Der Neue Atheismus hat verschiedene FacettenVision einer religionsfreien Welt

Der Neue Atheismus wird in Ländern und Gesellschaften zum Thema, die durch das Christentum geprägt sind. Seine Vertreter finden viel mediale Aufmerksamkeit, auch wenn die Zahl der bekennenden Atheisten kaum zunimmt. Er machte erst in der englischsprachigen Welt von sich reden, ist aber inzwischen auch nach Deutschland übergeschwappt. Der Neue Atheismus lebt vor allem vom Protest und vom Widerspruch und ist verbunden mit der Vision, eine Welt ohne Religion anzustreben.

Atheistische Weltdeutungen erfuhren in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende öffentliche Resonanz. Sie wurden medial sichtbarer, obgleich die Zahl konfessorischer Atheisten und „säkularer“ Humanisten kaum zugenommen haben dürfte. Auch in einem Land wie den Vereinigten Staaten, das fraglos durch religiöse Vitalität gekennzeichnet ist, mehren sich atheistische Stimmen in der Öffentlichkeit. In der Vorweihnachtszeit 2012 war am belebten Times Square in New York groß zu lesen: „Keep the Merry – Dump the Myth“: Bewahre die Fröhlichkeit des lächelnden Weihnachtsmannes – im Hintergrund groß dargestellt mit weißem Rauschebart – und verabschiede Dich vom Mythos des leidenden, gekreuzigten Christus, dessen Bild in vergleichbarer Größe zu sehen ist.

Hinter der Aktion standen die „American Atheists“, die 1963 gegründet wurden und die nicht mehr als 2 200 Mitglieder zählen. Solche Aktionen wollen provozieren. Sie verzichten bewusst auf den Respekt vor der religiösen Bindung des Anderen. Ungewollt zeigen sie auch, dass sie von der Substanz dessen zehren, was sie verneinen. Das Niveau der religionskritischen Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts wird dabei oft nicht erreicht.

Die kirchliche Festkultur eignet sich offensichtlich besonders dafür, mit atheistischen Provokationen in die Öffentlichkeit zu gehen. Vor den Osterfesten der letzten Jahre lautete in einzelnen Städten Deutschlands die kämpferische Kampagne der Giordano Bruno Stiftung: „Austritt zum Hasenfest – kollektiver Kirchenaustritt Ostern (…) . Wir wollen unsere finanziellen und zeitlichen Ressourcen nicht in Organisationen investieren, die so viel Elend, Angst und Dogmatismus im Europa der vergangenen 2000 Jahre verbreitet haben. (…) Die Bibel propagiert Inhalte (Sippenhaft, Erbsünde, Minderwertigkeit der Frau und Homophobie, dogmatischen Gehorsam gegenüber Autoritäten), die den elementaren Errungenschaften unserer Demokratie widersprechen.“

Ein mediales und globales Phänomen

Auch die Beschneidungsdebatte war ein willkommener Anlass, sich mit Sendungsbewusstsein zu Wort zu melden. Atheistische und humanistische Organisationen nutzten sie, um auf die latente Gefährlichkeit religiöser Praxis hinzuweisen. Es wurde ein Fundamentalismusverdacht gegenüber religiösen Überzeugungen überhaupt ausgesprochen, nicht nur gegenüber ihrem Missbrauch. Religionsgemeinschaften, so wurde aus atheistischer Perspektive gesagt, darf nicht das Recht gegeben werden, „sich unter Berufung auf religiöse Vorschriften oder Rituale ein eigenes – göttliches – Recht zu schaffen und zugleich gegen fundamentale Grundrechtsvorschriften wie die körperliche Unversehrtheit zu verstoßen.“ Kinder seien vor religiöser Beeinflussung zu schützen.

Die durch Fehlverhalten provozierten öffentlichen Debatten über Kirchenfinanzen gaben atheistisch motivierter Religionskritik eine weitere Vorlage. Der Kirchen- und Religionskritiker Carsten Frerk bekam Gelegenheit, seine Anschauungen zum Thema Kirchenfinanzen in Rundfunk und Fernsehen, in Tageszeitungen und Wochenmagazinen zu verbreiten. Unerwähnt bleib meist, dass Frerks kirchen- und religionskritische Plädoyers nicht allein auf eine Kritik der Kirchenfinanzen ausgerichtet waren. Bis 2012 war er Mitglied des Kuratoriums der Giordano Bruno Stiftung (seitdem Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Stiftung), die religiöse Bindungen in polemischer Weise als Freiheitsverzicht problematisiert und im Namen der Wissenschaft eine naturalistische und atheistische Weltanschauung zur Norm erheben möchte (vgl. dieses Heft, 26 f.). Das Thema Kirchenfinanzen ist eines unter anderen, um den Kampf gegen Religion und Kirche erfolgreich voranzubringen. Eine humanistisch-atheistische Leitkultur soll etabliert werden, die eine religiös geprägte Weltdeutung überflüssig macht.

Mediale Diskurse zum Neuen Atheismus hatten ihre Akteure (Richard Dawkins, Sam Harris, Christopher Hitchens, Daniel C. Dennett …) und ihre Diskursfelder, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten und in Europa. A-Theismus ist ein Relationsbegriff. Er bezieht sich auf wie auch immer geartete Vorstellungen von Gott, die verneint werden. Insofern gibt es den Atheismus nicht ohne den Gottesglauben. Und es kann so viele Formen des Atheismus geben, wie es Ausdrucksformen des Glaubens gibt.

Der Neue Atheismus wird in Ländern und Gesellschaften zum Thema, die durch das Christentum geprägt sind. Er ist insofern ein Phänomen mit geographischen Begrenzungen. Seine Rezeption in anderen Kulturen und im Zusammenhang nichtchristlicher Religionen bedarf differenzierender Wahrnehmung. Die Rede vom „Neuen Atheismus“ fand zuerst in den Medien Erwähnung. Der in der englischsprachigen Welt beobachtbare Diskurs fand bald auch Resonanz in Deutschland. Mit dem „Manifest des evolutionären Humanismus“ der Giordano Bruno Stiftung konnte sich Michael Schmidt-Salomon den grundlegenden Perspektiven der englischsprachigen Autoren des Neuen Atheismus anschließen. Schon bald traten neben die Akteure des Neuen Atheismus ihre Kritiker. Ihre Liste ist inzwischen lang geworden. Alister McGrath, Tina Beattie …, in Deutschland unter anderem Richard Schröder, Dirk Evers, Wolf Krötke, Ulrich H. J. Körtner, Gregor Maria Hoff, Armin Kreiner, Katharina Peetz

Neue atheistische Bewegungen müssen unter anderem auch auf dem Hintergrund fundamentalistischer Tendenzen in den Religionen verstanden werden. Der 11. September 2001 rief Debatten über problematische Seiten der Aufrichtung religiöser Autoritäten und über den Zusammenprall der Kulturen (clash of civilizations) hervor. In neuen atheistischen Bewegungen wird die Wahrnehmung der Religionen auf ihre dunkle Seite konzentriert. Religionen werden nicht als Quelle moralischer Verpflichtungen und Vermittlungsinstanzen eines Orientierungswissens wahrgenommen, sondern als Verstärker gewaltsamer Konflikte.

Der Redeweise von der „Rückkehr der Religionen“ wird widersprochen. Solcher Redeweise – so wird gesagt – liege eine Selbsttäuschung und eine Wunschvorstellung der Religionsvertreter zugrunde. Für neue atheistische Bewegungen ist berichtenswert, dass die Zahl der Menschen, die konfessionsfrei sind, kontinuierlich zugenommen hat und weiter zunimmt, jedenfalls in Europa. Sie gehen vor allem von einer engen Verbindung zwischen wissenschaftlicher Weltwahrnehmung und Atheismus aus.

Weitere Kennzeichen sind: polemische Religionskritik, Religionskritik im Namen der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft, Ablehnung nicht nur des religiösen Fundamentalismus, sondern auch der moderaten Religiosität. Dem Neuen Atheismus geht es um die Popularisierung von Religionskritik, um einen „missionarischen“ Atheismus, um ein Plädoyer für die Naturalisierbarkeit von Moral und Ethik.

2006 erschien das Werk „Der Gotteswahn“ des Evolutionsbiologen Richard Dawkins, in dem dieser sich gleich im Vorwort als Missionar des Atheismus vorstellt und darauf hofft, dass die Lektüre zum „Coming out“ vieler atheistischer Zeitgenossen beiträgt. Dawkins möchte aus Gläubigen Atheisten machen. „Wenn dieses Buch die von mir beabsichtigte Wirkung hat, werden Leser, die es als religiöse Menschen zur Hand genommen haben, es als Atheisten wieder zuschlagen“ (Berlin 2007, 18). Religion wird als krankhafter Wahn angesehen. Diese leitende These wird nicht eigentlich begründet. Sie wird vorausgesetzt und illustriert. Auf klassische philosophische Debatten über den Atheismus wird kaum Bezug genommen.

Dawkins Buch fand große Resonanz, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und wird in vielen Sprachen gelesen und diskutiert, obgleich der Autor auch mit geschickter Rhetorik seine fehlenden Kenntnisse in Sachen Theologie, Philosophie und Geschichte der Religionskritik kaum verbergen kann. Die Medienindustrie verlieh dem Buch höchste Aufmerksamkeit. In immer neuen Variationen und in provozierender Sprache wird vorgetragen, dass naturwissenschaftliche Welterkenntnis vom Glauben weg und zum Atheismus hinführe. Die Naturwissenschaften seien bei Dawkins ein „Superhighway in Richtung Atheismus“ (Alister McGrath). Die Entwicklung der Religionen führe zunächst vom Polytheismus zum Monotheismus. Am Ende des religiösen Fortschritts stehe der Atheismus. Man müsse – so Dawkins – lediglich an einen Gott weniger als zuvor glauben. Im Namen der Wissenschaft möchte der Neue Atheismus eine naturalistische und atheistische Weltanschauung zur Norm erheben.

Auf das religiöse Bewusstsein wird respektlos herabgeblickt

Sam Harris sieht in seinem Buch „Das Ende des Glaubens“ in den Religionen, vor allem im Islam eine Gefährdung für die Gesellschaft. Religiöser Glaube befinde sich „außerhalb der Grenzen eines rationalen Diskurses“ (Winterthur 2007, 9). In seinen Darlegungen setzt er sich unter anderem mit dem religiösen Fundamentalismus, mit kreationistischen Ideen und mit dem politischen Islam auseinander: „Die meisten Menschen auf dieser Welt glauben, der Schöpfer des Universums habe ein Buch geschrieben. Das Dumme ist, dass uns eine Vielzahl solcher Bücher vorliegt, von denen jedes für sich in Anspruch nimmt, das einzige unfehlbar richtige zu sein“ (9). Die Perspektiven von Harris kommen aus neurowissenschaftlichen Studien. Hitchens hat als Literaturkritiker und Journalist geschrieben. Dennett möchte als Philosoph Religion als natürliches Phänomen durchschauen und dadurch gewissermaßen entzaubern.

Bereits bei den Klassikern des Neuen Atheismus spielt die Ablehnung religiöser Erziehung eine wichtige Rolle. Auch atheistische Organisationen in Deutschland greifen dieses Thema auf, so beispielsweise die Giordano Bruno Stiftung, der es um die Entwicklung eines naturalistischen Weltbildes und die Förderung eines „evolutionären Humanismus“ geht. Um Kinder von „Misshandlungen“ und von religiöser Indoktrination zu befreien, hat der Vorstandssprecher der Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, einen „Dawkins for Kids“ mit verfasst. „Wo bitte geht’s zu Gott, fragte das kleine Ferkel“ ist der Titel dieses Kinderbuches (vgl. HK, April 2008, 166 f.).

Inzwischen liegt eine Trilogie von Kinderbüchern vor, die erfolgreich vermarktet wird. Dem kleinen Ferkel folgten „Der freche Hund“ und das Kinderbuch über „Susi Neunmalklug“, die ihrem unwissenden Religionslehrer die kosmologische und anthropologische Evolution zu erklären versucht. Die „realen kosmologischen Fakten“ (Schmidt-Salomon) – so wird behauptet – schließen den Glauben an Gott aus. Die Geschichte der Entstehung der Erde und des Menschen habe mit Gott rein gar nichts zu tun. Die Religion habe ihre Legitimation in der Schule verloren.

Fließende Übergänge zwischen Religion und Religionskritik

Die Einsichten von Charles Darwin (1809–1882) zur Entwicklung des Lebens werden in den Rang einer naturalistischen Weltanschauung erhoben, was dieser selbst ausdrücklich ablehnte. In atheistischen Rezeptionen Darwins, die implizit auch an den materialistischen Monismus Ernst Haeckels (1834–1919) anknüpfen, wird die Entdeckung Darwins zum „Darwin-Code“, der beansprucht, das Geheimnis des Lebens umfassend und vollständig erklären zu können. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter des Neuen Atheismus blicken auf das gläubige Bewusstsein respektlos herab. Sie wähnen sich im Status des Aufgeklärtseins und bezeichnen sich als „Brights“. Ein Bright (bright: hell, klar, aufgeweckt) ist eine Person, die ein naturalistisches Weltverständnis vertritt und darum bemüht ist, diesem gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen.

Den Atheismus gibt es genauso wenig wie die Religion. Der so genannte Neue Atheismus wird von Teilen des atheistischen Spektrums mit Skepsis und Ablehnung betrachtet. Zugleich macht der religiös-weltanschauliche Pluralismus die Übergänge zwischen Religion und Religionskritik fließend. Sam Harris plädiert in seinem Buch für einen rationalen Zugang zu den Themen Ethik und Spiritualität. Im Nachwort setzt er sich mit dem Vorwurf auseinander, seine Publikation sei kein wirklich atheistisches Buch, weil er die Themen Meditation und Spiritualität aufgreife und damit versteckt für „Buddhismus, New-Age-Mystik oder andere Formen von Irrationalität“ plädiere (244 f.).

Vor allem im Blick auf die Frage, ob Bewusstsein „in vollem Umfang auf der Tätigkeit des Gehirns beruht (und sich darauf reduzieren lässt)“, bestehen zwischen Harris und anderen Atheisten grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Nach Harris gibt es für die These, dass Bewusstsein ein Epiphänomen physiologischer Vorgänge sei, keine Gründe. „Tatsache ist, dass Wissenschaftler noch immer nicht wissen, wie es um die Beziehung zwischen Bewusstsein und Materie tatsächlich bestellt ist.“

Das „Manifest des evolutionären Humanismus“, ein Orientierungsdokument für ein naturalistisches Weltverständnis, geschrieben im Auftrag der Giordano Bruno Stiftung, wird von anderen Atheisten heftig angegriffen. Die darin skizzierte naturalistische Weltauffassung versteht das menschliche Ich als „Produkt neuronaler Prozesse“, die menschliche Freiheit als eine Illusion und geht davon aus, dass Geistiges auf Körperlichem beruht. Religiöses Bewusstsein geht dieser Auffassung zufolge auf „Überaktivitäten im Schläfenlappen“ zurück (Aschaffenburg 2006, 12).

Dass es auch ganz andere atheistische Stimmen geben kann zeigen beispielsweise Joachim Kahl, Herbert Schnädelbach und Alain de Botton (vgl. dieses Heft, 34 f.). Joachim Kahl lehnt den Neuen Atheismus eines Richard Dawkins scharf ab und bewertet ihn als „ein charakteristisches Dokument intellektuellen ­Cäsarenwahns,“ mit „zwei sich ergänzende(n) Merkmale(n): triumphalistische Selbstüberschätzung und abgründige Realitätsblindheit“ (EZW-Texte 204, Berlin 2009, 5). Den Atheismus Schmidt-Salomons bezeichnet Kahl als „Animalismus“, der mit einer Ethik der Beliebigkeit verbunden sei. Der Sache der Religionskritik werde dadurch Schaden zugefügt.

Herbert Schnädelbach beschreibt den „frommen Atheisten“ als einen Menschen, der nicht kämpferisch gegen den Gottesglauben eingestellt ist, sondern lediglich sein eigenes Unvermögen benennt, nicht an einen Gott zu glauben. Ein kämpferischer Atheismus wird von ihm „als lächerlich empfunden und das Bekenntnis zur Gottlosigkeit als ebenso peinlich wie das Bekenntnis zu Gott, denn Religion ist doch Privatsache“ (Frankfurt 2009, 78 f.).

Der „fromme“ Atheist weiß, was ihm abhanden gekommen ist und leidet daran. Alain de Botton sieht die „Weisheit der Religionen“ als etwas an, das allen, auch den Rationalisten, gehört. Lösungen für Probleme der modernen Seele seien bei den Religionen zu finden. Sie sollen dabei jedoch aus ihren „übernatürlichen Strukturen“ (Religion für Atheisten, Frankfurt 2013, 300 f.) gelöst werden. Der Streit von Humanisten und Atheisten zeigt: es ist bisher keineswegs geklärt, welches die grundlegenden und sie verbindenden Orientierungsperspektiven eines atheistischen Welt- und Menschenverständnisses sind. Begriffe wie Humanismus oder Naturalismus reichen nicht aus, um das Charakteristische der eigenen Weltanschauung zum Ausdruck zu bringen.

Nachdem das Thema der Revitalisierung von Religion und Religiosität in weltanschaulichen Diskursen zeitweilig eine wichtige Rolle spielte, wendet sich die Aufmerksamkeit heute stärker der Religionsdistanz und pointierten Religionskritik zu. Die offensichtlich nicht zu überwindende Religionspräsenz in säkularisierten Gesellschaften forciert Gegenbewegungen. Der Streit zwischen gläubigem und atheistischem Selbstverständnis wird pointierter und schärfer. Auch in religiöser Hinsicht driften die Milieus auseinander. Die Einen können sich gesellschaftlichen Fortschritt nicht ohne die Verabschiedung von der Religion vorstellen. Die Anderen machen darauf aufmerksam, dass sich der Mensch ohne die Bindung an Gott von Orientierungsperspektiven löst, auf die auch eine säkularisierte Gesellschaft angewiesen bleibt.

In der heutigen Gesellschaft ist beides da: Religion in den verschiedensten Ausformungen und nicht weniger vielgestaltige Religionsdistanz und Religionskritik. Beides wird sichtbar: religiöses und pointiert antireligiöses Eiferertum. In pluralistischen Gesellschaften müssen sie zusammen leben: die konfessionsfreien, atheistischen und postchristlichen Zeitgenossen mit den christlichen, muslimischen, buddhistischen Gläubigen.

Und mit beidem müssen sich die christlichen Kirchen ausei­nandersetzen: mit einem säkularen Humanismus und Atheismus einerseits und einem zunehmenden religiösen Plura­lismus andererseits, hervorgerufen und verstärkt durch Migration, durch das Sendungsbewusstsein atheistischer Weltdeutungen und nichtchristlicher Religionen. Neben die immer wieder unterstrichene Aufgabe des interreligiösen Dialoges tritt die Aufgabe des Dialoges und der Auseinandersetzung der Weltanschauungen.

Sofern atheistische Bewegungen auf problematische Ausformungen und Verzerrungen des Christlichen hinweisen, kann ihnen zugestimmt werden. Weder die Existenz Gottes noch seine Nichtexistenz können aus der Perspektive naturwissenschaftlicher Welterkenntnis bewiesen werden. Religionskritik, die darauf abzielt, fragwürdige Vermenschlichungen Gottes aufzuzeigen, hat ihre Berechtigung. Biblisch inspirierter Gottesglaube deckt die Zweideutigkeit von Religion und Religiosität auf. Man denke nur an die Geschichte vom Goldenen Kalb im 1. Mosesbuch, an die prophetische Kultkritik, an die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihren humanen Zweck.

Religion und Religiosität können unterdrücken und befreien, zerstören und heilen, verletzen und aufbauen. Zum christlichen Glauben gehört die unterscheidende Kritik an Religionsformen, die dem Anliegen eines auf Freiheit und Verantwortung zielenden Glaubens widersprechen. Der christliche Glaube weiß um die Verborgenheit Gottes in der Welt. Er weiß um den Alltagsatheismus und um die Anfechtung, die zur glaubenden Existenz gehört. Insofern steht das Atheismusthema nicht außerhalb des christlichen und kirchlichen Lebens.

Ängstliche Reaktionen auf Provokationen des Neuen Atheismus sind unangebracht. Wenn die Gottesfrage auf die Tagesordnung öffentlicher Diskurse kommt, ist dies begrüßenswert. Was aber hat der Neue Atheismus zu bieten? Er lebt vor allem vom Protest, vom Widerspruch, vom Bekenntnis zum Nichtglauben, vom Anti-Credo und ist verbunden mit der Vision, eine Welt ohne Religion anzustreben, die alle durch Religion verursachten Schrecken hinter sich lassen soll. Selbstverständlich gibt es Beispiele krankmachender Religiosität und den Missbrauch der Religion.

Das Plädoyer für die Unschuld des Atheismus ist jedoch nicht zutreffend. Die Abschaffung der Religion durch eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ war ein wichtiges politisches Programm der DDR-Regierung. In seinem Buch „Abschaffung der Religion?“ spricht der Philosoph und Theologe Richard Schröder treffend von einem „wissenschaftlichen Fanatismus“, wie er beispielsweise in Dawkins Gotteswahn begegnet. „Es kann nicht angehen, im 21. Jahrhundert von einer Welt ohne Religion zu schwärmen und einfach zu übergehen, auf welche Weise das im 20. Jahrhundert zum Programm geworden ist“ (Freiburg 2008, 12).

Das Fundamentalismus- und Fanatismusproblem trifft den Atheismus nicht weniger als die Religionen. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte ist auch für den Atheismus die Voraussetzung für seine Friedens- und Toleranzfähigkeit. Die Vision einer religionsfreien Welt bleibt unrealistisch. Von den „Folgelasten der Toleranz“ (Jürgen Habermas) kann auch das ungläubige Bewusstsein nicht entlastet werden.

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