Die Naivität moralischer Empörung und die Komplexität des MarktesWer mag schon den Kapitalismus?

In der durch den SPD-Vorsitzenden ausgelösten Kapitalismusdebatte finden sich durchaus Positionen mit Anklängen an die Katholische Soziallehre. Das Verhältnis von Ethik und Kapitalismus wird in dieser Debatte jedoch oft in falschen Alternativen diskutiert.

„Müntefering geißelt, Macht des Kapitals‘ “. Mit diesem Aufmacher auf der ersten Seite erschien die Süddeutsche Zeitung am Morgen des 13. April 2005, noch bevor der SPD-Vorsitzende seine Rede auf dem dritten Programmforum der SPD zum Thema „Demokratie – Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit“ tatsächlich gehalten hatte. Was folgte, ist in den Grundzügen bekannt: eine fast schon hysterische Aufregung bei Unternehmern und deren Verbänden auf der einen Seite, aber eben auch begeisterte oder heimliche Zustimmung bei etwa drei Vierteln der Deutschen, über alle Parteien hinweg. Endlich, so die Meinung vieler, spricht mal jemand aus, was laut und deutlich gesagt werden muss, was aber längere Zeit tabuisiert zu sein schien. Liest man jedoch Münteferings Rede im Wortlaut nach, reibt man sich die Augen. Es geht hier um Sinn und Wert der Demokratie, ihre Voraussetzungen, ihre Bewahrung und Verteidigung. In diesem Zusammenhang kam Müntefering in einem kurzen Abschnitt auch auf das Spannungsverhältnis von demokratischem Staat und ökonomischer Macht zu sprechen und sagte Dinge, die im wissenschaftlichen Diskurs über das Verhältnis von ökonomischem und politischem System sowie über Grundlagen der Wirtschaftsethik im Kontext einer sich beschleunigenden Globalisierung eigentlich Selbstverständlichkeiten sind. Er stellte fest, die Ökonomie funktioniere nach einer eigenen „abstrakten Logik“, sie kenne den Menschen ja nur als „Größe in der Produktion, als Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt“. Wird dann das ökonomische System zu dominant, kann es zu einer Gefahr werden für die Demokratie. „Deshalb“, so Müntefering, „wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur.“ Weil aber im Zuge der Globalisierung der Nationalstaat „an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit stößt“, müssten demokratische Staaten, beispielsweise auf EU-Ebene, zusammenarbeiten, um ihre wirtschaftspolitischen und sozialstaatlichen Aufgaben noch wahrnehmen zu können. Und dann kommt, nachdem betont wurde, es gebe noch viele Unternehmen, die sich „für ihre Arbeitnehmer und für den Standort mitverantwortlich fühlen und entsprechend handeln“, der Satz, der im oben genannten Aufmacher aufgegriffen wurde: „Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns.“

Der Mensch hat im Mittelpunkt zu stehen

Offenbar muss daran erinnert werden, dass es in Deutschland, von den Politikern über die Kirchen bis zu den einschlägigen Wissenschaften, einen breiten Konsens gibt oder jedenfalls gab, dass zwar eine Marktwirtschaft hinsichtlich Effizienz und Innovationskraft und besonders hinsichtlich ihrer Freiheitspotenziale einer Planwirtschaft weit überlegen ist, der Markt aber eine hoch anspruchsvolle gesellschaftliche Institution ist. Sie braucht, soll sie funktionieren, staatlich gesetzte Rahmenbedingungen, die der Markt selbst nicht hervorbringen kann. Dazu gehört die Bereitstellung öffentlicher Güter: gesetzliche Regelungen und Rechtssicherheit, zum Beispiel Kartellrecht, Verbraucherschutz, Arbeitsrecht, Tarifrecht, aber auch staatlich organisierter sozialer Ausgleich für diejenigen, die wegen Alter, Krankheit oder aus anderen Gründen am Markt nichts anzubieten haben. Auch muss es Aufgabe staatlicher Ordnungspolitik sein, die vielfältigen unerwünschten externen Effekte, wie beispielsweise Umweltschäden, zu verhindern, zu beseitigen oder auszugleichen. Zumindest in der Denktradition „sozialer (und ökologischer) Marktwirtschaft“ wurde dabei nie bestritten, dass es der demokratische Staat ist, der den Primat über diese Gestaltung eines Rahmens für die Ökonomie beanspruchen muss, denn Ökonomie und Markt sind Instrumente für die Gesellschaft, nicht umgekehrt. In einem demokratischen Staat müssen die einzelnen Bürgerinnen und Bürger in der Lage sein, sich an den Entscheidungen mit dem Gewicht ihrer je gleichen Stimme zu beteiligen, dürfen nicht entsprechend ihrer ökonomischen Potenz sich politischen Einfluss erkaufen können. Oder sollten wir wirklich häufig zufälligen oder willkürlichen Marktprozessen unser gemeinsames oder individuelles Schicksal überlassen? Das würde sicherlich unserer Vorstellung von der Würde des Menschen als eines Wesens widersprechen, das sich, individuell und gemeinsam mit anderen, Ziele setzen und sie verfolgen kann, jedenfalls nicht nur Objekt und Spielball blinder Prozesse sein will und darf. Der Mensch hat im Mittelpunkt zu stehen, so auch der Tenor der Rede Münteferings auf dem vierten Programmforum der SPD am 19. Mai. Ist dagegen etwas zu sagen?

Deutliche Anklänge an die Katholische Soziallehre

Die kapitalismuskritischen Positionen des Katholiken Müntefering stimmen überein mit christlich-sozialethischem Denken, insbesondere auch mit der Katholischen Soziallehre. In vielen Punkten gibt es sogar nicht nur Einklang, sondern deutliche Anklänge. Beispielswiese lehnt das Gemeinsame Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997 „Marktwirtschaft pur“ ebenfalls entschieden ab: „Mit einer Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel der sozialen Gerechtigkeit gefährdet werden“ (Nr. 146). Das Sozialwort spricht von einer „ungehinderten Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen auf Weltebene und der daraus resultierenden Beschränkung des politischen Handlungsspielraums einzelner Staaten“. Es verlangt deshalb „eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für wirtschaftliches und soziales Handeln“ (Nr. 163).

Die Katholische Soziallehre, die sich von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert an sowohl von einem marxistischen Sozialismus wie vom liberalen Kapitalismus abgrenzte und einen „Dritten Weg“ zwischen beiden Modellen favorisierte, ist voll von Kapitalismuskritik, bis hin zu sehr massiven Formulierungen, wie sie etwa Pius XI. unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und der Zusammenballung wirtschaftlicher Macht 1931 in der Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ gebrauchte: „Als einen der schwersten Schäden [eines zum zügellosen Machtstreben gesteigerten Gewinnstrebens] nennen wir die Erniedrigung der staatlichen Hoheit [...] zur willenlos gefesselten Sklavin selbstsüchtiger Interessen. Im zwischenstaatlichen Leben aber entsprang der gleichen Quelle ein doppeltes Übel: hier ein übersteigerter Nationalismus und Imperialismus wirtschaftlicher Art, dort ein nicht minder verderblicher und verwerflicher finanzkapitalistischer Internationalismus oder Imperialismus des internationalen Finanzkapitals, das sich überall da zu Hause fühlt, wo sich ein Beutefeld auftut“ (Nr. 109). Das wirtschaftsethische Grundprinzip Katholischer Soziallehre findet sich besonders präzise ausgedrückt in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft“ (Gaudium et Spes, 63). Im Vergleich zu früheren Päpsten hat Johannes Paul II. vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit der Planwirtschaft im damals noch sozialistischen Polen die freie Marktwirtschaft noch relativ positiv bewertet. In „Sollicitudo Rei Socialis“ (1987) betont er das „Recht auf wirtschaftliche Initiative“ (Nr. 15). In „Centesimus Annus“ (1991) wird „die berechtigte Funktion des Gewinnes als Indikator für den guten Zustand und Betrieb des Unternehmens“ (Nr. 35) anerkannt. Doch wie schon in „Laborem Exercens“ (1981) der Vorrang der Arbeit vor dem Kapital betont wurde, bleibt auch in dieser letzten Sozialenzyklika Johannes Pauls II. die Wirtschaft eindeutig auf den Menschen bezogen. Der Zweck des Unternehmens und des Wirtschaftssystems als Ganzes darf also nicht allein im Gewinn gesehen werden. Unhaltbar ist deshalb die Auffassung „die Niederlage des so genannten ,realen Sozialismus‘ lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation übrig“ (Nr. 35). Die Suche nach einem „dritten Weg“ muss weitergehen, selbst wenn der zweite Weg, der Sozialismus, nicht mehr existiert. „In diesem Sinne kann man mit Recht von einem Kampf gegen ein Wirtschaftssystem sprechen, hier verstanden als Methode, die die absolute Vorherrschaft des Kapitals, des Besitzes der Produktionsmittel und des Bodens über die freie Subjektivität der Arbeit des Menschen festhalten will.“ Die Alternative zu einer solchen reinen Marktwirtschaft sei freilich nicht der Sozialismus, sondern eine „Gesellschaftsordnung der freien Arbeit, der Unternehmen und der Beteiligung. Sie stellt sich keineswegs gegen den Markt, sondern verlangt, dass er von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu gewährleisten.“ Übrigens stimmte am 1. Mai 2005 auch der Vorsitzende der Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Reinhard Marx, in die Kapitalismus-Kritik mit ein und kritisierte Firmen, die trotz riesiger Gewinne Mitarbeiter entlassen, um noch mehr Profit zu machen.

Die Kapitalismuskritik ist nicht risikofrei

Ist damit die Aufregung um die Kapitalismuskritik von Müntefering grundlos? Hat er doch nur Altbekanntes und Selbstverständliches von sich gegeben? Nicht ganz! Denn in einem Interview mit „Bild am Sonntag“, das unter der Überschrift „Kapitalismus mag ich nicht“ erschien (16.4.2005), sagte Müntefering die Sätze, die die Debatte erst richtig in Schwung brachten: „Ich wehre mich gegen Leute aus der Wirtschaft und den internationalen Finanzmärkten, die sich aufführen, als gäbe es für sie keine Schranken und Regeln mehr. Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismuskämpfen wir.“ Damit die „Heuschrecken“ dann doch nicht so anonym blieben, nannte Müntefering auch einen Namen: Josef Ackermann, der inzwischen– nicht ohne eigene Schuld – überhaupt zur Inkarnation des bösen Kapitalisten promoviert wurde. Es war insbesondere dieser Vergleich mit den Heuschrecken, der wütende Reaktionen auslöste, weil sich viele persönlich angegriffen fühlten und in dieser Kapitalistenschelte Gefahren für den Investitionsstandort Deutschland witterten. Guido Westerwelle protestierte gegen den als verunglimpfend empfundenen Vergleich mit biblischen Plagen, nicht ohne bald darauf die Gewerkschaften als die eigentliche Plage ebenso zu verunglimpfen. In der SPD kursierten Listen von „Heuschreckenfirmen“, auf denen neben „private-equity“-Firmen und Hedge-Fonds peinlicherweise auch Investoren auftauchten wie die Beteiligungsgesellschaft Kohlberg Kravis Roberts (KKR), die in Deutschland langfristig investiert und viele Arbeitsplätze geschaffen hatten. Vergessen worden war offenbar auch, dass die rot-grüne Bundesregierung selbst in den Jahren zuvor dankbar war, staatliche Unternehmen an solche Gesellschaften veräußern zu können. Auch diverse Reformen dieser Bundesregierung, besonders die Steuerfreistellung von Veräußerungsgewinnen, die dazu dienen sollten, die starken Verflechtungen von Wirtschaft und Banken in Deutschland zu lockern, erleichterten es solchen Investoren, sich in Unternehmen einzukaufen und darin dann auch Einfluss zu nehmen. Sicherlich spielte bei diesen Angriffen die inzwischen verloren gegangene Wahl in Nordrhein-Westfalen eine Rolle. Müntefering und die SPD sind jedoch ein großes Risiko eingegangen, denn trotz aller emotionalen Zustimmung war auch klar, dass die Bürgerinnen und Bürger nach den Hartz-IV-Reformen wohl nicht ausgerechnet der SPD zutrauen würden, ihre wieder gewonnene antikapitalistische Position in konkrete Politik umzusetzen. Insofern könnten die Auftritte des SPD-Vorsitzenden, über die Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung schrieb, sie hätten „etwas Naives, ja Drolliges“ (20.4.2005), eher Wasser auf die Mühlen des neuen Linksbündnisses von PDS und WASG, beziehungsweise von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine gewesen sein und zu dem inzwischen offensichtlichen Ansehens- und Machtverfall der SPD, ihres Vorsitzenden und des Kanzlers beigetragen haben. Daran änderte auch der groß angekündigte SPD-Kongress zur sozialen Marktwirtschaft am 14. Juni 2005 nichts, auf dem die Positionen in gemäßigter Form nochmals wiederholt wurden.

Ein gefährliches Missverständnis der Institution Markt

Für das Verhältnis von Ethik und Kapitalismus scheint es für die meisten Zeitgenossen nur die folgende Alternative zu geben: Entweder bezieht man eine starke moralische Position und sieht sich dann gezwungen, den Kapitalismus mit seinem Gewinnstreben und wegen der durch ihn hervorgebrachten wachsenden Ungleichheiten kategorisch abzulehnen. Oder man sieht realistischerweise ein, dass Marktwirtschaften ihre Dynamik dem Eigeninteresse der Beteiligten verdanken, dass ein hohes Maß an Gleichheit Eingriffe in den Markt erforderlich machen würden, die diesen zerstören müssten, und zieht daraus den Schluss, dass Ethik hier nichts zu suchen habe. Beide Positionen sind in gefährlicher Weise naiv und überaus unfruchtbar. Sie verhindern nämlich, dass moralische Einsichten in konkrete Politik umgesetzt werden können. Erstere könnte ja ihre moralischen Positionen erst realisieren, wenn der Kapitalismus eines fernen Tages vielleicht einmal grundsätzlich überwunden wäre. Letztere lehnt eine systematische Umsetzung von Ethik in der Wirtschaft überhaupt ab. Beide Positionen übersehen, was die Institution Markt in modernen Gesellschaften auszeichnet, dass sie nämlich kein Naturereignis ist, sondern eine von Menschen gemachte und bewusst gestaltbare gesellschaftliche Einrichtung. Moralische Einsichten können und müssen in erster Linie dadurch in diesem System implementiert werden, dass von ihnen her die Rahmenbedingungen des Marktes justiert werden. Hier ist modernen wirtschaftsethischen Ansätzen zuzustimmen, die für das Wirtschaftsgeschehen zwischen Spielzügen (dem Handeln der einzelnen Wirtschaftssubjekte) und Spielregeln (den Rahmenbedingungen des Marktes) unterscheiden. Die Spielregeln müssen so gestaltet sein, dass das Ergebnis der Spielzüge insgesamt moralisch erwünscht ist, auch wenn die einzelnen Handelnden ihre Spielzüge durchaus eigeninteressiert kalkulieren. Der primäre Ort der Moral, darin ist Karl Homann zuzustimmen, sind die Spielregeln, die allerdings das Handeln der Wirtschaftssubjekte nicht vollständig determinieren, so dass ein weites Feld für die Unternehmensethik und für „Moral Management“ bleibt. Anders als Homann halte ich es auch nicht für möglich, die Moral selbst „ökonomisch“ zu rekonstruieren. Wenn man aber argumentativ begründete wirtschaftsethische Maximen umsetzen will, dann ist dies nicht in erster Linie über moralische Appelle an einzelne Handelnde möglich, sondern muss vor allem über die Gestaltung der Rahmenbedingungen geschehen. Es ist deshalb ziemlich billig, einzelne Unternehmer oder Unternehmen des unmoralischen Handelns zu bezichtigen. Auf die Anklagebank gehören vielmehr die Politiker, denen es offenbar immer weniger gelingt, durch klare ordnungspolitische Maßnahmen den Markt Bedingungen zu unterstellen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zum moralisch erwünschten Ergebnis führen. Um nur ein mögliches Handlungsfeld anzudeuten: Anstatt Unternehmen an den Pranger zu stellen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen, sollten arbeitsrechtliche Regelungen, Lohnneben- und Lohnzusatzkosten so verändert werden, dass die Anreize zur Arbeitsplatzvernichtung zurückgehen. Ein wichtiger Faktor dabei müsste sein, die wachsende Belastung des Faktors Arbeit durch Sozialabgaben dadurch zu reduzieren, dass größere Teile des Systems sozialer Sicherung über Steuern finanziert werden. Falls es wirklich gleichzeitig zu einer entsprechenden Absenkung der Lohnnebenkosten käme, wäre sogar eine Mehrwertsteuererhöhung eine Maßnahme, die positive Arbeitsmarkteffekte haben könnte. Soziale Transferzahlungen müssten freilich entsprechend dem Bedarfsprinzip dann der dadurch beschleunigten Preisentwicklung angepasst werden.

Sicherlich hat Müntefering Recht, wenn er in diesem Zusammenhang auf die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten von Nationalstaaten verweist – wobei aber gerade im Falle der Mehrwertsteuer die Sätze in fast allen EU-Staaten erheblich höher sind als bei uns. Weil notwendige Rahmenbedingungen und die jüngst stärker ins Blickfeld kommenden „globalen öffentlichen Güter“ nicht mehr in erster Linie auf nationaler Ebene aufrecht erhalten oder geschaffen werden können, auf internationaler Ebene die dafür notwendigen Institutionen aber noch nicht zur Verfügung stehen, droht ein Rückfall hinter die Errungenschaften sozialer und ökologischer Marktwirtschaft. Offenbar können sich Länder mit Wirtschaftsstilen, die schon früher stärker auf marktliche Prozesse und weniger auf kooperativistische Lösungen beziehungsweise staatliche Regulierungen setzten, besser auf die Globalisierung einstellen. Großbritannien beispielsweise ist seit Anfang der neunziger Jahre ökonomisch erheblich erfolgreicher als Deutschland, was auch den Armen dort zugute kommt. Selbst wenn für diese Länder der Anpassungsbedarf nicht so groß zu sein scheint, brauchen aber auch sie supranationale oder globale Regulierungen und Maßnahmen. Gerade das „neoliberale“ Großbritannien hat ja gerade durch seine Initiative zugunsten eines Schuldenerlasses für die ärmsten Entwicklungsländer einen Einsatz für globale öffentliche Güter erkennen lassen, bei dem Deutschland offenbar bis zuletzt sehr viel zurückhaltender war. Solche supranationalen Regulierungen, wie sie zum Beispiel in der EU oder bei der WTO in Angriff genommen werden, brauchen lange und schwierige Verhandlungsprozesse und sind schwer durchzusetzen. Aber es gibt keine andere Option, wenn wir nicht in die Zeiten des Protektionismus zurückfallen wollen, was erhebliche Wohlstandsverluste mit sich brächte, vor denen sich die Wohlhabenden besser schützen könnten als die Armen. Aber offenbar muss hierfür sowohl bei Politikern wie Wirtschaftsvertretern, vor allem aber auch unter Wählerinnen und Wählern noch ein gutes Stück Aufklärungsarbeit geleistet werden. Denn es sind ja offenbar diese selbst, die nicht nur auf nationaler Ebene notwenige Reformen blockieren, indem sie immer wieder gerade die bestrafen, die mutig Reformen in Angriff genommen haben. Auch im Hinblick auf die internationale Ebene verhindern sie derzeit paradoxerweise in einer naiven Gegnerschaft zur Globalisierung die notwendigen Verträge (wie die EU-Verfassung) und verringern gerade dadurch aber die nur noch supranational möglichen politischen Gestaltungschancen der Globalisierung. Entgegen ihrem Anliegen schwächen sie so die Politik im Verhältnis zum weltweit operierenden Kapital. Es gibt also viel zu tun und zu verändern, aber eben nicht nur bei denen, die derzeit auf der Anklagebank sitzen.

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