Der Theologe und Psychiater Manfred Lütz im GesprächDie Kirche ist keine Moralanstalt

Franziskus hilft , Blockaden in der katholischen Kirche zu lösen. Natürlich irritiert es auch rechts wie links des Weges, wenn ausgefahrene Geleise verlassen werden. Franziskus ändere nicht die Richtung, aber er ändere die Sicht auf die Kirche, indem er beherzt den Blick auf das Wesentliche des christlichen Glaubens lenke, sagt der Psychiater, Psychotherapeut und Theologe Manfred Lütz. Und im Zentrum des christlichen Glaubens stehe nicht die Moral. Die Fragen stellte Volker Resing.

Sie haben die Kirche einmal als den „blockierten Riesen“ beschrieben. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage unter Papst Franziskus? Lösen sich in der katholischen Kirche gerade Blockaden?

Ich fand immer schon die ewigen rechthaberischen Debatten zwischen so genannten Progressiven und Konservativen in Deutschland gähnend langweilig. Da verteidigten die Konservativen mit Zähnen und Klauen das, was sie für das „Depositum fidei“ erklärten, und die Progressiven stritten wacker für das, was sie für den „Geist des Konzils“ hielten. Dass eigentlich der Heilige Geist persönlich für das Depositum fidei und auch für den Geist des Konzils zuständig ist und dass eine Kirche nur aus Konservativen oder nur aus Progressiven eine Horrorvorstellung wäre, vor allem aber der katholischen Einheit in Vielfalt ermangelte, das war da manchmal völlig aus dem Blick geraten. Und da serviert uns der Heilige Geist Papst Franziskus! Angesichts der Neuigkeiten, die sofort auffielen, habe ich im Fernsehen kommentiert: Jetzt müssen die Ratzingerianer beweisen, dass sie auch wirklich katholisch sind. Von Papst Benedikt selbst weiß ich übrigens, dass er sich theologisch ganz auf der Linie von Franziskus sieht. Aber manche traditionell Papsttreue irritiert jetzt der Stil und auch manche Aussage des Papstes und manche üblicherweise „antirömische“ Katholiken sind plötzlich ganz ultramontan. Ich fand ja immer schon, dass der Heilige Geist Humor hat.

Aber die innerkirchliche Polarisierung hat sich jetzt doch eher zugespitzt oder nicht?

Finde ich eigentlich nicht. In der Renaissance wurde der neue Papst nicht selten von den Gegnern seines Vorgängers gewählt. Das war wichtig für die katholische Weite der Kirche. Ich kenne Menschen, die kamen mit Papst Benedikt aus welchen Gründen auch immer nicht gut klar und sind jetzt von Papst Franziskus begeistert und umgekehrt. Ein Papst ist nicht dazu da, uns dauernd auf die Schulter zu klopfen, sondern er soll uns fruchtbar irritieren. Das hat Benedikt getan, das tut auch Franziskus, nur halt bei anderen.

Kritiker werfen Papst Franziskus vor, an den Grundfesten der Kirche zu rütteln. Zum Beispiel wenn er hier und da geradezu flapsig über kirchenrechtliche Normen spricht. Sind diese Sorgen berechtigt?

Papst Benedikt war vor allem ein brillanter theologischer Lehrer, Papst Franziskus versteht sich eher als engagierter Dorfpfarrer der Weltkirche. Franziskus achtet peinlich darauf, eben nicht theologisch dogmatisch zu reden. Wenn er von Journalisten da in die Enge getrieben wird, beendet er das Thema regelmäßig mit Bemerkungen wie: Was denken Sie denn von mir, ich bin katholisch! Ich bin sicher, dass sich Franziskus niemals dogmatisch im engeren Sinn äußern wird.

Aber manche Äußerungen sorgen für heftige Reaktionen...

Natürlich darf man den Papst kritisieren. Päpste reden fast nie unfehlbar. Papst Benedikt hat so oft wie wohl kein Papst vor ihm darauf hingewiesen, dass er nicht unfehlbar rede und um Kritik gebeten. Dass das lateinamerikanische Temperament des jetzigen Papstes auch zu etwas temperamentvolleren Reaktionen führt, halte ich für natürlich.

Ist es dann die richtige Strategie des Papstes, sich in einer sich säkularisierenden Gesellschaft „weicher“ und „barmherziger“ vorzustellen? Manche verlangen gerade jetzt das Gegenteil vom Papst, klare Kante.

Dieser Papst ist alles nur nicht weich. Er hat zum Beispiel harte Personalentscheidungen gefällt. Er hat keinerlei Zweifel daran gelassen, dass er bei der Haltung der Kirche zur Abtreibung und bei der Frage nach dem Frauenpriestertum keine Änderungen vornehmen wird. Aber wie schon Papst Benedikt, der übrigens der von ihm am häufigsten zitierte Papst ist, lenkt Franziskus den Blick auf das Wesentliche des christlichen Glaubens, auf den Glauben an den menschgewordenen Gott, an einen Gott, der die Liebe ist, der barmherzig ist. Dass das Christentum das Mitleid erfunden hat, das wissen viele Christen ja selbst nicht mehr. Gregor Gysi hat einmal gesagt, er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne, Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Mit dem Stichwort Barmherzigkeit zielt Franziskus in die Mitte unserer gesellschaftlichen Debatten, die wir mit unserem innerkirchlichen Hickhack über irgendwelche Details oft gar nicht mehr erreicht haben.

An welche Details denken Sie?

Zum Beispiel an die unselige Beratungsscheindebatte. Da wurde zuweilen von beiden Seiten hemmungslos aufeinander eingedroschen. Dabei ging es eigentlich um eine ziemlich komplizierte Frage aus dem moraltheologischen Seminar, bei der vernünftige Menschen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen konnten. Die Öffentlichkeit hat aus solchen lärmenden Debatten den Eindruck gewonnen, die katholische Kirche sei eine Anstalt zur Verhinderung sexueller Freude und Katholiken täten nichts lieber als sich zu Moral, Sexualität und Abtreibung wüste Schlachten zu liefern. In Wahrheit ist die katholische Kirche aber keine Moralanstalt, sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die an die Menschwerdung eines liebenden Gottes glauben.

Diese Fragen betreffen die Leute doch persönlich und konkret und sie wollen wissen, was die Kirche dazu sagt.

Das glaube ich nicht. Ich kenne niemanden, der sich zur Regelung seines Sexualtriebs erst mal an die katholische Kirche wendet. In Wirklichkeit ist das Problem der Kirche nicht die Kirchensteuer, nicht die Sexualmoral, nicht der Zölibat, nicht das Frauenpriestertum. Das Problem der Kirche, beider Kirchen ist: Die Leute glauben nicht mehr an Gott! Und wenn Gott nicht existiert, dann ist die Kirche natürlich ein gigantisches Kasperletheater. Anstatt der üblichen Kirchendebatten müssten Konservative und Progressive ihren Glauben an den menschgewordenen Gott mutig bekennen. Dieser Papst liefert uns da eine große Chance, denn durch seine große Popularität weit über Kirchenkreise hinaus sind viele Menschen wieder an Glaubensfragen interessiert. Diese Evangelisierungschance wird im behäbigen deutschen Katholizismus aber nach meinem Eindruck noch viel zu wenig wahrgenommen.

Bei der zurückliegenden Familiensynode standen aber gerade auch Fragen der Ehe- und Familienpastoral und der Morallehre im Zentrum. Zu dieser Debatte hatte ja Papst Franziskus eingeladen.

Weil er auf die Menschen am Rande der Gesellschaft, auf Menschen in Not und in Krisensituationen zugehen will. Schon Kardinal Ratzinger hatte darauf hingewiesen, dass die Kirche sich zu wenig um wiederverheiratete Geschiedene kümmere. Ich habe selbst erlebt, wie dadurch in manchen Familien eine ganze Glaubenstradition abbrach. Außerdem war die Sache ja gar nicht so kompliziert. Es war doch von vorneherein klar, wie die Synode zur Frage der wiederverheirateten Geschiedenen ausgehen würde. Ich bin sicher, dass der Papst demnächst erklären wird, dass es kein generelles Verbot des Sakramentenempfangs für wiederverheiratete Geschiedene geben wird und auch keine generelle Zulassung. Jeder Einzelfall muss mit dem Beichtvater geklärt werden. Das ist ja auch ganz logisch. Denn der standesamtliche Zettel sagt an sich noch gar nichts. Es gibt wiederverheiratete Geschiedene, die in Josefsehe leben und die dann natürlich ganz problemlos zu den Sakramenten gehen können und es gibt Eheleute, die überhaupt nicht wiederverheiratet sind, aber in ihrer Ehe fremdgehen und das auch ohne Bedenken weiter tun wollen. Die sind jetzt schon nicht zu den Sakramenten zugelassen, weil ihnen für die Beichte Reue und Vorsatz fehlt.

Aber das ist ja gerade die Sorge vieler Konservativer, genau das wollen sie nicht und sehen es als Relativismus an.

Das stimmt nicht. Ich habe mit führenden „Konservativen“ darüber gesprochen, die sehen das genauso. Gerade wenn man traditionsbewusst ist, dann ist es doch ein Witz, dass sich jetzt die Katholiken über einen standesamtlichen Zettel in die Haare bekommen, den ihnen einst der Katholikenfresser Bismarck gegen ihren heftigen Widerstand aufgenötigt hat. Und was dieser Zettel für die einzelne Partnerschaft moralisch bedeutet, das kann so unglaublich unterschiedlich sein, dass man es mit einer generellen Regelung eben nicht fassen kann. Im Übrigen ist die Kirche auch früher immer pastoral, also einzelfallbezogen, mit solchen Umständen umgegangen. Man kann davon ausgehen, dass der päpstliche Nuntius dem allerchristlichsten König Ludwig XV. von Frankreich, der ja in gewissem Sinne wiederverheiratet geschieden war, nicht die Sakramente verweigert hat, obwohl der eine öffentlich bekannte Geliebte, Madame de Pompadour, hatte. Ohnehin galt die katholische Kirche in Fragen der Sexualmoral eher als zu lax im Kontrast zur protestantisch-bürgerlichen Rechtschaffenheit.

Die Fragen der Sexualmoral sind also ein Missverständnis?

Nein, aber das sechste Gebot ist eben nicht das erste Gebot. Und man muss aufpassen, dass man den Ausschluss der wiederverheiratet Geschiedenen nicht für ein Dogma hält.

Was bedeutet das aber nun für uns heute und die wiederverheiratet Geschiedenen?

Dass wir die Situation von wiederverheiratet Geschiedenen individueller sehen müssen und dass wir, auch im Sinne von Kardinal Ratzinger, mit ihnen pastoral einladender umgehen müssen. Niemand kann von außen wissen, wie es moralisch wirklich in dieser Ehe zugeht.

Ist die Josefsehe eine angemessene Antwort? Die eigentliche Debatte bei den wiederverheirateten Geschiedenen dreht sich dann doch um die Sexualmoral. Es geht dann einzig und allein um den Akt?

Natürlich nicht. Das einzige, was die Kirche, was der Beichtvater doch tun kann, ist, jemandem ins Gewissen zu reden und der muss dann selbst entscheiden, was er tut. Und wenn er sich dann irgendwo die Kommunion holt, dann wird ihn die Schweizergarde nicht daran hindern. Bei uns wurde die Angelegenheit mit den wiederverheirateten Geschiedenen ja vor allem wegen der möglichen arbeitsrechtlichen Konsequenzen bei kirchlichen Arbeitgebern brisant. Das hat zu viel produzierter Heuchelei geführt und ich bin froh, dass die Bischofskonferenz da kürzlich einen Schritt in die richtige Richtung gemacht hat.

Doch bleibt die Frage, wie im Lichte der Tradition katholische Lehre zu verstehen ist, wenn sie eben nicht so streng gehandhabt werden soll?

Wer sagt denn, dass es bei individuellen pastoralen Lösungen nicht auch „streng“ zugehen kann? Wenn ein Mann seine Frau mit fünf Kindern allein lässt und mit der Sekretärin durchbrennt, dann wird der Beichtvater mutmaßlich ziemlich streng sein, nehme ich an.

In die katholische Tradition hat sich nun offenbar – zumindest seit dem 19. Jahrhundert – eine gewisse Sexualfeindlichkeit eingeschlichen. Was muss sich da ändern?

Dass die katholische Kirche sexualfeindlich sei, ist ein Mythos. Gerade die Sexualfeinde wurden immer wieder aus der Großkirche ausgeschlossen, schon in der Antike, die Montanisten, Enkratiten, Manichäer. Aber Sie sagen zu recht, dass die katholische Kirche sich im 19. Jahrhundert an einen leibfeindlichen protestantisch-bürgerlichen Zeitgeist angepasst hat. Das ist ihr nicht gut bekommen. Manchmal kann es nützlich sein, sich in der kirchlichen Tradition Ideen für die Lösung von aktuellen pastoralen Problemen zu holen. So ist bekanntlich die so genannte kirchliche Trauung erst auf dem Tridentinum eingeführt worden, um die klandestinen Ehen zu verhindern, die die Herrschaftsverhältnisse in bestimmten Territorien unklar ließen. Das war damals sinnvoll. Heute ziehen bisweilen junge Leute zusammen, die sich lieben und bis der Tod sie scheidet treu zusammenleben wollen, aber den bürgerlichen Klimbim mit der Trauung nicht wollen, da sie meinen, die Ehe sei zunächst mal eine Sache zwischen zwei Menschen. Damit haben sie genau die katholische Eheauffassung. Könnte es da nicht vielleicht hilfreich sein, auf vortridentinische Üblichkeiten zurückzugreifen?

Verstellt die Debatte um das Kondomverbot nicht möglicherweise den Blick auf den eigentlichen Kern: nämlich verantwortete Sexualität?

Jürgen Habermas fordert rettende Übersetzungen der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, Navid Kermani begeistert die Sinnlichkeit des Katholizismus und wir reden mal wieder ziemlich lange über Sexualfragen. Das Leben findet doch nicht nur im Schlafzimmer statt. Papst Franziskus hat in drei Jahren noch nichts über Kondome gesagt, ich glaube absichtlich. Auch Papst Benedikt hat auf dem Weltjugendtag in Köln keinen einzigen Satz über Sexualmoral gesagt, er hat über den Glauben an Gott geredet. Kennen Sie irgendjemanden, der das Kondom nicht verwendet, weil es die Kirche untersagt, was sie ja übrigens pauschal gar nicht tut?

Wir müssen uns der Gottesfrage zuwenden, doch kann es nicht sein, dass die Fixierung auf das Moralische und das Sexuelle auch durch Fehler der Kirche selbst entstanden ist?

Ich finde es immer etwas billig, wenn Katholiken sich donnernd an die Brust früherer Jahrhunderte oder anderer Katholiken schlagen. Also ehrliche Antwort: Ich glaube nicht. Es gibt kein einziges Dogma zur Sexualmoral, aber es gibt gute sozialpsychologische Gründe, warum die Gesellschaft eine protestable sexualverbietende Institution braucht. Dem gehen allerdings einige etwas naive Katholiken auf den Leim, indem sie die katholische Kirche genauso sexualverbietend darstellen, wie die Gesellschaft es gerne hätte. Demgegenüber hat schon Papst Benedikt in seiner Antrittspredigt davor gewarnt, den Menschen bloß eine Kirche mit Verbotstafeln zu präsentieren. Allerdings hat es nach der Enzyklika „Humanae vitae“ 1968 eine ungute Entwicklung gegeben. Die hatte aber nicht so sehr mit Sexualität zu tun, sondern mit einer katholischen Identitätskrise. Wer gegen „Humanae vitae“ war, verstand sich als progressiv, modern, liberal, antirömisch oder er wurde von anderen in eine solche Schublade geschoben. Wer für „Humanae vitae“ war, der galt als konservativ, romhörig, karriereorientiert, veraltet oder er wurde von anderen in eine solche Schublade gesteckt. Im Rahmen einer symmetrischen Eskalation haben sich die beiden Parteien mit den Jahren hochgeschaukelt und sich zunehmend darüber identifiziert. Bei der Besetzung von Hochschullehrstühlen wurde die eine Partei bevorzugt, bei der Besetzung von Bischofsstühlen die andere. Die Frage war also kirchenpolitisch hochbrisant. Doch in Wirklichkeit war sie praktisch längst unbedeutend, weil sich kaum jemand mehr nach der katholischen Sexualmoral richtete. Aber sie trug Schuld daran, dass die Kirche öffentlich als sexualfixiert wahrgenommen wurde.

Der Kern sei die Gottesfrage, nicht die Moral, sagen Sie. Beides hängt doch zusammen?

Warum soll ich gut sein, wenn es keinen Gott gibt, hat Max Horkheimer am Ende seines Lebens gefragt. Natürlich teile ich die Auffassung Kants, dass jeder Mensch vom Kern seiner Existenz her weiß, dass er gut sein soll. Aber schon Kant hat darauf hingewiesen, dass ohne den Glauben an Gott die Moralität des Menschen ganz unvernünftig wäre. Wir müssen wieder mehr über Gott reden, sonst hängen all die geschäftigen Kirchendebatten in der Luft. Jeder Katholik sollte in der Lage sein, seiner atheistischen Nachbarin argumentativ standzuhalten, wenn er mit ihr über seinen Glauben an Gott redet.

Wie ist es zu diesem Verlust an Gottesrede gekommen? Was ist verloren gegangen?

Zum Beispiel die Sprache. Theologendeutsch ist unverkäuflich, sagten mir Buchhändler, als ich mich anschickte mein Buch „Gott – Eine kleine Geschichte des Größten“ zu schreiben. Wenn ich einen Bestseller schreiben wolle, dann sollte ich besser über Engel schreiben. Doch ich hatte den Ehrgeiz, allgemeinverständlich und unterhaltsam alle Argumente für den lieben Gott zwischen zwei Buchdeckel zu bekommen. Und das funktionierte, sogar sehr gut, sogar bei Vorträgen im Kabarett. Nur nicht in der Kirche. Bei einem gut besuchten Vortrag in der Münchner theologischen Fakultät meinten einige Professoren, das sei zu missionarisch und die Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ lobte das Buch, meinte aber, der Autor schwäche seine Argumentation, weil er sich am Ende zum christlichen Glauben bekenne.

In Ihrem neuen Buch „Wie Sie unvermeidlich glücklich werden“ beschreiben Sie die Frage des Glaubensverlustes als zentrales Phänomen unserer Zeit. Bei allem Beschwören der Gottesrede schwindet die Plausibilität vom Glauben in der Moderne geradezu „unvermeidlich“?

Das Buch ist sozusagen ein Anti-Ratgeber gegen den ganzen Glücksratgebertsunami, wo irgendein Glücksguru beschreibt, wie er persönlich glücklich wurde und den Leser dann unglücklich zurücklässt, weil der nun mal nicht der Autor ist. All dieser Plastiksinn, diese Plastikreligionen füllen das Vakuum, das der christliche Glaube bei uns zurückgelassen hat, aber sie geben keine ernsthafte Orientierung. Es ist zur Zeit viel von Integration die Rede, aber wohinein wollen wir denn die Flüchtlinge integrieren, wenn wir von den christlichen Wurzeln unserer Zivilisation absehen? Und was soll man einem jungen Mann eigentlich als Alternative anbieten, der zum IS nach Syrien fliegen will? Soll man ihm raten, mal anständig shoppen zu gehen oder sich bei der Giordano-Bruno-Stiftung lustige Geschichten vom Spaghettimonster anzuhören?

Wird man als Christ unvermeidlich glücklich?

C. S. Lewis hat gesagt, er sei nicht Christ geworden, um glücklich zu werden, er habe immer schon gewusst, dass eine Flasche Portwein das besser erledigen könne. Ich finde es immer unfreiwillig komisch, wenn in der journalistischen Saure-Gurken-Zeit im Sommer Berichte in Kirchenzeitungen erscheinen, dass Menschen, die beten, älter werden als Leute, die nicht beten. Wer Christ wird, um dadurch auf dieser Welt ein besseres Leben zu haben, hat etwas Entscheidendes falsch verstanden.

Wie werden wir also unvermeidlich glücklich?

Karl Jaspers hat gesagt, dass die Grenzsituationen menschlicher Existenz, also Leiden, Schuld, Kampf und Tod unvermeidlich sind. Wenn man also zeigen könnte, wie man in diesen unvermeidlichen Situationen glücklich sein kann, dann kann man unvermeidlich glücklich sein. Und davon erzählt das Buch. Da war meine Begegnung mit Jehuda Bacon, einem Auschwitzüberlebenden, der sagte, man könne auch im Leiden einen Sinn erleben, dann nämlich, wenn man so tief erschüttert ist, dass man erlebt, dass jeder Mensch ist wie man selbst. Da ist aber auch das felix culpa des Christentums. Vor allem ist Glück kein Egotrip. Unser Dorf ist glücklicher, seit wir Flüchtlinge haben, denn viele Menschen, die sonst nur für sich allein gelebt haben, geben jetzt Deutschkurse, begleiten Familien zum Arzt. Menschen in Not zu helfen, das erlebt man als in sich sinnvoll und das macht glücklich.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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