Was sich ändern muss – ein ZwischenrufAuch Christen flüchten von der arabischen Halbinsel

Zu den Flüchtlingen von der arabischen Halbinsel gehören auch viele Christen. Was ist ihre Perspektive auf die aktuellen Diskussionen in Deutschland? Und was wäre von den Erfahrungen aus der Flüchtlingsarbeit der vergangenen Jahrzehnte mit Blick auf die Integration aller Flüchtlinge zu lernen?

Flüchtlinge im September 2015 an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich.
© KNA-Bild

Im Jahr 2006 lag die Zahl der Erst­anträge auf Asyl in Deutschland insgesamt bei 19 000 – so viel wie im vergangenen Herbst teilweise an einem einzigen Tag nach Bayern über die Grenze kamen. Angesichts der Belagerung der nordsyrischen Kurdenstadt Kobane flohen bis zu 250 000 Menschen 2015 täglich über die Grenze in die unmittelbar benachbarte Türkei – unter den Augen des türkischen Militärs, das eher gelangweilt der Belagerung durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und dem verzweifelten Abwehrkampf der Kurden zusah; eine schon – für die ganze Welt sichtbar – bizarre Situation, die pars pro toto für die ganze Region steht. Letztlich ist sie aber weder überraschend noch neu.

Es sei daran erinnert, dass in der Folge des von Amerika initiierten Einmarschs in den Irak schon in den Jahren 2005 bis 2007 etwa 2,5 Millionen Iraker in die Nachbarstaaten, insbesondere in den Libanon, nach Syrien und nach Jordanien, geflüchtet waren. Dass religiöse Minderheiten wie die Christen, Mandäer und Jesiden besonders betroffen waren, gehört zum Gesamtbild: Von ehemals etwa 900 000 Christen leben nach Schätzungen heute etwa noch zwischen 300 000 und 400 000 im Irak. Der erhöhte Vertreibungsdruck gegenüber diesen Minderheiten begründet sich allerdings auch darin, dass sie ihre durch den damaligen Machthaber garantierte Stellung in Gesellschaft, Politik und Verwaltung verloren haben.

Und als die IS weite Teile der christlich besiedelten Ninive-Ebene einnahm und die Christen (und weiter nördlich die seit Jahrtausenden dort ansässigen Jesiden) komplett vertrieben wurden, war ein neues Kapitel in der zweitausendjährigen Geschichte dieser ältesten Kirche der Christenheit (der mit Rom unierten Chaldäer) aufgeschlagen. Es war im Juni des vergangenen Jahres, dass in Mossul erstmals seit 1600 Jahren sonntags keine Eucharistie mehr stattfinden konnte.

Seitdem ist das Vertrauen besonders dieser Bevölkerungsgruppe in eine Zukunft in der angestammten Heimat verloren gegangen, einhergehend mit einem Vertrauensverlust gegenüber dem „christlichen“ Westen, der die Terroristen des IS viel zu lange gewähren ließ und zusah, wie Rohöl aus 150 vom IS kontrollierten Förderstellen in Zakho (Kurdistan) „gewaschen“ und anschließend über türkische Fernstraßen für alle sichtbar überwiegend zum Mittelmeerhafen Ceyhan transportiert wurde, um dort nicht zuletzt auch an westliche Abnehmer verkauft zu werden. Also keine Aussicht auf Rückkehr in absehbarer Zeit.

Fehlende Versorgung

Wer sich fragt, warum sich die Flüchtlingszahlen, insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2015, drastisch erhöht haben, stößt auf einen weiteren Effekt, der – weil schon länger bekannt – durchaus vermeidbar gewesen wäre: Weil dem Welternährungsprogramm für die Versorgung der Flüchtlinge im Nahen Osten 7 Milliarden Dollar gefehlt hatten, musste die monatliche Zahlung pro Flüchtling von ursprünglich 31 auf 9 Dollar reduziert werden. Dies und die unverändert schwierige Lager-Situation ohne konkrete Rückkehrperspektiven trieb die Menschen in die Flucht Richtung Westen. Genug Zeit war schon verloren. Und wer in einem US-amerikanischen oder kanadischen Immigrationsprogramm Aufnahme gefunden hatte, war schon längst „über alle Berge“.

Es ist klar, dass die Flüchtlingsfrage und deren Bewältigung nicht nur eine Zerreissprobe für Europa und insbesondere die EU darstellt: Wenn schon der britische Premier im vergangenen Herbst seine Bereitschaft bekundet hat, 20 000 syrische Flüchtlinge verteilt auf fünf Jahre (!) aufzunehmen, sollte der moralische Finger nicht vorschnell und ausschließlich auf die östlichen EU-Mitgliedstaaten gerichtet werden. Wobei die dezidierte Abwehrhaltung einzelner polnischer oder tschechischer Bischöfe gegenüber nichtchristlichen Flüchtlingen in diametralem Widerspruch zur Position ihrer westlichen Amtsbrüder steht. Vielleicht muss hier die katholische Kirche vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses und der klaren Äußerungen des Papstes – gerade auch öffentlich – eine Diskussion führen, die einen Beitrag zu einer neuen Besinnung auf diejenigen Werte leistet, die insbesondere das Nachkriegs-Europa ausmachen.

In vielen Gesprächen mit aus dem Irak und Syrien geflüchteten Christen erlebe ich häufig eine große Enttäuschung gegenüber unserer westlichen, vom Christentum geprägten Gesellschaft. Immer wieder vorgebrachtes Argument: „Ihr rollt den Muslimen, die uns verdrängt haben, den roten Teppich aus. Und wir können Euch Dutzende von Fällen benennen, in denen wir – und besonders unsere Frauen – bereits in den Sammelunterkünften von muslimischen Clans unter Druck gesetzt werden“. Die vom Gedanken der Religionsfreiheit und allgemeinen Menschenwürde geprägte Haltung gegenüber eingewanderten Muslimen wird von vielen als Schwäche interpretiert, insbesondere von denen, die sich zur Stabilisierung ihrer Identität auf ein mehr als schlichtes und auf Äußerlichkeiten fixiertes religiöses Gebäude festlegen.

Echte Teilhabe

Unsere Gesellschaft hat im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft hier von importierten Konflikten und mitgebrachten Bildern und Zuschreibungen auszugehen, die uns im Zusammenleben mit mehr als vier Millionen Muslimen bislang weitgehend fremd waren. Einzige Konsequenz: So viele Flüchtlinge so schnell wie irgend vertretbar in unsere sozialen und gesellschaftlichen Prozesse einbinden und intensiv mit den Communities genau über die Bewältigung des Mitgebrachten kommunizieren.

Es ist – im Gegensatz zu manchen kirchlichen Verlautbarungen aus unseren östlichen Nachbarstaaten – völlig unstreitig, dass die Kirchen hier im Land ihre Unterstützung allen Hilfsbedürftigen, unabhängig von Religion und Herkunft, zukommen lassen. Dass dies in die gegenwärtige politische Diskussion hinein auch deutlich vertreten wird (der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz wendet sich entschieden gegen die Festlegung von „Obergrenzen“ bei der Flüchtlingsaufnahme), wird auch von Nicht-Mitgliedern wahrgenommen.

Viele von ihnen sind auch in kirchlich initiierten Helferkreisen engagiert und erfahren hier Kirche neu. Ob sich aus dem grundsätzlichen Gleichheitsgedanken jedoch ableiten lässt, es dürfe in der Flüchtlingsunterbringung keine Separierungen beziehungsweise Homogenisierungen geben, ist mehr als fraglich. Klar ist, dass hieraus keine Bevorzugungen beziehungsweise Benachteiligungen einzelner Gruppen resultieren dürfen, sondern der Aspekt der Konfliktminimierung und Integrationsbeschleunigung im Vordergrund stehen muss.

Eine andere Frage ist jedoch die pastorale Begleitung der christlichen Flüchtlinge mit einem zu schaffenden Rahmen, der ihren Prägungen, ihrer Herkunft und ihrer religiösen Tradition und Spiritualität angemessen ist. Dabei geht es gerade nicht um eine neue Etablierung von Parallelstrukturen mit dem Ergebnis von Parallelgesellschaften.

Ebenso unangemessen wäre ein Integrationsverständnis nach der Devise: „Wer in unsere Gemeinden kommt, ist willkommen.“ Das hat schon in der „Gastarbeiter“-Pastoral der vergangenen Jahrzehnte nicht wirklich und umfassend funktioniert. Von echter Teilhabe (bis hin zur Repräsentanz in den entsprechenden Gremien und Funktionen) kann auch 60 Jahre nach dem ersten Anwerbevertrag mit Italien nicht die Rede sein. Das ekklesiologische Prinzip der Einheit in der Vielfalt ist noch nicht alltägliche kirchliche Realität geworden.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Stuttgarter Katholizismus resultiert zu weit mehr als 50 Prozent aus Zuwanderungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Heimatvertriebene, ausländische Arbeitnehmer und in den letzten 20 Jahren spürbar auch Flüchtlinge, ohne dass sich diese gemeinsame Zuwanderungsgeschichte (bei allen Unterschieden) bislang zu einem identitätsstiftenden Element entwickelt hat.

Worum geht es derzeit also vorrangig? Startbedingungen zu schaffen, die zunächst einen Raum für die Wertschätzung der mitgebrachten reichhaltigen religiösen Traditionen zur Verfügung stellen, aus dem heraus sowohl die Selbsthilfekräfte als auch die Partizipation an unserer Kirche und Gesellschaft gefördert werden und dadurch Beheimatung stattfinden kann. Durch die frühe kirchliche Förderung von Netzwerken kann ein Einstieg in die Aufnahmegesellschaft erheblich erleichtert werden.

Gut qualifizierte Flüchtlinge?

Es gehört zu den Allgemeinplätzen im Integrationsgeschehen, dass Selbsthilfekräfte in der Community die ersten Orientierungsprozesse (Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohnungsmarkt, Gesundheitswesen) erheblich verkürzen können. Aus diesem Grunde sollte die Kirche weiterhin Räume schaffen, bereitstellen und mit ihren vielfältigen Möglichkeiten die Prozesse der Community-Bildung begleiten – nicht, um Parallelgesellschaften zu fördern, sondern um Menschen mit all ihren Befremdungen und Verletzungen dort abzuholen, wo sie sind, und mit dem klaren Ziel einer dauerhaften und nachhaltigen Identifikation mit unserem Gemeinwesen durch Teilhabe an allen Vollzügen unserer Gesellschaft.

In den zurückliegenden Monaten war in den Medien immer wieder von gut qualifizierten Flüchtlingen insbesondere aus Syrien und aus dem Irak die Rede. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sind zwei Drittel im erwerbsfähigen Alter. Sie treffen auf einen Arbeitsmarkt, der nach wie vor dringend auf Fachkräfte angewiesen ist. Während die Frist zur Arbeitsaufnahme auf drei Monate verkürzt und die Teilnahme an Sprachkursen inzwischen bereits vor einer Anerkennungsentscheidung im Asylverfahren möglich ist, fehlt es weitgehend an einer konsequenten Orientierungsphase mit Beratung und Begleitung während der Wartezeit, sowohl in sprachlicher als auch in beruflicher Hinsicht. Die Eruierung von Ausbildungsstand, Arbeitserfahrungen, Berufsperspektiven und daraus resultierend Konzepten von Anpassungsqualifikationen sind das Gebot der Stunde.

Wer in Bagdad oder Damaskus einen gut dotierten Posten in der staatlichen Administration innehatte, kann damit hier zunächst überhaupt nichts anfangen. Aber erste Initiativen von Führungskräften aus Wirtschaft und Verwaltung, wie beispielsweise im Bereich des Stuttgarter Stadtdekanates, interessierten Mitgliedern der chaldäisch-katholischen Gemeinde Starthilfe und Begleitung anzubieten, sind außerordentlich hoch einzuschätzen: Hier werden potenzielle Hoffnungsträger gefördert, die nicht nur Starterleichterungen direkt für die Betroffenen leisten können, sondern – was derzeit mindestens genau so wichtig ist – strukturelle Hindernisse ausfindig machen, für deren Beseitigung sie sich im Rahmen ihrer Anwaltsfunktion einsetzen können.

Nur einige Beispiele hierzu: Eine junge Chaldäerin aus dem Irak, selbst vor 6 Jahren im Rahmen des Irak-Kontingents mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen, konnte von der Stuttgarter Caritas für eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin im Rahmen des Dualen Systems gewonnen werden. Da sie aber lediglich die Fachhochschulreife in Deutschland erworben hat und die Duale Hochschule die allgemeine Hochschulreife verlangt, musste sie eine Aufnahmeprüfung ablegen, die sie zweimal wegen des Fachs Mathematik nicht bestanden hat. In allen anderen Fächern war sie erfolgreich – besonders in denen mit Relevanz für ihr Arbeitsfeld. Die Caritas will sie nach den ersten Wochen praktischer Arbeit als einzige arabisch-sprechende Mitarbeiterin nicht mehr missen.

Ein zweiter Fall: Ein junger syrischer Chirurg, vor drei Jahren nach Amman geflüchtet, bemüht sich seit über einem Jahr um eine Berufsanerkennung in Baden-Württemberg als Voraussetzung für eine Visumserteilung. Wenn er über Schlepper illegal eingereist wäre, hätte er als Syrer schon lange einen Status und nicht nur die Möglichkeit, in einer der Erstaufnahmeeinrichtungen zu praktizieren, sondern wäre bei einem von zwei interessierten kirchlichen Krankenhäusern mit arabischen Patienten inzwischen untergekommen. Mittlerweile hat er einen Aufnahmebescheid nach Kanada, und zwei Jahre Deutschkurse beim Goethe-Institut in Amman sind umsonst, vom dreijährigen Engagement der ihn begleitenden Personen ganz zu schweigen.

Ein dritter Fall: Ein Chaldäer mit einer ehemals eigenen kleinen zahnärztlichen Privatklinik in Damaskus ist am Verzweifeln, weil er die für eine Approbation erforderlichen sprachlichen Voraussetzungen noch nicht vorweisen und die dafür notwendigen Kosten nicht aufbringen kann.

Unterstützung für qualifizierte Quereinsteiger

Welche Signale gehen von diesen wenigen Beispielen hoch motivierter und hoch qualifizierter Menschen in ihre Communities aus? Was bislang fehlt sind möglichst flächendeckende Übergangs- und Einstiegsangebote – insbesondere auch für Studierende.

Im Bereich schulischer Bildung ist zu beobachten, dass sich die kirchlichen Privatschulen auf eine ihrer ursprünglichen Kernaufgaben – Benachteiligungen zu lindern beziehungsweise abzubauen – besinnen und gezielt Überlegungen zur Aufnahme von Flüchtlingskindern anstellen. Im Hinblick auf jugendliche „Quereinsteiger“ mit gymnasialem Hintergrund wäre ernsthaft das in Vergessenheit geratene Konzept der Spätaussiedler-Internate neu zu bedenken: Damals bestand der Anspruch, für diese auf Dauer eingewanderte Migrantengruppe ohne Kenntnisse der deutschen Sprache (und vielfach auch des lateinischen Alphabets) innerhalb eines Jahres Anschlussfähigkeit ans hiesige Schulsystem herzustellen.

Dieses seinerzeit sehr erfolgreiche Konzept wurde im Jahr 1993 nicht wegen Erfolglosigkeit, sondern im Rahmen des sogenannten Asylkompromisses eingestellt. Es würde eine Wiederbelebung verdienen und könnte gleichzeitig auch für Quereinsteiger hilfreich sein, die in fortgeschrittenem Schulbesuchsalter im Rahmen der EU-Freizügigkeit in unser Land kommen.

Unstrittig ist schließlich die existenzielle Bedeutung der Familie zur Überwindung traumatischer Erlebnisse ebenso wie für den Neuanfang in einer zunächst fremden Gesellschaft. Um so mehr muss es nachdenklich stimmen, wenn ein Antrag auf Familiennachzug einer jesidischen Frau mit vier inzwischen kranken Kleinkindern (aufgrund des Lageraufenthaltes in den Bergen Kurdistans) zu ihrem hier als Flüchtling anerkannten Ehemann in einem Schreiben des Auswärtigen Amtes aufgrund personeller Engpässe im Generalkonsulat Erbil nicht gestellt werden konnte und die Ehefrau (sie war vor den IS-Horden mit den Kindern durch das Sindschar-Gebirge geflohen) auf eine Antragstellung in der deutschen Botschaft in Ankara (Wartezeit damals ein Jahr!) verwiesen wird. Kein Einzelfall. Aber ein starker Widerspruch zu den Bekundungen, den Schleppern das Handwerk legen zu wollen. Wer, wenn nicht Familien mit Kleinkindern, sind auf eine möglichst zeitnahe Einlösung des immerhin grundrechtlich verbürgten Guts der Familieneinheit angewiesen?

Was wird aus den Alten? Im Gespräch mit chaldäischen Flüchtlingen ist das Thema der in Jordanien, dem Libanon, der Türkei oder sonstwo zurückgelassenen Eltern emotional hoch belastet und teilweise mit massiven Schuldgefühlen begleitet: Familiennachzug zu den hierher geflüchteten Kindern ist faktisch und rechtlich unmöglich, eine Rückkehr in die Heimat kommt aus derzeitiger Sicht nicht in Frage. Es scheint für diesen in den genannten Ländern geduldeten Personenkreis keine dauerhafte soziale und gesundheitliche (geschweige denn altersgerechte) Versorgung von Staatswegen in Aussicht zu sein.

Der Libanon und Jordanien sind aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen schon jetzt völlig überfordert. Um hier mittelfristig emotional und auch materiell Druck von den hier in der Existenzgründung stehenden Flüchtlingsfamilien zu nehmen, wäre baldmöglichst an die Errichtung von Alten(pflege)-einrichtungen in den Aufnahmestaaten zu denken, die beispielsweise in Kooperation mit den chaldäischen Gemeinden hier wie auch dort geplant und realisiert werden könnten.

Unermüdliches Engagement einer Vielzahl von Haupt- und Ehrenamtlichen

Wenn es zutrifft, dass etwa die Hälfte der Flüchtlinge traumatisiert ist: Wer sucht bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen unter den Flüchtlingen nach ehemaligen Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern, kümmert sich um ein privilegiertes und beschleunigtes Sprachkursangebot und entwickelt zeitnah eine staatlich finanzierte und auf die Problemstellung abgestimmte Zusatzqualifikation? Oder sollen hier dauerhaft die deutschen Fachleute im Tandem mit hochbezahlten und -qualifizierten Dolmetschern das Bild bestimmen – und die ehemaligen Psychologen fahren derweil Pakete aus? Auch hier läuft die Zeit davon.

Die unerwartet große Hilfsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung und das unermüdliche Engagement einer Vielzahl von Haupt- und vor allem auch Ehrenamtlichen stellt auch eine Verpflichtung für die Zukunft dar. Diese Menschen, die sich oftmals lediglich mit gutem Willen und Ausdauer für die Begleitung und Unterstützung von Flüchtlingen haben gewinnen lassen, erleben dadurch nicht nur persönliche Bereicherungen: Wer hilft ihnen, die Schilderungen der teilweise erschreckenden Umstände vor und während der Flucht zu verarbeiten?

Wer entwickelt hierfür nachhaltige und dem Ernst des Geschehens angemessene und auf Dauer angelegte Konzepte? Hier sind die Kirchen mit ihren Beratungs- und Hilfesystemen besonders gefragt.

Begrüßenswert ist die jüngste Initiative der Deutschen Bischofskonferenz: Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße wurde zum Flüchtlingsbeauftragten ernannt und lud kurzfristig im November zu einem bundesweiten Flüchtlingsgipfel der katholischen Kirche ein. Das vorgelegte Arbeitspapier war vielversprechend, die Resonanz überwältigend und die Diskussion der verschiedensten Themenfelder intensiv. Wie zu erwarten war, zeigte sich eine große Vielfalt verschiedenster Initiativen, die es verdienen würde gebündelt, systematisiert und mit entsprechender Öffentlichkeitsarbeit ein gesellschaftliches Zeichen zu setzen, was bereits geschieht und wo sich Kirche und Verbände in Zukunft noch gezielter und nachhaltiger am Integrationsprozess beteiligen werden, um die in diesem Umfang bisher nie da gewesene Aufgabe zu bewältigen. Die Zeit wird auch hier allerdings immer knapper.

Die massive Flüchtlingsabwanderung aus dem Nahen Osten war zumindest in wesentlichen Teilen voraussehbar. Konsequenzen wurden und werden allerdings viel zu spät gezogen. Nach wie vor geht zu viel Zeit verloren: im Anerkennungsverfahren, in der Eruierung mitgebrachter Qualifikationen, in Qualifikation und Einsatz zweisprachigen/muttersprachlichen Personals auf allen Ebenen von Verwaltung, Bildung, Gesundheit und Sozialarbeit.

Die Aufnahme von bildungsmotivierten jungen „Quereinsteigern“ ins deutsche gymnasiale System wie auch die beschleunigte Aufnahme in alle relevanten Felder dualer Ausbildung (insbesondere für den öffentlichen Bereich) als Konsequenz einer überwiegenden Bleibeperspektive dieser Menschen in unserem Land ist vordringlich. Die katholische Kirche hat vor dem Hintergrund ihrer politischen Grundoptionen und jahrzehntelanger Erfahrung in der Migrationsarbeit gute Voraussetzungen, hierzu ihren Beitrag zu leisten.

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