Ein Gespräch mit dem tschechischen Theologen Tomáš Halík über Glauben heute„Mit den Suchenden auf die Suche gehen“

Der tschechische Intellektuelle Tomáš Halík ist Theologe, Philosoph und Soziologe. Seit Jahrzehnten engagiert er sich für einen ernsthaften Dialog mit Atheisten über die Gottesfrage. Wir sprachen mit ihm über die Herausforderungen für den christlichen Glauben im heutigen Europa. Die Fragen stellte Stefan Orth.

HK: Herr Professor Halík, gerade hat in der katholischen Kirche das „Jahr des Glaubens“ begonnen: Was ist eigentlich der Kern religiöser Erfahrung in den verschiedenen Gesellschaften auf dem europäischen Kontinent?

Halík: Schon vor mehr als hundert Jahren hat William James in seinem berühmten Buch über die Verschiedenheit der religiösen Erfahrungen geschrieben. In unserer Zeit ist diese Pluralität noch viel größer geworden. Sie ist das Charakteristikum des religiösen Lebens heute, nicht die Säkularität. Die markanteste geistliche Erfahrung allerdings ist die der Verborgenheit oder gar Abwesenheit Gottes. Die Neuzeit hat zu viel über Gott gewusst. Wir müssen heute mehr Raum für das Schweigen Gottes und unser Schweigen vor dem Geheimnis Gottes finden. Bei aller Aufregung auf dem religiösen Markt schweigt der wahre Gott. Die göttliche Wirklichkeit bleibt ambivalent: Blaise Pascal hat mit Recht gesagt, dass das Licht gerade ausreicht für diejenigen, die glauben wollen, nicht aber für jene, die gerade dies ablehnen. Immerhin: Dank des Atheismus und der Religionskritik ist der banale Gott der Moderne tot.

HK: Wie ist es denn dazu gekommen?

Halík: Wir wissen heute, dass unmittelbar hinter den Kulissen der Natur oder der Geschichte nicht einfach ein Gott wirkt. Wenn es Gott gibt, ist er in der Tiefe zu finden. Glaube ist heute mehr als früher ein freier Akt, eine wirkliche Entscheidung. Es braucht Mut, in das Geheimnis einzutreten. Keine Gottesbeweise können uns dabei helfen.

HK: Sind zu banale Vorstellungen von Gott auch der Grund für den weiterhin voranschreitenden Traditionsabbruch im Christentum, aufgrund dessen der christliche Glaube in Europa zu veröden scheint?

Halík: Zumindest teilweise. Auch wenn der Atheismus ein zu simples Gottesverständnis hat obsolet werden lassen, hängen einige Gläubige noch an ihm. Es geht dabei freilich auch um jene Gottesvorstellungen, die in der Moderne geboren wurden und Gott zu einem Obdachlosen gemacht haben. Die Aufklärung hat angesichts der Trennung zwischen Natur und Übernatur das Natürliche als das Wirkliche definiert. Dann wird das Übernatürliche zum Reich der Poltergeister und anderer Märchenfiguren, an die man natürlich nicht ernsthaft glauben kann. Wenn man Gott in dieser Gesellschaft vermutet, ist es nur zwangsläufig zu sagen: Es gibt keinen Gott. Gott sei Dank existiert ein solcher Gott wirklich nicht.

HK: Jene Vorstellungen haben immerhin die Christentums­geschichte auf dem Kontinent geprägt. Wird mit ihrem Scheitern auch die Inkulturation des Christentums in Europa infrage gestellt?

Halík: Das ist etwas scharf formuliert. Aber diese naiven Vorstellungen der Volksfrömmigkeit hatten ihre gesellschaftlich-kulturelle Biosphäre: die traditionelle Dorfkultur. Diese Kultur ist in der Moderne Schritt für Schritt geschwunden, und damit sind auch die älteren Gottesvorstellungen unglaubwürdig geworden. Der christliche Glaube muss deshalb heute neu interpretiert werden. Das war allerdings auch früher schon so. Die Tradition ist immer eine Reinterpretation von Vorherigem – während Traditionalisten an diesem Punkt dem Sinn der Tradition untreu werden. Die Bewahrung der Tradition ist ein schöpferischer Akt. Die Treue zum Inhalt des Glaubens braucht die kreative Neuinterpretation: nicht einfach eine oberflächliche Anpassung an die letzte Mode, sondern einen mutigen Dialog mit den intellektuellen Herausforderungen der zeitgenössischen Kultur. Die Menschen, die an jenen Gottesvorstellungen festhalten, leben in einer Art kulturellen Schizophrenie, weil sie ja – wie die Kirche als Ganze – letztlich Teil unserer modernen Welt sind. Nicht umsonst ist der Fundamentalismus schon im Kern eine moderne Erscheinung.

HK: Gelingt die geforderte schöpferische Neuinterpretation des Glaubens denn an anderen Stellen? Was sind Ihre Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Studierenden und anderen jungen Erwachsenen?

Halík: Die Weitergabe des Glaubens an die junge Generation wird insgesamt immer schwieriger, weil diese in einer komplett anderen Welt leben. Sie erwarten, dass es gute Argumente für den Glauben gibt. Auch wenn zur intellektuellen Reflexion die spirituelle Tiefe kommen muss, wird ein unreflektierter Glaube, der lediglich als Erbe der Älteren übernommen werden soll, nicht mehr akzeptiert. Die traditionelle Volkskirche hat deshalb nur sehr wenig Chancen in Europa zu überleben.

 „Christlicher Fundamentalismus und militanter Säkularismus sind Zwillinge“

HK: Verstärken die schwächelnden Kirchenstrukturen also die Glaubenskrise?

Halík: Jede Krise ist eine Chance. Diese Krise soll uns zeigen, dass zwar die institutionellen Strukturen notwendig, aber nicht das Wichtigste sind. Da bin ich gleichermaßen auf Distanz zu den Traditionalisten wie zu den Reformorientierten, weil beide Gruppen denselben Fehler machen und die Bedeutung von Strukturen überschätzen. Das Entscheidende ist in beiden Fällen, ob wir an der Oberfläche bleiben oder in die Tiefe gehen.

HK: Die Krise des Christentums ist das eine. Auf der jüngsten römischen Bischofssynode zur Neuevangelisierung wurde auch eine dezidierte Christenfeindlichkeit in Europa beklagt.

Halík: Es gibt die Extreme. Es gibt einen Fundamentalismus auf christlicher Seite und es gibt den Zwilling dieses Fundamentalismus: den militanten Säkularismus. Sie bedingen einander und brauchen beide das jeweilige Feindbild, das sie sich vom anderen machen. Weiterführend ist da ein dritter Weg.

HK: Sie selbst nehmen sich besonders des Gesprächs mit Nicht-Glaubenden an, die im Einzelnen dann ganz unterschiedliche Einstellungen zum Thema Religion haben. Was sind die verschiedenen Ausprägungen des Atheismus heute?

Halík: Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Etikett Atheismus ein großes Spektrum. Da gibt es jene, die ganz apathisch sind angesichts der religiösen Fragen; es gibt den religiösen Analphabetismus und den weitverbreiteten Etwasismus: Ich glaube nicht an Gott, aber irgendetwas über uns wird es geben. Viele so genannte Atheisten basteln sich auch ihre eigenen Vorstellungen über Gott. Das sind meistens sehr primitive Vorstellungen, die sie in Teilen auch ererbt haben – sie haben deshalb recht, wenn sie diese verneinen und nicht mehr an diesen Gott glauben. Daneben gibt es den postulatorischen Atheismus eines Friedrich Nietzsche: Gott darf nicht sein, weil ich es nicht ertrage, dass ich nicht Gott bin. Auch wenn Atheisten wie Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Sigmund Freud und eben Nietzsche uns geholfen haben, uns von zu naiven Vorstellungen Gottes zu befreien, waren ihre Therapievorschläge oft zu generalisierend. Wo kritisiert wird, dass Gottesvorstellungen allein menschliche Projektionen sind, kann es auch zur Vergöttlichung des Ego des Menschen kommen. Das ist dann der Anfang des modernen Narzissmus und Egoismus. Der wirkliche Gegensatz zum Glauben aber ist die Idolatrie: wenn man einzelne, letztlich relative Werte verabsolutiert.

HK: Mit den Atheisten, so beginnt eines Ihrer Bücher, stimme ich in vielem überein, in fast allem – außer ihrem Glauben, dass es Gott nicht gibt. Wo ist denn die Nähe zu den Nicht-Glaubenden am größten?

Halík: Es gibt den Agnostizismus, der der Tradition der negativen Theologie sehr nahe ist. Es gibt den Antiklerikalismus, der jedoch bereits einen impliziten Glauben in sich birgt. Wenn jemand sehr kritisch gegenüber der Kirche eingestellt ist, hat er oft genug eigentlich große Erwartungen an die Kirche, die frustriert worden sind. Der Atheismus ist schließlich vielfach auch ein Protest gegen Elend, Gewalt, Krieg und das Böse in der Welt.

 „Gott liebt jene, die mit ihm ringen“

HK: Die Theodizeefrage wurde in der Geschichte der Religionskritik nicht umsonst als Fels des Atheismus bezeichnet …

Halík: Das Böse und die Wunden der Welt sind eine Herausforderung, Gott zu suchen. Wenn die Welt perfekt wäre, wäre sie selbst Gott und es wäre überflüssig, nach Gott zu fragen. Angesichts von Auschwitz darf die Frage nicht lauten, wo Gott gewesen ist. Sie muss nach der Rolle des Menschen fragen. Gott selbst war anwesend: nämlich in seinem Gebot „Du sollst nicht töten“. Mir liegt daran zu zeigen, dass wir unsere geschichtliche Verantwortung selbst tragen müssen. Wenn wir diese Verantwortlichkeit auf Gott projizieren, wird auch Gott selbst zu einer Projektion. In diesem Punkt ist der Dialog mit Atheisten ohne Weiteres sehr gut möglich.

HK: Besteht das Problem nicht darin, dass die Indifferenten die größte Gruppe sind und es nur relativ wenig Menschen gibt, die wirklich Suchende sind – oder gar bereit sind über Gott zu streiten?

Halík: Viele, die mit Gott kämpfen, sind ihm näher als die Gleichgültigen. Schon im Alten Testament wird bezeugt, dass Gott jene liebt, die mit ihm ringen. Karl Rahner hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Gott mit jedem Menschen seine Geschichte habe. Natürlich braucht es dafür auch eine Sensibilität, da spielen auch das kulturelle Milieu und der jeweilige Zeitgeist eine Rolle. Ich versuche zu zeigen, dass in der Tiefe aller menschlichen Erfahrungen etwas Heiliges zu finden ist. Immerhin gibt es wenige Leute, denen nichts heilig ist. Was liegt etwa dem menschlichen Vertrauen zugrunde? In der Tiefe aller Hoffnungen der Menschen gibt es etwas, das den Menschen überschreitet. Das ist eine Spur der Transzendenz. Auch in unserer Beziehung zur Schönheit gibt es die Spuren des Heiligen im menschlichen Leben. Viele Menschen sind heute sensibel für diese Spuren, auch wenn sie das nicht in einer religiösen Sprache ausdrücken. In diesem weiten Sinne sind viele Menschen religiös. Nur ist das kirchliche Angebot oft zu eng, sodass diese Menschen sich anderen Angeboten zuwenden.

HK: Und wie soll man denen im Gespräch begegnen, die Gott nicht vermissen? Denjenigen, die eine große Gleichgültigkeit an den Tag legen, kann man Gott ja nicht andemonstrieren …

Halík: Natürlich ist es ein Problem, wenn Menschen ganz satt sind. Jesus hat gesagt, dass er zu denen gekommen sei, die Hunger und Durst haben. Was will man mit den Satten machen, wenn es kein Gefühl der Dankbarkeit angesichts der Schöpfung gibt, sondern die Wirklichkeit als ein banales Faktum angesehen wird? Wenn man nur an der Oberfläche des Lebens bleibt, ist das wirklich schwierig. Die Jünger Jesu sind jedenfalls nicht einfach zufrieden mit der Welt, wie sie ist. Der Glaube beginnt mit dem Fragen – und mit dem Gefühl der Dankbarkeit. Wenn jemand sein Leben als Gabe und Aufgabe versteht, auch ohne ausdrückliche religiöse Terminologie, dann ist er auch dem Glauben nahe.

HK: Aus der Sicht des Glaubens ist das ohne Weiteres nachvollziehbar. Aber fühlen sich Atheisten nicht da auch schnell vereinnahmt? Wird Ihnen da nicht etwas übergestülpt?

Halík: Selbstverständlich können dieselben Erfahrungen aus verschiedenen Perspektiven interpretiert werden. Man kann das Schweigen Gottes auch atheistisch interpretieren und sagen, Gott ist tot. Aber wir als Gläubige haben das Recht und die Pflicht, auf unsere Sicht hinzuweisen.

HK: Und wie zwingend ist der Hinweis auf den dezidiert christlichen Glauben, wenn andere sich sensibel für Spuren des Heiligen zeigen? Ist es von dort nicht noch ein weiter Weg zum trinitarisch gedachten Gott der christlichen Tradition mit alle ihren Haken und Ösen einschließlich der heutigen kirchlichen Praxis?

Halík: Das tiefste Paradox besteht doch in der Verbindung von Göttlichem und Menschlichem – schon im Verständnis der Heiligen Schrift. Der Mensch ohne Transzendenz ist nicht ganz. Das Göttliche ohne das Menschliche wäre reine Projektion. Wie Gott und Mensch verbunden werden, ist das entscheidend Christliche, dass man außerhalb des Christentums so nicht finden kann.

HK: Was heißt das genauer für die heute so virulente Gottesfrage?

Halík: In meinen Augen ist Gott der Kontext, also gewissermaßen der Horizont von allem, während unsere Welt immer nur aus Fragmenten besteht. Um sie besser zu verstehen, müssen wir diesen Kontext berücksichtigen. Gott selbst kann deshalb aber auch nicht einfach begriffen werden. Mit Recht hat Paulus gesagt, dass wir Gott nur im Spiegel sehen – und er für uns deshalb auch ein Rätsel bleibt. Wir brauchen deshalb eine ­eschatologische Geduld. Das gilt vor allem angesichts jener, die mit Enthusiasmus und Ekstase auf das Schweigen Gottes antworten. Das ist genauso abzulehnen wie die Traditionalisten, die das Schweigen Gottes ignorieren und einfach ihre alten Formeln wiederholen. Der reife Glaube muss auch die Verborgenheit ertragen – und mit Glauben, Hoffnung und Liebe in dieses Geheimnis eintreten.

 „Zweifel und Glaube sollen sich gegenseitig korrigieren“

HK: Was folgt darauf für den christlichen Glauben selbst? Welche Rolle darf der Zweifel spielen?

Halík: Zweifel und Glaube sind wie Geschwister. Sie brauchen einander. Sie sollen sich gegenseitig korrigieren. Der Glaube ohne Zweifel kann zum Fanatismus führen, aber auch der Zweifel, der die eigenen Zweifel daran ausblendet, kann in Zynismus und Bitterkeit münden. Die letzten beiden Päpste, ­sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI., haben in ­diesem Sinne betont, dass Glauben und Denken zusammengehören. Die Vernunft ist ein sehr wichtiger Partner für den Glauben. Aber schon Blaise Pascal und dann auch Immanuel Kant haben gesagt, dass es die wichtigste Aufgabe der Vernunft sei, die eigenen Grenzen ernst zu nehmen. Letztlich ist der Glaube wie ein Feuer und die Vernunft wie der Kamin. Ein Glaube ohne Vernunft kann gefährlich werden. Aber der Theologe sollte nicht nur in einem bequemen Sessel am Feuer sitzen, sondern muss auch auf die Funken achten, die aus dem Kamin springen: Die mystische Tradition und die negative Theologie sprengen manches Mal die Grenzen. Ein Rationalismus ohne die spirituellen Impulse aus der Welt des Glaubens ist genauso einseitig und kann ebenfalls gefährlich werden.

HK: Wer aber ist Gott genauerhin, wenn er letztlich Geheimnis ist?

Halík: Schon Meister Eckhart hat darauf hingewiesen, dass Gott nicht in dieser Welt zu finden ist. Er gehört nicht der Welt der Dinge und Gegenstände an. Wir müssen uns von der Fixierung auf die Dinge dieser Welt befreien. Wer innerlich frei ist, ist auch offen für das Geheimnis Gottes und kann ihm begegnen. Nur in einem solchen Kontext der Stille können wir Gottes Selbstoffenbarung wirklich annehmen. Das Entscheidende ist nicht, ob wir an ihn glauben, sondern ob wir ihn lieben. Nur in der Tiefe der Erfahrung der Liebe können wir den Sinn des Wortes „Gott“ neu entdecken. Das Problem ist, dass viele Gläubige, aber eben auch viele Atheisten meinen, dass sie viel von Gott wissen und es einfach sei, von Gott zu reden.

HK: Muss man als Kirche – etwa in der Verkündigung – nicht affirmativer von Gott sprechen, weil bei den Adressaten sonst der Eindruck entsteht, man wisse es eben auch nicht so genau?

Halík: Natürlich brauchen wir auch eine affirmative Sprache. Das Christentum ist eine Religion der Inkarnation. Es inkarniert sich sowohl in die Gemeinde der Gläubigen als auch in die Gesellschaft. Für die Kommunikation braucht es deshalb auch verständliche Worte, Gesten und Riten. Aber wir müssen uns ständig bewusst sein, dass alle diese Dinge ganz im Sinne von Metaphern auf Gott verweisen und nicht Gott selbst sind. Wir dürfen diese Hilfsmittel nicht zu ernst nehmen.

HK: Was heißt das konkret?

Halík: Wir Christen begegnen Gott in der Menschlichkeit Jesu. Zu den Paradoxien des christlichen Glaubens gehört, das sich Jesus einerseits als den einzigen Weg zu Gott bezeichnet hat, man andererseits ihm zufolge Gott auch in der Menschlichkeit eines jeden Menschen begegnen kann. Die Wunden Jesu sind die Wunden unserer Welt. Wenn wir jedoch die Wunden dieser Welt ignorieren, haben wir kein Recht, wie der Apostel Thomas „mein Herr und mein Gott“ zu sagen. Daraus folgt auch, dass ein Gott ohne Wunden, ein Glaube ohne Wunden und eine Kirche ohne Wunden nicht wahrhaftig sind. Das ist das entscheidend Christliche – und deshalb ist es auch notwendig, gegen allen Triumphalismus die Theologie des Kreuzes, eine kenotische Christologie und eine ihr entsprechende Ekklesiologie wieder neu zu entdecken.

HK: Was meint vor diesem Hintergrund Ihre Forderung, das Christentum in erster Linie und dezidiert als einen Lebensstil zu begreifen?

Halík: Glaube ist nicht in erster Linie das Handeln einer Institution oder eine Doktrin. Es geht um Lebensgeschichten, in denen sich der Glaube verkörpert und die ganz unterschiedlich ausfallen können. Auf diese Weise kann man im Übrigen auch die Verehrung der Heiligen innerhalb der katholischen Kirche Protestanten nahe bringen. Bei deren Verehrung geht es natürlich nicht nur um die kanonisierten Heiligen, sondern um alle authentischen Zeugen des christlichen Glaubens. Wahrscheinlich hat Gott nicht wenige dieser Heiligen so in sein Herz geschlossen, dass er ihre Namen der vatikanischen Kongregation für die Heiligsprechung nicht verrät. Es gibt viele solcher anonymen Heiligen. Jede ihrer Lebensgeschichte ist eine kreative, bisher noch nicht da gewesene Interpretation des Glaubens angesichts der Zeichen der Zeit.

HK: Derzeit feiert die katholische Kirche das 50-jährige Konzilsjubiläum, mit dem die Forderung, auf die Zeichen der Zeit zu achten, eng verknüpft ist. Hat sich das Zweite Vatikanum überhaupt mit den für den Glauben heute wesentlichen Fragen auseinandergesetzt?

Halík: Mir ist der erste Satz von Gaudium et spes besonders wichtig, der der Kern des Konzils ist: die Solidarität mit den Menschen. Dieser Satz ist wie ein Ehegelöbnis, mit dem die Kirche sich an die Menschen von heute gebunden und ihm Liebe, Ehrerweisung und Treue versprochen hat. Wir müssen uns allerdings ehrlich fragen, inwieweit die Kirche selbst diesem Versprechen treu geblieben ist. Können wir mit gutem Gewissen heute Goldende Hochzeit feiern? Daneben gibt es natürlich eine ganze Reihe von Herausforderungen, die noch offen sind.

HK: Als da wären …

Halík: Nach fünfzig Jahren gibt es auch neue Zeichen der Zeit, nachdem damals der säkulare Humanismus der Hauptgesprächspartner der Kirche war und die Kirche sich heute auch auf dem bunten Markt des religiösen Angebots bewähren muss. Die Öffnung zur Moderne, um von einer katholischen Gegenkultur zu einer wirklichen Katholizität zu kommen, ist noch nicht vollendet. Es ist gut, dass Benedikt XVI. jetzt auch intensiver den Dialog mit den Suchenden pflegen will und mit dem Vorhof der Völker genannten Projekt ein eigenes Forum dafür geschaffen hat. Entspricht das nicht ganz dem architektonischen Plan des Petersplatzes, dessen Kolonnaden zwar zur Basilika gehören, aber eben noch nicht Kirchenraum sind? Auch diejenigen, die die Basilika nicht betreten, bewegen sich innerhalb dieser ausgestreckten Arme bereits wie in einem schützenden Raum, der Anteil hat am Heiligen.

HK: Müsste das auch für die innere Struktur der Kirche selbst Konsequenzen haben?

Halík: Eine religiöse Gemeinschaft, die nur mit den Hundertprozentigen rechnet, ist eine Sekte. Die Kirche muss verstärkt offen sein für die Suchenden und ihre Fragen ernst nehmen. Wir müssen mit den Suchenden auf der Suche sein, sonst wird der Glaube zur Ideologie. Notwendig aber ist ein Weg, der in die Tiefe geht.

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