chancen und auch Gefahren bringen diese Bewegungen mit sich?

Evangelikale und auch pentekostal-charismatische Bewegungen nehmen für sich in Anspruch, von den grundlegenden Einsichten der Reformation bestimmt und Ausdruck des reformatorisch-protestantischen Paradigmas zu sein. Sie verstehen sich im Kontext der reformatorischen Entscheidungen zur Rechtfertigung allein aus Gnaden (sola gratia), zum reformatorischen Schriftprinzip (sola scriptura), zur Betonung des Glaubens (sola fide) als Weg der Aneignung göttlicher Gnade und der Hervorhebung der zentralen Heilsmittlerschaft Jesu Christi (solus Christus). Evangelikale Spiritualität ist darauf ausgerichtet, das Priestertum aller Gläubigen zu verwirklichen und das regelmäßige Lesen und Kennen der Bibel zu fördern.

Plädoyer für eine differenzierte Wahrnehmung

Die Rezeption der Anliegen der Reformation erfolgt freilich in den evangelikalen und charismatischen Bewegungen mit eigenen Akzenten. Das sola scriptura wird mit dem Hinweis ergänzt, dass die „ganze Bibel (tota scriptura) Gottes Wort ist, gewirkt und durchweht vom Heiligen Geist und darum unbedingt wahrhaftig und vertrauenswürdig“ (Statement des Gnadauer evangelischen Gemeinschaftsverbandes).

Evangelikale Entscheidungs- und Bekehrungstheologie ist „voluntaristisch“ geprägt, betont in zahlreichen ihrer Ausprägungen die Willensfreiheit des Menschen und setzt in der Anthropologie andere Akzente als die klassische lutherische und reformierte Tradition. Im Anschluss an pietistische Strömungen wird im evangelikalen und charismatischen Erweckungschristentum gern der Satz Martin Luthers aus der Vorrede zum Römerbrief (1522) zitiert, dass der „Glaube ein göttliches Werk in uns“ sei, „das uns wandelt und zu ganz anderen Menschen an Herz, Gemüt, Sinn und allen Kräften macht und den Heiligen Geist mit sich bringt.“ Charakteristisch ist dabei die Verlagerung des Akzentes: von der Externität göttlicher Gnadenmitteilung auf die Subjektivität der Aneignung der Gnade. Die individuelle Glaubenserfahrung und das gemeinschaftliche Leben rücken in das Zentrum des christlichen Selbstverständnisses.

In ekklesiologischen und sakramententheologischen Fragen gibt es im evangelikalen Spektrum keine einheitlichen Orientierungen. Angehörige evangelikaler Bewegungen sind Mitglieder unterschiedlicher Kirchen. Sie sind Lutheraner, Reformierte, Baptisten, Methodisten, Pfingstler, sie sind Angehörige unabhängiger Gemeinschaftsbildungen. Blickt man über Deutschland und Europa hinaus, ist zur Kenntnis zu nehmen: Neben der Wittenberger Reformation mit Martin Luther und Philipp Melanchthon spielen in der evangelikalen Rezeption der Reformation auch diejenigen Impulse eine wichtige Rolle, die von Huldrych Zwingli und Heinrich Bullinger in Zürich und vor allem von Johannes Calvin in Genf ausgingen. Pentekostale Kreise und freikirchliche Gemeinschaftsbildungen rezipieren zugleich Anliegen der radikalen Reformation beziehungsweise des so genannten linken Flügels der Reformation, etwa in der Tauffrage. Das Wort Protestantismus, das im englisch- und französischsprachigen Raum gegenüber evangelisch meist bevorzugt wird, steht nicht allein für lutherische oder reformierte Traditionen. Es darf – sofern es sich auf Glaubens- und Sozialgestalten des Christlichen heute bezieht – nicht nur mit Aufklärungs-, Vernunft- und Bildungsorientierung assoziiert werden.

Der konservative Protestantismus hält den etablierten Kirchen und der Theologie vor, sich einem säkularen Humanismus zu sehr angepasst zu haben. Die Erweckungsfrömmigkeit evangelikaler und pentekostaler Prägung stellt im 21. Jahrhundert eine zentrale Ausdrucksform des Protestantismus dar. Außerhalb Europas, in Lateinamerika, Afrika und Asien sind evangelikale und vor allem pentekostale Frömmigkeitsformen zur dominierenden Gestalt protestantischen Glaubens geworden. Die augenfälligsten Formen engagierter Christlichkeit finden sich heute in denjenigen Bereichen des Christentums, die aufklärungskritisch und konservativ geprägt sind.

Essenzialistische Betrachtungsweisen evangelikaler Bewegungen sind angesichts ihrer Vielfalt und globalen Verbreitung grundsätzlich unangemessen. Wenn von den Evangelikalen gesprochen wird, kann bereits im Blick auf die Situation in Deutschland sehr Unterschiedliches damit gemeint sein: unabhängige freikirchliche Bewegungen, die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, die vielfältig sich darstellende Pfingstbewegung, die evangelistische Aktion „ProChrist“, die „Willow-Creek-Bewegung“, die Deutsche Evangelische Allianz (DEA). Mit letzterer wissen sich in Deutschland rund 1,3 Millionen protestantische Christen verbunden. Sie kommen teils aus den evangelischen Landeskirchen (etwa die Hälfte), teils aus den klassischen Freikirchen (Methodisten, Baptisten, Freie Evangelische Gemeinden und viele mehr), teils aus neuen unabhängigen evangelikalen, pentekostalen und charismatischen Initiativen, Missionswerken und neuen Gemeinschaftsbildungen.
Schon aufgrund dieser Vielgestaltigkeit erfordern Stellungnahmen zu evangelikalen Bewegungen differenzierende Wahrnehmungen und Urteilsbildungen. In Teilen der Medienöffentlichkeit werden Evangelikale pauschal mit christlichen Fundamentalisten gleichgesetzt, die gegen Homosexualität, gegen Feminismus und Gender Mainstreaming oder mithilfe exorzistischer Praktiken gegen Dämonen kämpfen. Eine solche Wahrnehmung trifft auf einzelne Ausprägungen des Evangelikalismus zu, sie wird der Vielfalt der Bewegung jedoch nicht gerecht.

Das evangelikale Spektrum stellt sich als pluralisiert, ausdifferenziert und fragmentiert dar. Im deutschsprachigen Raum kann unterschieden werden zwischen einem klassischen, einem bibelfundamentalistischen, einem bekenntnisorientierten, einem missionarisch-diakonischen, einem Emerging-Church-Typ (der von konservativen Evangelikalen als zu modernitätskonform kritisiert wird) und einem pfingstlich-charismatischen Typ.

Zu allen Typen gibt es entsprechende Gruppenbildungen, teilweise auch Grundlagentexte. Offensichtlich gibt es bei den Kritikern der Bewegungen und einzelnen ihrer Repräsentanten das Interesse, sie als einheitlich darzustellen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass „evangelikal“, in diesem Sinn verwandt, eine Art „Metaprofil“ (Roger J. Busch) darstellt, dem keine institutionelle Konkretion eigen ist. Man fasst Gruppen, Werke und Gemeinschaftsbildungen zusammen, die unabhängig voneinander arbeiten, die in den Ausdrucksformen ihrer Frömmigkeit zwar verwandt, keineswegs aber einheitlich sind und deren Verhältnis zueinander nicht spannungsfrei ist.

Der Organisationsgrad evangelikaler Bewegungen ist ohnehin schwach ausgeprägt. Zugleich kann festgestellt werden, dass die Tendenz zu einer institutionellen Etablierung evangelikaler Gruppen sowohl innerhalb der evangelischen Landeskirchen, in sogenannten Parallelstrukturen, wie auch außerhalb der Landeskirchen kontinuierlich zugenommen hat, was auch an der Resonanz evangelikaler Publizistik und ihrer medialen Präsenz deutlich wird. In zahlreichen, wenn auch nicht in allen Freikirchen sind evangelikale Frömmigkeitsformen ohnehin dominierend. Im europäischen Kontext bleiben evangelikale und pfingstlich-charismatische Bewegungen ein Minderheitenphänomen. Von einer Erweckung, wie sie von einzelnen Gruppen immer wieder angesagt und ausgerufen wird, kann im Blick auf den europäischen Kontext keine Rede sein.

Das englische Wort evangelical kann mit „evangelisch“ übersetzt werden. Das deutsche Wort „evangelikal“ hat diese weite Bedeutung nicht. Es bezeichnet eine Frömmigkeitsprägung und bezieht sich auf eine spezifische Gestalt des Evangelischen. Die Wurzeln evangelikaler Bewegungen liegen im Pietismus, im Methodismus und in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Vorläufer haben sie in Bibel- und Missionsgesellschaften, in der Bewegung der Christlichen Vereine junger Männer und Frauen, in der Gemeinschaftsbewegung sowie in der 1846 in London gegründeten Evangelischen Allianz.

Bereits diese geschichtliche Entwicklung belegt, dass innerhalb evangelikaler Bewegungen ein breites Spektrum an Ausprägungen der Frömmigkeit vorliegt. Es reicht von der Heiligungsbewegung, aus der die Pfingstfrömmigkeit erwuchs, bis hin zu sozial-diakonischen Profilen evangelikaler Frömmigkeit. Ähnlich weit wird das Spektrum, wenn gegenwärtige evangelikale Bewegungen in ihrer globalen Verbreitung und Verzweigung ins Blickfeld kommen.
Sie haben in unterschiedlichen Kontinenten verschiedene Profile. Im deutschsprachigen und europäischen Kontext geht es neben konfessionsübergreifenden missionarischen und evangelistischen Aktivitäten unter anderem auch darum, überschaubare Ergänzungen und Alternativen zu landes- beziehungsweise volkskirchlichen Einrichtungen zu entwickeln. In Afrika und Südamerika gibt es pfingstliche und charismatische Bewegungen, die ein Wohlstands- und Gesundheitsevangelium verkündigen, ebenso evangelikale Kreise, die sich kritisch mit ihrer eigenen Tradition auseinandersetzen und darum bemüht sind, Evangelisation und soziale Verantwortung in einen engen Zusammenhang zu bringen.

Weder die Frömmigkeitsformen, noch die theologischen Akzente im Schriftverständnis, in den Zukunftserwartungen und im Verständnis von Kirche und Welt weisen ein einheitliches Bild auf. Gleichwohl lassen sich gemeinsame Anliegen in Theologie und Frömmigkeit benennen.

Charakteristisch ist die Betonung der Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung in Buße, Bekehrung beziehungsweise Wiedergeburt und Heiligung sowie die Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit. In Absetzung von der Bibelkritik vor allem liberaler Theologie wird die Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen unterstrichen. Eine ausgeprägte Bibelfrömmigkeit ist kennzeichnend. Als Zentrum der Heiligen Schrift wird vor allem das Heilswerk Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gesehen. Der zweite Glaubensartikel wird akzentuiert. Die Einzigartigkeit Jesu Christi wird pointiert hervorgehoben. Evangelikale Religionstheologie ist exklusivistisch geprägt. Gebet und Zeugendienst stehen im Mittelpunkt der Frömmigkeitspraxis. Gemeinde beziehungsweise Kirche werden vor allem von ihrem Missionsauftrag her verstanden. Die Ethik wird vor allem aus den Ordnungen Gottes und der Erwartung der Wiederkunft Jesu Christi und des Reiches Gottes heraus entwickelt.
Pfingstler und Charismatiker teilen diese Anliegen, betonen darüber hinaus eine auf den Heiligen Geist und die Charismen bezogene Frömmigkeit. Kristallisationspunkt der Sammlung der Evangelikalen ist die Weltweite Evangelische Allianz (WEA). Zentrale Dokumente der Bewegung sind die Lausanner Verpflichtung von 1974, die durch das Manila-Manifest von 1989 bekräftigt und durch den Dritten Lausanner Kongress für Weltevangelisation in Kapstadt von 2010 weitergeführt wurde. Vor allem mit der Lausanner Verpflichtung bekamen die weit verzweigten evangelikalen und charismatischen Bewegungen ein wichtiges theologisches Konsensdokument, welches zeigt, dass sie sich nicht allein aus einer anti­ökumenischen und antimodernistischen Perspektive bestimmen lassen, sondern dass in ihnen die großen ökumenischen Themen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen werden (zum Beispiel Verbindung von Evangelisation und sozialer Verantwortung, Engagement der Laien, Mission und Kultur).

Evangelikale und Ökumene

Im Unterschied zur ökumenischen Bewegung, in der Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen und gestalten, steht hinter den evangelikalen Bewegungen das Konzept einer evangelistisch-missionarisch orientierten Gesinnungsökumene, in der ekklesiologische Eigenarten und Themen zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnis der entscheidende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumenischer Verpflichtung gesehen wird. Evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Gemeinschaften geht es weniger um die offizielle Kooperation und Gemeinschaft von Kirchen, wie dies in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) der Fall ist, sondern um eine transkonfessionell orientierte Gemeinschaft auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen.

Mit diesen Akzenten in Theologie und Frömmigkeit wird der personale Aspekt des Glaubens betont, während die Sakramente in ihrer Bedeutung zurücktreten. Das Verhältnis zwischen evangelikaler Bewegung und katholischer Kirche war über lange Zeit entsprechend distanziert und abgrenzend. Die wechselseitigen Wahrnehmungen haben sich inzwischen verändert. Evangelikale und Katholiken entdecken gemeinsame Anliegen: Unter anderem das Festhalten an überlieferten Glaubensinhalten oder gemeinsame ethische Orientierungen zu den Themen Ehe und Familie und Lebensschutz am Anfang und Ende des Lebens. Evangelikale und Katholiken sprechen von einer „geistlichen Ökumene“, die in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen sei und die der Konsens- und Konvergenzökumene, die in Kommissionen stattfinde, etwas hinzufüge, was sich aus gemeinsamen Erklärungen nicht zwangsläufig ergebe, „eine Ökumene des gemeinsamen Lesens und betenden Bedenkens der Bibel als Wort Gottes und als Wegweisung Gottes für das Leben“ (Walter Kardinal Kasper).

Einschätzungen

Das 2011 publizierte ökumenische Dokument „Das christliche Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ (Mission Respekt), unterstreicht die Notwendigkeit, evangelikale und pentekostale Bewegungen in den ökumenischen Dialog einzubeziehen. Beteiligt waren an diesem Prozess der Päpstliche Rat für den Interreligiösen Dialog, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und die Weltweite Evangelische Allianz (WEA). Der bemerkenswerte Rezeptionsprozess dieses Dokumentes verdeutlicht mit Nachdruck die Zusammengehörigkeit von Mission und Ökumene.

In den historischen Kirchen werden „erweckliche“ Erneuerungsgruppen teils als Hoffnungszeichen, teils als Störung empfunden. Für ein christliches Selbstverständnis, das sich eng mit der säkularen Kultur verbunden hat, sind sie ein Thema, das in direkten Zusammenhang mit der Fundamentalismusdiskussion gestellt und als Bedrohung für ein modernes, aufgeklärtes Christentum empfunden wird. Die Berichterstattung von Teilen der säkularen Medien zielte in den letzten Jahren immer wieder darauf ab, die Evangelikalen als Gefahr darzustellen und vor einer Amerikanisierung der europäischen Religionskultur zu warnen. Von der amerikanischen Soziologin Marcia Pally wurde ein anderes, realistischeres Bild gezeichnet, auch im Blick auf die USA. Sie hat darauf hingewiesen, dass es zwar enge Verbindungen zwischen Evangelikalen und dem Neokonservatismus gebe. Andererseits haben sich die „neuen Evangelikalen“, wie Pally aufzeigt, von der religiösen Rechten losgesagt. Ihr politisches Engagement beschränken sie keineswegs auf den Kampf gegen Abtreibung, Pornografie und die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften. Vielmehr haben sie auch die Bekämpfung von Armut, den Umweltschutz und das Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden auf die Agenda ihrer Aktivitäten gesetzt.
Wenn christliche Religion in intensiven Ausdrucksformen gelebt wird, ruft dies nicht nur Bewunderung und Zustimmung, sondern auch Distanz und Ablehnung hervor. Wo christlicher Glaube eine deutliche Gestalt gewinnt, treten auch Gefährdungen und Schattenseiten auf. Die Ausbreitung des „erwecklichen“ Christentums war in den letzten Jahrzehnten mit diesen Begleiterscheinungen verbunden. Es wäre jedoch verzerrend, die Wahrnehmung der Bewegungen auf ihre Schattenseiten zu vereinseitigen.
Allerdings kann eine Urteilsbildung auch nicht daran vorbeigehen, dass beispielsweise einzelne pfingstlich-charismatische Gruppen als konfliktträchtige religiöse Bewegungen in Erscheinung treten oder dass bestimmte Ausformungen evangelikaler Endzeiterwartungen politische Implikationen enthalten, die konfliktverschärfende politische Optionen im Blick auf den Nahostkonflikt beinhalten. Eine kritische Auseinandersetzung mit erwecklichen Frömmigkeitsformen ist insofern nötig. Sie kann an Kontroversen anknüpfen, die innerhalb dieser Bewegungen selbst sichtbar werden.

Zutreffend ist gesagt worden, die Geschichte des Christentums sei die Auslegungsgeschichte der Bibel. Die unterschiedlichen Deutungen und Gestaltungen der christlichen Tradition zeigen den Reichtum der Wirkungsgeschichte der Bibel. Die unübersehbare Vielfalt der Konfessionen, der Kirchen und christlichen Gemeinschaften weist zugleich auf Spannungen und Kontroversen hin. Mit der Bibel in der Hand werden unterschiedliche Gestalten von Kirche begründet und abgelehnt. Mit Berufung auf die Bibel werden unterschiedliche Plädoyers zur Homosexualitätsthematik abgegeben. Der Kanon der Heiligen Schrift scheint eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten zuzulassen. Mit Recht wird heute auf den hybriden Charakter des Kanons hingewiesen, ebenso auf den Zusammenhang von Kanon, Übersetzung und konfessioneller Identität (Ulrich H. J. Körtner).
Die Bibel ist das gemeinsame Fundament aller christlichen Kirchen und der zentrale Bezugspunkt ökumenischer Verständigungsprozesse. Sie ist jedoch auch Zankapfel. Sie verbindet Christinnen und Christen und trennt sie. Quer durch die Konfessionen ist der Fundamentalismus heute die wohl „größte Kirchenspaltung der Gegenwart“ (Gerd Theißen). Im Katholizismus zeigt er sich als rückwärtsgewandter Traditionalismus. Im Protestantismus bekämpft er unter anderem die historische Bibelforschung, die Evolutionstheorie und artikuliert christliche Identität vor allem durch Abgrenzung und Ausgrenzung.
Evangelikale Bewegungen verfehlen die Anliegen der vier Allein-Aussagen der Reformation, wenn aus dem christlichen Glauben an den dreieinigen Gott ein Glaube an die Bibel wird. Gottes heilvolle Nähe in seinem Wort gibt es nur in gebrochenen und vorläufigen Formen. Die Bibel ist weder in den zentralen reformatorischen noch in den altkirchlichen Bekenntnissen Gegenstand des Heilsglaubens. Im christlichen Zeugnis wird der Unterschied zur Wahrheit, die es bezeugt, gewahrt.
Im Zusammenhang der Gründung der Evangelischen Allianz 1846 in London wurden neun Sätze gemeinsamer Glaubensorientierungen formuliert: Der erste Satz betont die Autorität der Heiligen Schrift, der zweite Satz unterstreicht „Recht und Pflicht des eigenen Urteils in Erklärung der Heiligen Schrift“. In heutigen Glaubensorientierungen evangelikaler, charismatischer und pentekostaler Gemeinschaften fehlt meist die Erinnerung an diesen Impuls, der zu ihrer Anfangsgeschichte gehört.

Das kirchliche Leben in Europa wird von der wachsenden globalen Resonanz evangelikaler und pentekostaler Bewegungen nicht unbeeinflusst bleiben. Die Fragen, die durch Evangelikale und Pfingstler an die christlichen Kirchen gestellt werden, müssen ernst genommen werden. Die religiösen Bedürfnisse, auf die sie eingehen, deuten auf Vernachlässigtes hin. Ihr Engagement stellt die Kirchen vor die Frage ihrer eigenen Erneuerungsfähigkeit und Offenheit gegenüber einer heutigen „Reformation“ aus dem Geist Christi. 

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