Ein Gespräch mit dem Psychologen Ahmad MansourTerrorismus entsteht im Alltagsislam

Islamisten und Salafisten sind Teil eines sehr verbreiteten Islamverständnis, mit dem es eine kritische Auseinandersetzung braucht. Das fordert Ahmad Mansour. Der muslimische Psychologe arbeitet seit Jahren mit radikalisierten Jugendlichen und warnt vor dem Gewaltpotenzial der heranwachsenden Generation von Migranten. Mit einem erneuerten Islamverständnis will er die demokratischen Werte und die Grundrechte in Deutschland vor Ideologien schützen. Die Fragen stellte Felizia Merten.

Gespräch mit dem Psychologen Ahmad Mansour
Psychologe Ahmad Mansour: "Die Missionierung läuft online."© Heike Steinweg

Auch jüngst kam es wieder zu Terroranschlägen, dieses Mal auf dem Atatürk-Flughafen von Istanbul. Die Anschläge in Brüssel sind noch nicht lange her. Wieso kommt es in den letzten Jahren zu einer zunehmenden religiösen Radikalisierung und wachsendem Terrorismus im Namen des Islam?

Mansour: Das ist eigentlich kein neues Thema. In den arabischen Ländern begleitet es uns schon länger. In Europa und den westlichen Ländern ist es seit einigen Jahren, spätestens seit dem 11. September 2001, zu einem Thema geworden. Aber tatsächlich haben in den letzten Jahren Terror und Radikalisierung zugenommen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen, weil der Pool an Menschen, die bereit sind, Terroranschläge zu verüben, größer geworden ist. Das hat auch mit der Radikalisierung junger Menschen zu tun, die ein bestimmtes Islamverständnis zunehmend durch radikale Missionierungsarbeit propagiert bekommen. Mittlerweile gibt es weltweit und auch in Europa Strukturen, die diese Missionierung begünstigen. Viele Gelder von außerhalb werden investiert, um junge Menschen für ein radikales Islamverständnis zu gewinnen. Zudem ist in den letzten Jahren die militärische Struktur der Terrororganisationen eine andere geworden. Mit dem Islamischen Staat haben wir eine Organisation, die andere Staaten und Länder beherrscht und damit die Möglichkeit hat, aus einer stabilen Infrastruktur heraus Anschläge zu organisieren.

Wie sind die Voraussetzungen der Radikalisierung in Ländern wie Afghanistan oder Syrien?

Mansour: Die Instabilität in den arabischen Ländern ist ein wichtiger Faktor. Das sehen wir besonders an Syrien. In dieser Instabilität kann die radikalisierte Ideologie wachsen. In den meisten muslimischen Ländern gibt es auch keine Alternativen zu den islamistischen Ideologien. Es wird ein Islamverständnis vermittelt, das die Basis für religiösen Extremismus schafft. Das Problem dabei ist, dass das schon lange so ist und wir bisher nichts dagegen getan haben. Es reicht nicht aus zu sagen, dass das mit dem Islam nichts zu tun hat. Man muss schon an die Wurzel gehen und fragen, warum diese ideologischen Auslegungen aus dem traditionellen Islamverständnis in den Ländern erwachsen konnten.

Auch aus Deutschland kommen junge Menschen, die in den Terrorkrieg ziehen und sich dem IS anschließen. Junge Menschen, die in Deutschland leben und aufgewachsen sind, können für den Islamismus angeworben werden. Wie kann das aus einem demokratischen Staat heraus möglich sein?

Mansour: Junge Menschen in Deutschland und Europa bekommen über das Internet ein ideologisiertes Islamverständnis vermittelt. Die Missionierung läuft online. Damit wird eine vermeintliche Identitätsstiftung angeboten, mit der sich die Jugendlichen abgrenzen oder ihr Gewaltpotenzial ausleben können. Die Gründe der Radikalisierung sind immer unterschiedlich. Es kann psychologische, soziologische und theologische Gründe dafür geben. Es handelt sich um Menschen, die Orientierung und Halt finden wollen, die eine Vaterfigur suchen. Es sind aber auch teilweise Menschen mit schweren psychologischen Problemen und Erkrankungen. Die Islamisten sind sehr attraktiv für diese Jugendlichen. Jene gehen nicht nur in die Moscheen, sondern sind neben dem Internet auch in Schulen und Jugendzentren anzutreffen. Die Islamisten machen Angebote, bieten Gruppenzugehörigkeit und Identität. Ich sage nicht ohne Grund, dass die Salafisten die besseren Sozialarbeiter sind. Sie holen die Jugendlichen ab. Das ist der Grund, warum diese Ideologie für so viele Menschen attraktiv werden konnte. Leider haben wir es innerislamisch bisher verpasst, diesem radikalisierten Potenzial im Islam etwas entgegenzusetzen und eine Form des Islam zu entwickeln, der die Jugendlichen von den radikalisierten Angeboten wegholt. Es braucht sinnvolle Gegenkonzepte. Jeder, der sich für den Islam interessiert, läuft momentan leider Gefahr, sich zu radikalisieren.

Sie arbeiten viel im Bereich der Präventionsarbeit und sind medial sehr präsent. Mittlerweile stehen Sie deswegen unter Polizeischutz. Haben Sie selber Angst vor der zunehmenden Radikalisierung?

Mansour: Natürlich habe ich Angst und zwar nicht nur vor den Anschlägen. Ich will in einem Land leben, wo meine Kinder sich frei entfalten können. Ich schätze die Meinungsfreiheit, genauso wie die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland. Aus meiner eigenen Biografie heraus schätze ich es sehr, dass meine Kinder sich hier ohne Angstpädagogik entfalten können. Diese Freiheiten und Möglichkeiten geraten aber mehr und mehr unter Druck. Wenn ein muslimischer Vater sich zum Beispiel weigern kann, der Lehrerin die Hand zu geben, müssen wir doch darauf reagieren. Wir müssen auch reagieren, wenn Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Heranwachsenden eingeschränkt werden, wenn tausende Schülerinnen und Schüler nicht mehr am Schwimmunterricht oder der Klassenfahrt teilnehmen. Das macht mir schon Angst und ich sehe die dringende Aufgabe, dass das bearbeitet werden muss. Und natürlich macht es mir Angst, dass es auch in Deutschland zu Anschlägen kommen könnte, bei denen Menschen sterben. Das Potenzial dafür ist da.

Sie und andere muslimische Stimmen machen öffentlich auf die Gefahren aufmerksam, die durch einen radikalisierten Islam entstehen können. Sie rufen zu einer vernunftbasierten und auch kritischen Herangehensweise an den Islam auf. Wie sehen die innerislamischen Reaktionen darauf aus?

Mansour: Es passiert nicht selten, dass wir mit Vorwürfen konfrontiert werden und den eigenen Islam abgesprochen bekommen von Leuten, die selber Gott spielen wollen.

In Medien und Öffentlichkeit wird oft diskutiert, ob der Islam zu Deutschland gehört. Wie positionieren Sie sich dazu?

Mansour: Ohne Weiteres kann man das nicht beurteilen. Es gibt Teile in dieser Gesellschaft, die sehr glücklich sind über den Islam in Deutschland und die Vielfalt, die er bringt. Vielfalt und Pluralität sind gut und zu befürworten – aber nicht um jeden Preis. Manche Vielfalt muss auch kritisch gesehen werden. Die Frage ist doch, welcher Islam zu Deutschland gehört. Ein Islam, der auf der Basis von Menschenrechten und Demokratie steht, gehört sehr wohl nach Deutschland. Aber ein Islam, der vom Verfassungsschutz beobachtet werden muss, der gehört bei aller Liebe zur Vielfalt nicht nach Deutschland. Genauso gehört ein Islam nicht nach Deutschland, der die negative Geschlechterapartheit popagiert, der das kritische Denken verbietet oder der auf Angst basiert. Die Auseinandersetzung über diese Fragen brauchen wir; genauso aber auch in anderen Religionen. Ein Religionsverständnis, das der Verfassung und den Menschenrechten widerspricht, sollte nie in diese Gesellschaft gehören.

Sie sind selber gläubiger Muslim. Ärgert es Sie, wie der Islam über radikalisierte Gruppen und Terroranschläge öffentlich wahrgenommen wird?

Mansour: Nein, wir müssen uns nämlich mit diesen Gruppen auseinandersetzen. Sie dürfen nicht einfach als nicht-islamisch verleugnet werden. Sie gehören dazu. Das ist ein islamisches Problem. Der Islam muss sich fragen, wie es im Namen des Islams zu solchen Auswüchsen kommen konnte und weiterhin kann. Was haben wir für Glaubensinhalte? Welche Entwicklungen begünstigen die Situation? Islamisten und Terroristen sind ein Produkt unseres Islams. Wir können nicht einfach eine Opferrolle annehmen und sagen, dass das nichts mit uns zu tun hat. Nein, wir müssen uns die mutige Frage stellen, wieso das bei uns entstehen konnte.

Wie sehen Sie den momentanen Islamdialog zwischen dem Islam und politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren in Deutschland?

Mansour: Ich sehe das sehr kritisch. Der Dialog der Religionen, an dem Vertreter des Judentums, des Islam, der evangelischen und katholischen Kirche teilnehmen, beschäftigt sich zwar mit dem Thema Islam, aber bisher wird es vermieden, schwierige Fragen zu stellen oder offene Kritik zu äußern. Die Kirchen sollten nicht so unkritisch sein, damit werden sie irgendwann selbst zum Teil des Problems. Warum wird im Dialog der Religionen nicht einmal deutlich die Frage gestellt, was für einen Islamunterricht man in Deutschland eigentlich haben will? Sind die Studenten, die gerade als Religionslehrer ausgebildet werden, in der Lage, einen offenen, demokratischen und kritischen Islam zu vermitteln? Oder haben diese Studenten vielleicht selber ein problematisches Islamverständnis, das wiederum eine Basis für Radikalisierung bieten kann? Die Kirchen sollten die Probleme in ihrem eigenen Haus bearbeiten, gleichzeitig aber auch klar und deutlich jene benennen, die es im Islam gibt. Die katholische Kirche hat sich doch selbst mit den Themen Angstpädagogik, Tabuisierung der Sexualität und Scham auseinandersetzen müssen. Im Dialog der Religionen muss genau auf diese Probleme geachtet werden. Dafür braucht es deutliche Kritik.

Wie sieht es wiederum mit dem innerislamischen Dialog in Deutschland aus?

Mansour: Wir sind am Anfang. Es gibt gerade erste Prozesse, die aber auf akademischer Ebene und in den Eliten stattfinden. Das ist noch längst nicht an der Basis, bei den muslimischen Menschen angekommen. Ein Reformislam und ein Islamverständnis, das sich kritisch sich selbst gegenüber verhält, existiert in der Breite noch nicht.

Was braucht es für diesen Reformislam?

Mansour: Man muss erst einmal weg vom Buchstabenglauben und dem Glauben an die heiligen Texte. Im Islam muss auch die eigene Geschichte kritischer betrachtet werden. Es muss irgendwann einmal möglich sein, dass ein Moslem auch kritische Fragen stellen kann. Kritische Fragen an den Islam zu stellen, bedeutet bisher, dass man sich in Lebensgefahr begibt. Der Prophet Mohammed darf schon gar nicht kritisch angefragt werden. So lange das nicht möglich ist, sind wir noch weit entfernt von einem reformierten oder demokratischen Islamverständnis.

In Ihrem Buch „Genration Allah“ schreiben Sie über die religiöse Radikalisierung von Jugendlichen. Warum sprechen gerade Jugendliche auf die Werbung von Salafisten und Radikalen an?

Mansour: Die Jugendlichen, die sogenannte Generation Allah, sind auf der Suche nach Identität. Problematisch wird es, wenn sich diese Jugendlichen zusätzlich rassistisch behandelt oder ausgegrenzt fühlen durch Medien der Mehrheitsgesellschaft. Wenn Jugendliche immer mehr das Gefühl bekommen, dass sie Fremdkörper in diesem Land sind, gehen sie auf die Suche nach einer anderen Identität. Und da frage ich: Welche Identitätsangebote gibt es in unserer Gesellschaft für diese Jugendlichen? Identität durch Abgrenzung zu dieser Mehrheitsgesellschaft bieten heutzutage die Islamisten und Salafisten. Die Jugendlichen von heute leben in einer globalen Welt. Diese globale Welt ist eine große Chance, bringt aber auch viele Veränderungen mit sich. Die traditionellen Werte, das Ehe- und Partnerschaftsverständnis verändern sich, Bildungssysteme und Berufsperspektiven sind im stetigen Wandel begriffen. Die Unterschicht und die Oberschicht in der Gesellschaft driften immer stärker auseinander. Das alles schafft große Unsicherheit. Viele Jugendliche kommen mit dieser Unsicherheit klar, aber ein kleiner Teil dieser Gesellschaft ist damit so überfordert, dass er nach strengen, klaren Regeln sucht. Ein junger Radikaler hat mir erst gestern erzählt, dass er sehr zufrieden und glücklich damit war, dass er nicht mehr selber entscheiden durfte und musste. Die Ideologie habe ihm eine Alltagsstruktur und eine Orientierung bis hin zu seinem Lebensende gegeben. Wie man lebt, wann man betet, wann man zur Toilette gehen darf, mit wem man Kontakt haben, wem man die Hand geben darf, das ist alles in einer Struktur geregelt und bietet eine Lebensanleitung. Das nimmt die Verantwortung von den Schultern in einer unübersichtlichen Welt und wirkt sehr attraktiv für diese verunsicherten Jugendlichen. Zudem gibt diese islamistische Ideologie den Jugendlichen eine Aufgabe, eine Mission, das Gefühl gebraucht zu werden.

Welche Rolle spielen Gewaltpotenzial und Aggression unter den Jugendlichen?

Mansour: Natürlich gibt es auch Jugendliche, die nach Syrien und in den Irak gehen, um dort ihr Gewaltpotenzial auszuleben. Unter ihnen sind auch unreife, psychisch erkrankte Menschen, die Lust beim Töten empfinden. Aber das ist sozusagen die Spitze des Eisbergs. Viele dieser Jugendlichen suchen einfach nur nach einer Möglichkeit zu rebellieren. Die Islamisten bieten diese Plattform der absoluten Rebellion, durch die die Jugendlichen dann sichtbar werden. Das Gottesbild im Islam und die patriarchalen Strukturen begünstigen die Sehnsucht nach einer starken Vaterfigur.

Wie sieht dieses Gottesbild im Islam aus, das einen derartigen schlechten Einfluss auf die Jugendlichen haben kann?

Mansour: Es ist ein patriarchales Gottesbild. Es zeichnet das Bild eines Gottes, der nicht mit sich diskutieren oder verhandeln lässt. Dieser Gott bestimmt, wo es lang geht und droht mit der Hölle. Dieser Gott kann sehr attraktiv wirken, wenn man als Jugendlicher das Defizit der fehlenden Vaterfigur erlebt hat. Gerade in der zweiten und dritten Generation fehlt die starke Vaterfigur, weil der eigene Vater entweder nie da ist oder schwach ist. Oft verliert der Vater an Autorität, weil er sich nicht in die Gesellschaft integrieren konnte oder gar die Sprache nicht erlernt hat. Da kann dann die Ideologie der Radikalen eine Lücke füllen und eine starke Vaterfigur durch einen starken Gott ersetzen. Das System funktioniert. Hat der Vater den bestrafenden Gott vielleicht sogar selber erschaffen, damit er ihn in seiner Funktion und Erziehung unterstützt?

Liegt in der Religion per se ein Grund, der zur Radikalisierung führen kann?

Mansour: Nein, nicht in der Religion per se, aber im Religionsverständnis. Im Islam gibt es auch den Sufismus und der ist nicht vergleichbar mit den Inhalten islamistischer Glaubensverständnisse. Im Christentum gibt es auch den Glauben an den einen Gott, aber dieser Glaube wird nicht mit Gewalt gegen andere Religionsverständnisse durchgesetzt. Das war aber nicht immer so. Das Religionsverständnis im Christentum hat sich über Jahrhunderte gewandelt, im Islam noch nicht, sodass daraus weiterhin Fundamentalismen entstehen können.

Warum spielen Ehre, Geschlechterrollen und Tabuisierung der Sexualität in der radikalisierten Ideologie des Islam eine derart große Rolle?

Mansour: Die Islamisten nehmen die Inhalte, die schon im Mainstream-Islam vorhanden sind, und überspitzen sie. Ehre ist einer dieser Inhalte, der ideologisch überformt wird. Genauso die Geschlechterrollen und die Beherrschung der Frau, die Tabuisierung der Sexualität, das alles ist schon im Alltagsislam zu Hause. Unter Salafisten ist ein normaler Umgang zwischen Mann und Frau überhaupt nicht möglich. Auch das Thema Körper wird extrem tabuisiert. Wenn Jugendliche nun aus ihrem Alltagsislam kommen und diese Themen schon kennen, können Islamisten unkompliziert daran anknüpfen und stärker radikalisieren. Dann können sie sogar für die Unterdrückung der Frau und den Krieg im Namen der Ehre werben, weil es bei den Jugendlichen schon eine Grundlage dafür gibt.

Sie arbeiten viel in der Präventionsarbeit. Was können und müssen die Moscheegemeinden für eine Deradikalisierung tun?

Mansour: Die Moscheegemeinden sind mittlerweile schon fast mehr Teil des Problems anstatt Teil der Lösung. Eine Moscheegemeinde, die behauptet, dass Radikalisierung kein Problem des Islams ist, weil sie mit dem Islam nichts zu tun habe und dass dies eher ein soziologisches Problem sei, kann nicht zur Lösung beitragen. Ich bin Psychologe, aber das Problem der Radikalisierung ist kein rein soziologisches oder psychologisches Problem. Das greift zu kurz. Es muss auch über das Islamverständnis gesprochen werden, das in den Moscheegemeinden verbreitet wird und damit die Basis für eine Radikalisierung und den Aufbau einer Ideologie schafft. Wenn man eine Angstpädagogik propagiert, darf man sich nicht wundern, wenn eine Gruppe entsteht, die das Heil als Rettung vor der Hölle proklamiert. Die Lösung ist, dass man zu einem Islamverständnis und einem Gottesbild findet, das nicht auf Angst basiert. Wenn in den Moscheegemeinden Antisemitismus und Buchstabenglauben verbreitet werden, die Unterdrückung der Sexualität und des kritischen Denkens gefordert wird, muss es uns nicht wundern, wenn junge Menschen nach Syrien gehen. Die Moscheegemeinden können Teil der Lösung sein, wenn sie bereit sind, dieses veraltete Islamverständnis in Frage zu stellen. Das tun sie bisher aber nicht.

Was müsste die Politik tun, um der religiösen Radikalisierung im Islam entgegenzuwirken?

Mansour: Das ist die andere Seite des Problems, denn die Politik erwartet bisher auch nicht, dass die Imame und Moscheegemeinden ihr Islamverständnis kritisch erneuern. Die Religionsfreiheit ist ein wesentliches Grundrecht, aber was fällt alles unter die Religionsfreiheit? Beschneidung und Zwangsheirat? Ein Beispiel: Es gibt in Deutschland jährlich einige sogenannten Ehrenmorde. In Deutschland gibt es aber keinen einzigen Imam, der öffentlich Ehrenmorde gutheißen würde. Das ist eine gute Entwicklung, aber deswegen sind die Imame nicht automatisch Partner der Politiker, deswegen ziehen sie nicht am selben Strang. Ehrenmorde sind nur die Spitze des Eisberges. Wenn man tiefer blickt, stößt man auf viele Lehren und Inhalte, die Geschlechterrollen proklamieren, mit denen man Ehrenmorde rechtfertigen kann. Wenn wir Themen, wie die Tabuisierung der Sexualität, die Unterdrückung der Frau, die Verhüllung des Körpers und vieles mehr ansprechen, erkennen wir, dass die Imame, die gegen Ehrenmorde sind, noch lange kein Partner unserer demokratischen Politik sind. Und die Politiker sind jenseits des Aktionismus nicht in der Lage, deutlich und kritisch Stellung zu beziehen. Es finden große Demonstrationen und Veranstaltungen gegen Radikalisierung statt. Warum macht man sich keine Gedanken, dass die Imame der veranstaltenden Moscheegemeinde den Bundestagspräsidenten ausgeladen haben, als er sich für die Armenien-Resolution entschieden hat? Warum nicht darüber, dass sich diese Moscheegemeinden oder auch DITIB gegen die türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten gestellt haben? Und warum laufen islamische Organisationen bei mehreren Demonstrationen der rechtsradikalen Türken, den „Grauen Wölfen“ mit? Das geht so nicht. Und es zeigt deutlich die Schwächen in der Politik, das unzureichende Wissen. Wenn Kanzleramtsminister Peter Altmaier fragen muss, ob die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht mit dem Islam zu tun haben oder ob Muslime, die Alkohol trinken, überhaupt noch gute Muslime seien, ist das ein Armutszeugnis, das zeigt, wie wenig Wissen hinter den politischen Entscheidungen steht.

Was würden Sie anders machen, wenn Sie selbst Politiker wären?

Mansour: Ich würde unglaublich viel investieren, um die Schulen auf diese Herausforderung vorzubereiten. Ich würde einen Werteunterricht initiieren und viel mehr über politische Themen sprechen lassen. Ich würde die Lehrer fortbilden, damit sie solche Themen professionell ansprechen und bearbeiten können. Auch würde ich sehr kritisch mit bestimmten Moscheen und Verbänden umgehen, sofern sie sich nicht an bestimmte Grundregeln und Werte halten. Ich würde die Integrationsarbeit, vor allem auch mit den Flüchtlingen professionalisieren. Integrationskurse sollten Integrationskurse sein und nicht nur Sprachunterricht. Ich würde aber auch Forderungen an diese Menschen stellen, die sie erfüllen müssen, wenn sie hier bleiben wollen. Ich würde eine Null-Toleranz-Politik betreiben. Schutz soll jeder bekommen, der hierher kommt, aber das entbindet nicht von bestimmten Pflichten in diesem Land. Wer nach Deutschland kommt und direkt Frauen belästigt oder gar vergewaltigt, hat in diesem Land nichts zu suchen.

Wie sehen Sie vor dem Hintergrund die momentane Flüchtlingspolitik?

Mansour: Es gibt keine flächendeckenden Konzepte. Das ist das Problem. „Wir schaffen das“ ist nur ein Slogan, dahinter steht nichts. Auch das Integrationsgesetz, das jetzt verabschiedet wurde, reicht nicht aus. Es geht nicht ausreichend in die Tiefe. Wir benötigen da viel mehr Professionalität. Es braucht Dialogplattformen, auf denen mit Eltern und Schulen gemeinsam gearbeitet wird. Und vor allem braucht es einheitliche und übereinstimmende Leitlinien und Konzepte, an die sich alle halten müssen. Es muss auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine Wertedebatte geben. Die Werte in Deutschland sollten nicht relativiert oder gar geleugnet werden, sondern man sollte selbstbewusst für sie eintreten, auch in der Flüchtlingspolitik.

Terrorismus ist ein modernes Phänomen, das mit Mitteln der Moderne gegen die Moderne kämpft. Woher kommt dieser Hass auf die Moderne, die demokratischen Werte und die westliche Welt?

Mansour: Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen, weil diese Werte in der arabischen Welt verteufelt werden, in den Moscheen und in den Familien. Meinungsfreiheit, Homosexualität und vieles mehr werden dort verurteilt. Dann brauchen wir uns nicht wundern, dass damit eine Generation aufwächst, die irgendwann einen Hass auf diese Menschen und diese Welt entwickelt. Wenn das dann in Verbindung mit Minderwertigkeitsgefühlen steht und dem Gefühl, dass das eigene Land der Verlierer der globalen Entwicklungen ist, ist Hass die Reaktion. Hinzu kommt eine durchgehende Opfermentalität. Das bemerke ich in meiner Arbeit mit Islamisten und radikalisierten Muslimen immer wieder. Jedes Ereignis in der Welt wird in Bezug zu einem selbst gesetzt und man empfindet sich als das eigentliche Opfer dieser Ereignisse. „Der Moslem ist der bessere Mensch“, „Der Islam soll über die Welt siegen“ – mit derartigen Denkmustern macht man Werteunterschiede zwischen den Menschen. Diese Denkmuster resultieren aber alle aus Minderwertigkeitskomplexen. Diese wiederum entstehen oft durch die Erziehung. Wenn ein junger Mensch keine Individualität ausbilden darf, nicht selbst entscheiden darf, zur Unterdrückung natürlicher Empfindungen aufgefordert wird und das in eine Angst- und Schampädagogik eingebettet wird, entstehen daraus Minderwertigkeitskomplexe.

Wird die Armenien-Resolution die Problematik der Integration verschärfen?

Mansour: Nein, die Resolution hat nur deutlich gemacht, welche Probleme der Integration wir schon seit Jahren in Deutschland haben. Die Resolution hat gezeigt, dass der Schwerpunkt vieler Kritiker nicht in Deutschland liegt, sondern woanders. Sie sind jetzt auf Deutschland wegen der Resolution nicht gut zu sprechen, und das wird öffentlich wahrgenommen. Aber das war auch vorher schon aus unterschiedlichen Gründen so, im Grunde jedes Mal, wenn das Thema Islam in den Medien kritisch angesprochen wird. Wir sollten uns fragen, warum Jugendliche aus der dritten Generation, die vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr in der Türkei sind, ihren Lebensmittelpunkt in der Türkei und nicht in Deutschland sehen.

Der Zentralrat der Juden hatte im letzten Jahr vor importiertem Antisemitismus im Zusammenhang mit den Flüchtlingen gewarnt und wurde dafür scharf kritisiert. Besteht eine Gefahr des wachsenden Antisemitismus in Deutschland?

Mansour: Ist es nicht auch eine Form von Rassismus, dass die jüdische Bevölkerung in Deutschland ihre Ängste nicht vorbringen darf? Antisemitismus ist ein zentrales Problem, das wir in dieser Gesellschaft haben. Es war auch schon ein Problem, bevor die Flüchtlinge kamen. In den Schulen wird das Wort „Jude“ inflationär als Schimpfwort benutzt. Die Pädagogen haben immer öfter Probleme, wenn sie das Thema im Unterricht ansprechen. Auf politischer Ebene wird dieses Problem aber totgeschwiegen, sodass kaum etwas passiert. Warum dürfen antisemitische Gruppierungen, wie die Hisbollhah, bei uns durch die Straßen laufen und antisemitische Parolen rufen? 70 Jahre nach dem Holocaust ist es in Deutschland gefährlich, mit einer israelischen Fahne auf die Fan-Meile zu gehen, weil die Menschen bespuckt und ausgeschimpft werden, sogar von Sicherheitsleuten. Für mich war es schockierend zu sehen, wie viel Hass ich 2014 abbekommen habe, als ich das Thema öffentlich angesprochen habe. Es ist eine Katastrophe, wenn Menschen gegen den Gaza-Krieg auf die Straße gehen und es nur wenige Minuten dauert, bis man die Parole „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ hört. Da gibt es keinen Plan, wie man mit dem Thema in der Gesellschaft umgeht. Mit den Flüchtlingen wird sich an dieser Problematik nichts ändern, außer hinsichtlich der Quantität. Die Qualität ist in Deutschland selber schon da. Es wird aber mehr werden, weil aus Syrien Menschen kommen, die entsprechend sozialisiert sind. Das Assad-Regime hat jahrelang ein jüdisches Feindbild in die Köpfe der Menschen installiert – und damit müssen wir nun umgehen. In dieser Debatte geht es aber nicht nur um die Flüchtlinge, sondern vor allem um unsere Werte in Deutschland. Das Problem des Antisemitismus wird leider weiterhin kleingeredet und deswegen auch gesellschaftlich kaum wahrgenommen.

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