Ein Gespräch mit dem Theologen Abdel-Hakim Ourghi über Islam und Terrorismus„Sich dem unangenehmen Thema stellen“

Durch die Terroranschläge von Paris ist die Debatte über das Thema Religion und Gewalt, besonders mit Blick auf den Islam zusätzlich angeheizt worden. Wie können der Islam, die muslimischen Verbände und die islamische Theologie dem offensichtlichen Gewaltpotenzial dieser Religion besser begegnen? Darüber sprachen wir mit dem muslimischen Theologen Abdel-Hakim Ourghi, der den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg leitet. Die Fragen stellte Stefan Orth.

Ein Gespräch mit dem Theologen Abdel-Hakim Ourghi über Islam und Terrorismus: „Sich dem unangenehmen Thema stellen“
Abdel-Hakim Ourghi© Privat

HK: Herr Dr. Ourghi, nach den Anschlägen von Paris wurde zuletzt wieder heftiger über das Verhältnis zwischen Islam und Islamismus diskutiert. Auch wenn man beides unterscheidet und den Islam nicht vom Islamismus her definiert, bleibt die Frage nach den Zusammenhängen. Oder sind Attentäter wie die von Paris lediglich Extremisten, die nichts mit dem Islam zu tun haben und nur als ein Problem der Politik zu betrachten sind?

Ourghi: Der Islam hat mit dem islamistischen Terrorismus zu tun. Auch die Extremisten sind Muslime. Sie beten in Moscheen, erkennen den Koran und die Tradition des Propheten als kanonische Schriften an. Sie begründen ihre Taten mit dem Koran. Alles andere ist eine naive Betrachtung und entspricht einem frommen Wunschdenken, mit dem man sich die Dinge schönredet. Den Terrorismus kann man allerdings auch nicht auf reine Glaubensinhalte reduzieren. Man darf nicht vergessen, dass Terrorismus ein komplexes soziales Phänomen ist.

HK: Der Terrorismus selbst ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Was sind die entscheidenden Impulse aus der Geschichte des Islam, die dazu geführt haben, dass der Islam heute ein Gewaltproblem hat?

Ourghi: Zuerst einmal ist da der Koran – ohne im Text an sich die Hauptursache suchen zu dürfen. Zu unterscheiden ist zwischen den mekkanischen und den medinensischen Suren. Im mekkanischen Koran geht es um moralische Akzentuierung von Religion im siebten Jahrhundert, die universal sinnstiftende Lehren im ethischen Sinne beinhaltet. Dieser Teil des Korans ist zwischen 610 und 622 offenbart worden beziehungsweise entstanden. Dann kam es zur Auswanderung des Propheten von Mekka nach Medina. Hier haben wir den Propheten Mohammed nicht nur als Verkünder einer neuen Religion, sondern auch als Staatsmann eines politischen Gemeinwesens, der nach seinen damaligen zeitlichen und lokalen Maßstäben handelte. Von da an haben wir zahlreiche Koranverse, die nicht nur einfach von der Verteidigung handeln, sondern auch direkt von Angriffen gegen die damaligen heidnischen Araber, andere Nicht-Gläubige und Andersdenkende wie auch gegen die so genannten Schriftbesitzer, die Juden und Christen. Mohammed hat in der mekkanischen Zeit ausdrücklich zum Dialog mit den Schriftbesitzern aufgerufen hat. Ab 624 kam es dann zum Bruch mit den medinensischen Juden, was ein blutiges Nachspiel hatte. Danach hat Mohammed Vertreter anderer Religionen bekämpft.

HK: Wie hat der Ortswechsel von Medina nach Mekka den Propheten und sein Vorgehen verändert?

Ourghi: Einen deutlichen Hinweis darauf gibt es in der Sure 9,29: Die Gläubigen sollen kämpfen gegen diejenigen, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben. Juden und Christen gehören demnach nicht der wahren Religion an. Diese Sure ist ungefähr ein Jahr vor dem Tod des Propheten offenbart worden. Das Handeln von Mohammed kann man aus der historischen Situation heraus verstehen: Gewalt und Stammeskonflikte gehörten zur damaligen Lebenswelt. Darüber hinaus gefährdete die Präsenz anderer Religionsgemeinschaften in Medina die religiösen und politischen Ansprüche der neuen Religion. In der zuletzt entstandenen Sure ist dann von der Bekämpfung aller die Rede, die gegen den Islam sind: Sie sollen umgebracht werden. Auf diese historisch erklärbaren Aufforderungen aus der Spätphase des Propheten angesichts einer aufgeheizten historischen Situation berufen sich die Extremisten. Man kann deshalb nicht so einfach sagen, dass sie keine Muslime seien. Selbstverständlich ist das Phänomen religiös legitimierter Gewalt komplex, es findet jedoch eine Rückkoppelung der Extremisten an diese medinensische Phase statt.

HK: Welche Aspekte kommen aus den weiteren Traditionen islamischer Überlieferung, etwa der Sunna, hinzu, aus denen sich offensichtlich Vorstellungen mit dem Hang zur Gewaltausübung speisen?

Ourghi: Tatsächlich gibt es neben der kanonischen Quelle des Koran auch die Tradition des Propheten mit Aufrufen zum Heiligen Krieg. „Mir wurde befohlen, die Menschen zu bekämpfen, solange sie sich nicht zum Islam bekehren“, soll der Prophet Mohammed gesagt haben. Die dritte Quelle für Gewalttaten ist schließlich die klassische islamische Theologie. Der militante Islamismus beruft sich auf eine theologisch fundierte Theologie, die vor allem bis zum 14. Jahrhundert entstand, es handelt sich dabei allerdings um vormoderne Gesellschaften mit gänzlich anderen Loyalitäten.

HK: Was bedeutet das für Muslime heute in der Auseinandersetzung mit dem Thema Religion und Gewalt innerhalb ihrer Religion? Wie sollten sie dieses Thema angehen?

Ourghi: Das Problem des Extremismus wird jedenfalls nicht gelöst, wenn man behauptet, dass es nicht zum Islam gehört. Muslime, gerade auch hier bei uns in Europa und in den anderen westlichen Kulturen weichen diesen Problemen zu schnell aus. Sie wollen nur ungern darüber sprechen und betonen stattdessen nur den ethischen Aspekt des Islam. Das ist im Prinzip natürlich richtig. Mit Blick auf den Koran reicht es aber nicht aus, über Toleranz, Barmherzigkeit und Liebe im Koran zu sprechen, auch wenn sie dort ganz wichtig und fundamental sind. Wir müssen auch die unangenehmen Aspekte in den kanonischen Quellen kritisieren, um das Klima für eine angemessene Interpretation des Islam zu schaffen. Es geht darum, den Koran als Text zu historisieren, ihn in der damaligen Situation zu verstehen, dann aber auch mit Blick auf heute mit diesem Wissen kritisch umzugehen. Man muss die Koranpassagen, die zur Gewalt aufrufen, erst einmal geschichtlich verorten, sie reflektieren und sich mit der Frage beschäftigen, wie man die daraus erwachsenden Schwierigkeiten lösen kann. Es ist eine zentrale Aufgabe, in einer Kultur des Dialoges auch über sich selbst und seine eigene Geschichte nachzudenken. Das ist dann gerade nicht gegen den Islam gerichtet, sondern eine unabdingbare Vorrausetzung für eine zeitgenössische Reformlektüre jenseits politischer Interessen.

HK: Und das heißt konkret?

Ourghi: Es darf jedenfalls nicht dazu kommen, dass solche Verse ohne Differenzierung bei Predigten in den Moscheen oder anderen Versammlungen von Muslimen zitiert werden. Auch die muslimischen Dachverbände, die die Moscheegemeinden in der Öffentlichkeit vertreten, sprechen sehr ungern über die Problematik. Wir Muslime müssen uns jedoch mit diesem unangenehmen Thema noch viel gründlicher auseinandersetzen. Eine kultur- und religionsgeschichtlich orientierte Gewaltdebatte ermöglicht es, die Gewalt im Frühislam zu benennen, differenzierter wahrzunehmen und besser zu verstehen.

„Man muss sich schon mit der Wirkungsgeschichte dieser Verse auseinandersetzen“

HK: Gerade die muslimischen Verbände wurden zuletzt öfter dafür kritisiert, dass sie sich nur von der Gewalt extremistischer Kreise wie dem IS distanziert haben, das Verhältnis des Islam zur Gewaltanwendung aber nicht offensiver angehen. Was sind die Gründe dafür?

Ourghi: Fragwürdig bleibt daher, ob die hier im Lande agierenden Dachverbände tatsächlich die richtigen Ansprechpartner des Staates sind. Mir scheint, dass sie weit entfernt von der modernen Erschließung eines humanistischen Islams sind. Auch die Frage danach, ob sie eine wissenschaftliche und theologische Redlichkeit vertreten, bleibt zu klären.

HK: Macht man es sich umgekehrt mit einer Historisierung von Koranversen, manchen Aussprüchen des Propheten oder einzelnen Traditionen des Islam nicht auch zu leicht?

Ourghi: Es würde tatsächlich nicht ausreichen, einfach darauf zu verweisen, dass es damals eben so gewesen sei. Man muss sich schon mit der Wirkungsgeschichte dieser Verse und den daraus entstandenen Problemen auseinandersetzen. Muhammad ist 632 gestorben, schon in der ersten Gemeinde des Propheten kam es innerhalb der Gemeinschaft zu Gewalttaten. Der erste Kalif hat ein Massaker an den so genannten Apostaten verübt, nachdem diese behauptet hatten, nach dem Tod von Mohammed gäbe es keinen Islam mehr. Die drei letzten der vier Kalifen wurden von Muslimen hingerichtet. Oft wurde Gewalt im Islam auch später theologisch begründet.

HK: Was erwarten Sie vor dem Hintergrund dieser historischen Verweise konkret von den Verbänden? Auf welcher Ebene sollte, auf welchen Plattformen müsste die Auseinandersetzung geführt werden?

Ourghi: Ich habe Zweifel daran, dass die Verbände in der Lage sind, sich mit der Frage der Gewalt und der Ausprägung eines modernen Islam hier in Deutschland ernsthaft auseinanderzusetzen. Laut Umfragen fühlen sich ja auch nur rund 25 Prozent aller Muslime von ihnen vertreten. Hinzu kommt das Problem, dass sie in der Regel gegenüber den Autoritäten in ihren Herkunftsländern sehr loyal sind. Das gilt besonders für den größten Verband, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, Ditib, die vom türkischen Ministerium für Religionsangelegenheiten Diyanet abhängt. Die deutschen Politiker schauen zu oft nur zu, wie die Zukunft einer Religion ihrer Mitbürger im Ausland entschieden wird.

„Zuletzt haben viele Reformer über Quellen für einen aufgeklärten Islam geredet“

HK: Was wäre denn die Alternative? So wie die Politik die mehr oder weniger hierarchisch verfasste Kirchen als Ansprechpartner schätzen, ohne dass sich mit ihnen immer alle Christen identifizieren können, bietet sich auf muslimischer Seite bisher doch keine bessere Lösung an.

Ourghi: Ich habe Probleme damit, wenn die großen Dachverbände wie die beiden Kirchen in Deutschland behandelt werden. Man müsste von den Muslimen her denken, die hier leben und gegenüber unserem Staat loyal sind, ohne sich über Strukturen zu organisieren, die vom Ausland abhängen. In Deutschland gäbe es genügend solcher Muslime, die einen Rat der Muslime in Deutschland bilden könnten, der dann Ansprechpartner für den Staat wäre.

HK: Und wo sollten die offensichtlich notwendigen Diskussionen unter Muslimen und mit der Mehrheitsgesellschaft darüber hinaus geführt werden?

Ourghi: Die Islamische Theologie beziehungsweise Religionspädagogik, wie sie in Deutschland derzeit aufgebaut werden, können hier einen erheblichen Beitrag leisten. Allerdings muss man auch hier den Mut haben, unerschrocken über die Probleme zu sprechen. Ich erlebe auch hier immer wieder Kollegen, die Angst haben, diesen Schritt zu wagen.

HK: Was sind denn die inhaltlich entscheidenden Ansätze mit Blick auf das Thema Religion und Gewalt, die in der gegenwärtigen Diskussion weiterführen?

Ourghi: Das Thema muss erst einmal wissenschaftlich richtig aufgearbeitet werden. Die enorme Wirkungsgeschichte des politischen Handelns des Propheten von 624 bis zu seinem Tod 632 muss jedoch historisch-kritisch verortet werden. Auch mit Blick auf die Studierenden unseres Fachs ist noch einiges zu tun, weil es auch mit ihnen nicht immer leicht ist, frei zu sprechen. Manche jungen Leute, die in den Moscheegemeinden groß geworden sind, erfahren es als eine Art kulturellen Schock, wenn an der Hochschule offen über den Propheten und seine Vita gesprochen wird. Immerhin hat die zweite, dritte Generation der Muslime in diesem Land mehrheitlich weniger Angst vor Kritik. Viele definieren sich nicht in erster Linie als Angehörige einer bestimmten Rechtsschule, als Sunniten oder Schiiten, sondern wollen in erster Linie Muslime sein. Sie interessieren auch nicht die unterschiedlichen politischen Zugehörigkeiten, sondern der Islam als Religion. Oft aber haben sie vorher genau das Gegenteil von dem gehört, was wir hier vermitteln: etwa den ethischen Sinn des Islams zu betonen, aber auch die direkte Thematisierung der unangenehmen Seiten des Islams, die wir so benennen müssen, wie sie sind.

HK: Wie groß ist das Potenzial der eigenen Tradition für eine reflektierte Sicht der Dinge? Im vermeintlich dunklen Mittelalter gab es doch – nicht zuletzt im Gespräch mit Juden und Christen – eine Blütezeit muslimischer Gelehrsamkeit.

Ourghi: Ab dem achten bis zehnten, elften Jahrhundert, finden sich im Islam bereits jede Menge Ansätze eines aufgeklärten Religionsverständnisses. Es gab die rationale Schule der Mutaziliten. Sie haben sich vehement dagegen ausgesprochen, sich einfach auf die Aussagen des Propheten zu berufen. Statt sich nur auf den koranischen Text zu beziehen, lag ihnen daran, auf der Grundlage der Vernunft über alle Fragen offen reden zu können. Inwiefern der Koran nicht doch auch – von Menschen – geschaffen sein könnte, war da durchaus eine Frage für sie. Über eine solche Frage außerhalb der Zirkel von Intellektuellen zu sprechen, kann heute demgegenüber eine durchaus heikle Sache sein.

HK: Warum ist es aber dann so schwierig geworden, nachdem man bereits vor einem Jahrtausend so weit war? Was waren die entscheidenden Probleme?

Ourghi: Mit dem Mongolenangriff auf Bagdad 1258 ging die Blütezeit des Islams zu Ende. Neben einer gewissen Dekadenz gibt es bis zu den unterschiedlichen Phasen der Kolonialisierung weiter Teile der islamischen Welt eine Menge von weiteren Gründen für diese Entwicklung. Gewiss ist der Islamismus auch das Ergebnis politischen Versagens, von jahrzehntelanger Misswirtschaft und Klientelpolitik in der arabischen Welt. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch in den muslimischen Ländern viel getan, haben viele Reformer über den Niedergang wie auch die Quellen für einen aufgeklärten Islam geredet: angefangen von Nasr Hamid Abu Zaid und Mohammed Arkoun, die freilich später beide in Europa gelehrt haben, bis hin nach Syrien und Tunesien. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es hier in Deutschland mehr Angst gibt, darüber offen und kritisch zu diskutieren als in islamischen Ländern.

HK: Warum sollte das so sein?

Ourghi: Vielleicht weil man noch nicht abschätzen kann, wie die Muslime reagieren werden. Der Mut zur Wahrheit wird vermisst. Aber angesichts der jetzt wieder mit Vehemenz aufgeworfenen Frage, inwieweit der Islam mit Gewalt zu tun hat, wagen jetzt immer mehr diesen Schritt. Wir können damit auch nicht weiter warten.

HK: Die Unterscheidung der verschiedenen geschichtlichen Epochen, dass es unterschiedliche Offenbarungsanlässe gab, ist innerhalb der islamischen Theologie allgemein anerkannt. Was fordern Sie darüber hinaus?

Ourghi: Es geht darum, den Koran als Text zu verstehen. Einerseits impliziert dieser kanonische Text eine identitätsstiftende Erinnerung. Andererseits ist der Korantext Gegenstand nicht abschließbarer Verstehensakte des muslimischen Korandiskurses. Der Koran muss sich immer wieder neu den jeweiligen Realitäten anpassen. Man kann nicht einfach einzelne Suren beziehungsweise Verse ohne hermeneutische Vermittlung auf unsere Zeit anwenden. Die Muslime müssen sich der Tatsache stellen, dass der Islam des siebten Jahrhunderts nicht mehr unser Islam ist – und auch nicht sein kann. In diesem Sinne gibt es eine Autonomie des Textes, angesichts dessen aber auch die Freiheit besteht, aus unserer Sicht heute unangemessene Koranstellen zu kritisieren. Das hat bereits der Mystiker Mahmud Taha so gesagt. Taha hat die Hälfte des medinensischen Korans abgelehnt, weil er lediglich jener Zeit verhaftet sei. Nur die ethisch akzentuierten Weisungen seien für alle Zeiten gültig. Bedauerlicherweise wurde er 1985 wegen des Vorwurfs der Apostasie gehängt.

HK: Islamische Autoritäten sehen in solchen Ansätzen offensichtlich eine Infragestellung des Islam.

Ourghi: Durch ein reflektierendes Verstehen und die Freiheit der Interpretation beleidigen wir jedoch weder den Islam noch den Propheten oder den Koran. Muslime müssen zu dem Punkt kommen: Wenn ich den Koran kritisiere, ist das kein Akt des Verbrechens; und wenn ich an Ereignissen der Vita des Propheten Kritik übe, ist das keine Beleidigung. Notwendig ist ein rationaler Verstehenszugang, um eine neue Beziehung zu entwickeln. Wir können uns nicht mit dem begnügen, was uns von den Eltern übermittelt wurde. Man muss selbst den Mut zur Rationalisierung haben.

HK: Inwieweit ist der Koran dann offenbart? Wie viel Kritik ist möglich, wenn Gott selbst der Autor der Heiligen Schrift der Muslime ist?

Ourghi: Die Frage nach dem Autor des Korans kann uns an dieser Stelle nicht weiterhelfen; ohne eine überzeugende Antwort zieht sich die Frage nach der Urheberschaft des Korantextes wie ein roter Faden durch das gesamte Werk der westlichen Koranwissenschaftler. Wir haben im Koran mehr als 40 Stellen, an denen an die Muslime appelliert wird, ihre Vernunft anzuwenden. Auch das ist Gottes Wort für die Muslime. Wenn der Koran Gottes Wort ist, heißt das aber nicht, dass ich den Koran nicht kritisieren darf. Im Gegenteil: Die Kritik ist nichts Anderes als eine Liebeserklärung gegenüber dem Wort Gottes. Ich muss versuchen, diesen Text aus seiner Leblosigkeit heraus ins Leben zu rufen – indem ich ihn neu verstehe.

„Ich brauche keine Angst um meinen Propheten zu haben“

HK: In der katholischen wie der evangelischen Theologie wurde sehr intensiv über Jan Assmanns inzwischen etwas abgeschwächte These diskutiert, dass aufgrund der Mosaischen Unterscheidung von wahrer und falscher Religion die monotheistischen Religionen und damit auch das Christentum per se zur Gewalttätigkeit neigten. Gilt das Ihrer Überzeugung nach für den Islam?

Ourghi: Besonders von den Apologeten wird ja immer wieder der Koranvers angeführt, dass es keinen Zwang in der Religion gebe. Das ist eine schöne Koranstelle, aber der Rest des Verses wird schlicht ausgeblendet. Unmittelbar danach heißt es, dass der Islam die wahre Religion ist. Wer an etwas Anderes glaubt, steht nach der Auffassung dieses Verses außerhalb der wahren Religion. Es ist jedoch – nicht zuletzt im europäischen Kontext – an der Zeit einzugestehen, dass der Islam nicht die einzige Religion ist. Es gibt einen Gott und verschiedene Religionen. Auch die Muslime müssen Abschied nehmen von einem Absolutheitsanspruch, als seien nur wir diejenigen, die auf dem wahren Weg seien. Wir sind weder die einzigen Gläubigen, noch die Einzigen, die eine monotheistische Religion haben. Ich kann nicht glauben, dass Christen, die regelmäßig Gottesdienst feiern, in die Hölle kommen sollen. Auch wenn das eine heikle These ist: Es gibt neben den Muslimen Juden und Christen, und wir können uns gegenseitig ergänzen. Durch unsere Situation als Muslime in der Minderheit haben wir hier immerhin auch eine besondere Chance, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser kennenzulernen und uns neu zu entdecken. Ganz entscheidend dabei ist der gegenseitige Respekt.

HK: Nach der Ermordung der Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ haben manche auch darauf hingewiesen, dass sie zwar das Töten unbedingt ablehnen, letztlich aber auch nur begrenztes Verständnis für die zum Teil ätzende Kritik am Islam wie auch an anderen Religionen haben…

Ourghi: Vom Beginn der Offenbarung, also von 610 bis 624, ist der Prophet immer sehr gelassen damit umgegangen, wenn man ihn beleidigt hat. Der Koran berichtet beispielsweise davon, dass man ihn als Magier bezeichnet hat. Damals war das eine Beleidigung. Der Prophet ging damit recht locker um. Später wiederum, wurde im September 624 der jüdische Dichter Ka‘b Ibn al-Ashraf laut der arabischen Geschichtstradition auf Befehl des Propheten kaltblütig hingerichtet. Er soll Schmähgedichte über den Propheten und die Ehefrauen der Muslime verfasst haben. In einem theologischen Werk aus dem 14. Jahrhundert mit dem Titel „Das Schwert, gezückt wider den, der den Gottesgesandten schmäht“ wird dann tatsächlich gefordert, dass der, der den Propheten beleidigt, hingerichtet werden soll. Diese Literatur spielt bis heute an den Universitäten in der muslimischen Welt, etwa an der Al-Azhar Universität in Kairo, eine gewisse Rolle.

HK: Sind Sie demnach – gerade als Muslim – mit Nachdruck auch „Charlie“?

Ourghi: Mich stört es nicht, wenn es solche Karikaturen gibt. Im Gegenteil: Ich brauche keine Angst um meinen Propheten zu haben. Es muss ganz normal sein, dass man den Propheten kritisieren darf. Und wenn andere sich über meine Religion lustig machen wollen, sollen sie das tun – auch wenn wir Muslime das nie tun würden und auch Mose oder Jesus als Propheten anerkennen und schätzen.

HK: Wie haben Ihre Studierenden auf die Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen reagiert?

Ourghi: Sie nehmen die gegenwärtigen Diskussionen sehr aufmerksam wahr und wollen darüber reden, inwiefern der Islam mit Gewalt zu tun hat. Gleichzeitig haben sie Angst, dass sie alle in einen Topf geworfen und als Islamisten angesehen werden. Umso wichtiger ist, die große Chance eines Islamischen Religionsunterrichts zu nutzen, um mit den Kindern auf Deutsch über all diese Themen sprechen zu können, damit sie sich ein entsprechendes Vokabular aneignen, in der Sprache ihrer Landes sprachfähig und religiös mündige Menschen werden.

HK: Gewarnt wird in diesem Zusammenhang immer wieder vor den Versuchen salafistischer Kreise, gerade Jugendliche, die sich diskriminiert fühlen, mit einem einfachen Weltbild für die eigene Szene zu gewinnen? Reicht da ein besserer Religionsunterricht aus?

Ourghi: Der Religionsunterricht kann einen wichtigen Teil dazu beitragen. Aber wir sollten auch ernst nehmen, wenn sich junge Menschen marginalisiert fühlen. Hier ist auch ein Beitrag der so genannten Mehrheitsgesellschaft gefordert, nämlich Muslime nicht länger als „die Anderen“ zu betrachten, sondern als gleichwertigen Teil der Gesellschaft.

HK: „Die Frage ist nicht, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar ist, sondern ob die Muslime heute diese Vereinbarkeit entstehen lassen wollen“, so der iranische Reformtheologe Mohammed Shabestari. Wie gut stehen die Chancen, dass sich muslimische Gruppen, Einrichtungen und Institutionen trotz der gegenwärtigen Infragestellungen als zivilgesellschaftliche Akteure in Westeuropa etablieren können? Und das Stichwort „Euro-Islam“ dafür eine sinnvolle Kategorie?

Ourghi: Der Islam ist ein integraler Bestandteil der westlichen Kultur – auch historisch. Überall dort, wo es uns gelingt, dass Fachleute muslimischen Kindern eine reflektierte religiöse Identität vermitteln, gehört der Islam ganz selbstverständlich zu Europa. Ich bin jedenfalls sowohl dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sehr dankbar, dass sie das auch so ausgesprochen haben. Das ist Balsam auf der Seele von Muslimen. Dasselbe gilt für die Erinnerung daran, dass Jugendliche, die sich radikalisieren, Kinder dieser Gesellschaft sind, die wir nicht im Stich lassen dürfen. 

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