Wie viel religiöses Profil braucht die Christliche Sozialethik?Sprengkraft gelebter Hoffnung

In den letzten Jahren hat sich die Christliche Sozialethik erfolgreich bemüht, ihre Anschlussfähigkeit an die breiten interdisziplinären und zivilgesellschaftlichen Debatten einer zunehmend „nachchristlichen“ Gesellschaft sicherzustellen. Bedarf es nun im Gegenzug einer stärkeren Profilierung ihrer theologischen Identität? Die Betonung des religiösen Profils hat ihre „Fallen“, aber in den allgemeinen Debatten um Fragen des Guten Lebens sollte christliche Sozialethik ihre Herkunft nicht verstecken.

Wer sich heute als Sozialethiker in der breiten Öffentlichkeit zu aktuellen Fragen äußert, sieht sich einer ambivalenten Erwartungshaltung gegenüber: Einerseits wird mit Argusaugen darauf gewartet, dass man sich durch kirchlich-traditionell wirkende Äußerungen als rückständig und deshalb als kaum noch ernst zu nehmender Gesprächspartner entpuppt. Dann kann das Publikum entweder seine Vorurteile getrost bestätigt finden oder seine Sehnsucht nach unverrückbaren Positionen auf kirchliche Instanzen projizieren. Wenn man jedoch andererseits Wert darauf legt, durch einen rationalen und allgemein zugänglichen, von religiösen Bezügen möglichst gereinigten Diskurs seine Anschlussfähigkeit zu beweisen, wenden sich die Zuhörer enttäuscht ab und beklagen sich, dass sie solche Argumente ja überall hören könnten und von Vertretern einer christlichen Ethik ein anderes Profil erwartet hätten. Manchmal gipfelt diese Enttäuschung in der kritischen Frage, ob man denn überhaupt noch katholisch beziehungsweise evangelisch sei (Manchmal scheint der Profilierungsdruck in der evangelischen Kirche sogar größer zu sein als in der katholischen).

In den letzten Jahren hat die Christliche Sozialethik sicherlich enorme Fortschritte gemacht, das innerdisziplinäre Gespräch jenseits alter Lagerkämpfe voran gebracht und einigen Ballast abgeworfen, um ihre Anschlussfähigkeit an die breiten Debatten einer zunehmend „nachchristlichen“ Gesellschaft sicher zu stellen. Insofern ist sie „endlich in der Moderne angekommen“, wie dies der Augsburger Sozialethiker Thomas Hausmanninger auf der repräsentativ besetzten Jubiläumstagung „Gesellschaft begreifen – Gesellschaft gestalten“ zum 50-jährigen Bestehen des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften (ICS) in Münster im November 2001 formulierte (Die Referate und Korreferate werden im nächsten „Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften“ veröffentlicht). Jedoch könnte es sein, dass die Sozialethik selbst damit möglicherweise schon wieder zu spät dran ist. Die Würdigung der Tatsache, dass auch christliche Sozialethiker etwas von Ökonomie, Politikwissenschaft, Ökologie, Friedensforschung, Gentechnik und dem Internet verstehen und „die Kirche“ in ihren Stellungnahmen „erstaunlicherweise“ gar nicht so unvernünftige Ansichten vertrete, verliert zunehmend an Bedeutung, je mehr das gesellschaftliche Gewicht dieser Kirche oder des Katholizismus abnimmt. Einen Schlüsselsatz des Synodendokuments „Unsere Hoffnung“ paraphrasierend scheint es so zu sein, als brauche die Welt keine Verdoppelung ihrer oft fruchtlosen Ethikdebatten durch eine christliche Sozialethik, die ihr Selbstbewusstsein aus der Anerkennung ihrer Anschlussfähigkeit an den wissenschaftlichen mainstream bezieht, sondern eben „das Gegengewicht, die Sprengkraft gelebter Hoffnung“. Doch wo wird diese Hoffnung so gelebt, dass die Christliche Sozialethik in einer ihr angemessenen Weise ihre Sprengkraft zur Geltung bringen könnte?

Die Nachfrage nach christlicher Sozialethik hat sich massiv verändert

Solange die im 19. Jahrhundert angesichts der Sozialen Frage entstandene „Christliche Sozialwissenschaft“ in erster Linie „Milieubetreuungswissenschaft“ war, bestand ihre Aufgabe vornehmlich darin, für das politische Handeln des Sozialkatholizismus sozialwissenschaftliches Fachwissen zu rezipieren und den Akteuren zur Verfügung zu stellen. Den politisch engagierten christlichen Laien und kirchlichen Amtsträgern wurde es dadurch möglich, sich „ad extra“ mit den Mitteln allgemeinmenschlicher Vernunft in die öffentlichen Auseinandersetzungen um notwendige politische Reformen einzubringen. Die christliche Identität des Faches und die Verbindung zur eigenen Tradition „ad intra“ stand nicht zur Debatte; sie war trotz aller Konflikte und Lagerkämpfe selbstverständlich gewährleistet durch seine Zuordnung zum Handeln von Christen innerhalb eines noch weitgehend intakten Milieus und die starke Einbindung der Fachvertreter in die kirchliche Hierarchie. Durch die fortschreitende Erosion des katholischen Milieus, die damit einhergehende Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen, die Krise des Priesternachwuchses und die Bürokratisierung des Organisationssystems Kirche mit ihrer institutionellen Eigendynamik ging der Sozialethik und den anderen theologischen Fächern ein wichtiger Teil kirchlicher Einbettung und damit eine entscheidende Klammer zwischen den theologischen Fächern verloren. Auf der Jubiläumstagung des ICS meinte der Kölner Sozialethiker und Systematische Theologe Hans-Joachim Höhn, die Christliche Sozialethik löse auf Seiten ihrer primären Bezugswissenschaften zunächst vor allem Immunreaktionen aus. Offensichtlich habe sie nichts Eigenes anzubieten, was auf den Reflexionsstufen der Sozialanalyse, der Normenbegründung und -operationalisierung für die anderen von Belang sei.

Die veränderte Nachfragesituation gegenüber der Sozialethik im Besonderen und der Theologie im Allgemeinen findet eine Parallele in der Nachfrage nach kirchlichen Angeboten überhaupt. In Auswertung verschiedener einschlägiger Studien hat Michael Schramm (früher Erfurt, jetzt Stuttgart-Hohenheim) in seinem bemerkenswerten Buch „Das Gottesunternehmen – Die Katholische Kirche auf dem Religionsmarkt“ (Leipzig 2000) herausgearbeitet, dass es empirisch dann eine Nachfrage nach kirchlichen Angeboten gibt, wenn diese von Fragen der Transzendenz, des Trostes in Lebenskrisen oder der Frage nach dem Sinn des Lebens handeln, wenn es um Lebenswenderituale oder karitatives Engagement geht oder von den Kirchen ein grundsätzliches Eintreten für die Achtung vor dem Leben erwartet wird. Weit geringer fällt diese Nachfrage aus, wenn Kirche oder Theologie sozialethische Angebote machen und sich darüber in die Diskussion um politische oder wirtschaftliche Fragen einmischen. Gänzlich ablehnend reagieren die meisten, wenn sich Kirche oder Theologie zu ethischen Fragen der individuellen Lebensgestaltung äußern. Dies wird häufig als unzulässige „Einmischung in innere Angelegenheiten“ abgewehrt. Dementsprechend wird den Kirchen von Seiten der Unternehmensberatungen immer wieder angeraten, sich auf ihr „Kerngeschäft“, nämlich „die Religion“ oder „das Religiöse“ zu konzentrieren und ethische Stellungnahmen dahinter zurücktreten zu lassen.

Wo Sozialethiker oder kirchliche Gruppen in die Öffentlichkeit gehen wollen – wie beispielsweise jüngst die Arbeitsgruppen in dem leider bis jetzt intern gebliebenen Konsultationsprozess „Beteiligung schafft Gerechtigkeit“ –, tritt inzwischen das Problem auf, dass ihre Beiträge in der Öffentlichkeit stärker als Stellungnahmen „der Kirche“ überhaupt betrachtet werden. Die Debatte um solche Äußerungen verschiebt sich dann weg von den Sachfragen zum Problem einer Profilierung des Auftretens der Kirche als Kirche in der Öffentlichkeit. In solchen Tendenzen liegt die Gefahr, dass nicht mehr die Suche nach rationalen Problemlösungen im Vordergrund steht, sondern das Streben nach Profil und unverwechselbarer Identität. Es wird mehr „christliches Profil“ eingefordert, um den Erwartungen einer nachchristlichen Gesellschaft entsprechen zu können, die in Bezugnahmen auf Religion zugleich die Hoffnung auf eine besondere Autorität investiert und von religiös begründeten Maximen in besonderer Weise fasziniert zu sein scheint, wobei diese Faszination nicht nur von christlichen Äußerungen, sondern in ähnlicher Weise auch von Beiträgen fernöstlicher Religionen, des Judentums oder des Islams ausgeht.

Was bedeutet das beschriebene Phänomen für die Christliche Sozialwissenschaft? Die Suche nach einem solchen Profil und einer theologischen Identität Christlicher Sozialethik darf nicht dazu verführen, hinter die mühsam errungene Einsicht zurückzufallen, dass es eine „Autonomie der weltlichen Sachbereiche“ (GS 36) gibt, die für das ethisch verantwortliche Handeln berücksichtigt werden muss. Ohne Kenntnis der Situation, ohne Abschätzung der Folgen und Nebenwirkungen kann man gerade in der politischen Praxis nicht moralisch handeln. Der Rückbezug auf den Reichtum der eigenen Tradition, auf lehramtliche Äußerungen oder auf Glaubenseinsichten kann die Analyse der „Zeichen der Zeit“, die immer der erste Schritt im Dreischritt „Sehen-Urteilen-Handeln“ sein muss, einfach nicht ersetzen.

Aber auch in der normativen Begründung des moralisch Richtigen darf man nicht der Versuchung erliegen, zu denken, es genüge der Rekurs auf religiöse Einsichten. Von ihnen mag eine Faszination ausgehen, ein oft unterschätztes Anregungspotenzial und die notwendige Kraft, das Alltagsbewusstsein in Frage zu stellen. Um aber heutige Menschen über die Grenzen unterschiedlicher Weltanschauungen hinweg zu überzeugen, braucht es die Suche nach einer minimalen argumentativen Basis, die niemals mehr in einer von allen geteilten religiösen Position bestehen wird. Sicherlich lässt sich beispielsweise in den aktuellen Debatten um lebensethische Fragen der moralische Status des Embryos theologisch mit dem Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen von Anfang an oder das Verbot der Euthanasie mit der Aussage begründen, Gott allein sei der Herr über Leben und Tod. Die innere Konsistenz solcher religiös begründeter Positionen mag bei vielen Eindruck machen. Sie werden aber diejenigen nicht moralisch überzeugen, die ihre Voraussetzungen nicht teilen – und das sind in unserer Gesellschaft immer mehr. Es braucht weiterhin eine rationale Begründung für die Forderung, einen „moralischen Standpunkt“ einzunehmen. Hans-Joachim Höhn hat – dabei vermutlich eine Mehrheitsmeinung unter deutschen Sozialethikern widerspiegelnd – in Münster betont, es gebe letztlich keine Alternativen zu den unterschiedlichen Ansätzen diskursiver Begründung von Normen, bei der Situationsanalyse keine Alternative zum interdisziplinären Dialog mit den Sozialwissenschaften und bei der Anwendung und Umsetzung keine Alternative zu einer sorgfältigen Analyse der Implementierungsbedingungen.

Die starke Betonung des religiösen Profils steht auch in der Gefahr, auf die innerkirchliche Diskussion einengend oder sogar disziplinierend zu wirken und die inzwischen erreichte innertheologische und innerkirchliche Pluralität wieder zu reduzieren. Die Forderung nach einem spezifisch religiösen Profil birgt im innertheologischen Streit immer die Versuchung, sich gegenseitig die einander oft ausgrenzende „Gretchenfrage“ zu stellen. Damit würden nicht nur notwendige Lernmöglichkeiten von Pluralitätskompetenz beschnitten, es würde auch die wesentliche Ressource notwendiger interner Kontroversen beeinträchtigt, die unabdingbar gebraucht werden, um überhaupt immer wieder neu herauszuarbeiten, worin denn dieses Proprium besteht.

Kehren sich die Begründungsverhältnisse von Religion und Moral um?

Wenn es die Kirche, mit Karl Rahner gesprochen, „im Ersten und im Letzten mit Gott zu tun“ hat und dieser Gott als unaussprechbares Geheimnis im Leben und der Geschichte der Menschen anwesend ist, dann kann das Proprium nur in vorsichtiger mystagogischer Sprache immer wieder neu in seiner Bezogenheit zur Gegenwartssituation formuliert werden. Und es kann doch nicht so getan werden, als wäre ein für alle Mal und deshalb auch für uns heute ohne weiteres klar, was daraus in moralischer Hinsicht folgt. Wir kennen aus der Kirchengeschichte allzu viele religiös begründete moralische Ansichten, die einmal als unverzichtbar und „gut katholisch“ galten, inzwischen aber überwunden sind. Ich erinnere nur an die Auseinandersetzungen um die Religionsfreiheit oder manche traditionellen Vorstellungen zum Verhältnis von Frau und Mann. Ohne den ständigen Versuch, das, was uns aus unserer Glaubenseinsicht heraus intuitiv moralisch richtig zu sein scheint, auch rational argumentativ gegenüber möglichst allen anderen als moralisch richtig auszuweisen oder es gegebenenfalls auch zu kritisieren und zu hinterfragen, können wir auch als Christen nicht davon überzeugt sein, das Richtige richtig zu finden. Mir scheint die Ethik als theologisches Fach weniger um der Ethik willen, als vielmehr um der Theologie willen notwendig zu sein. Denn zumindest eine Möglichkeit der Kritik religiöser (und theologischer) Geltungsansprüche besteht darin, sie auf gegebenenfalls nicht zu rechtfertigende moralische Implikationen hin abzuklopfen. Der Vorrang des Gerechten (im Sinne rechtlich-formaler Fairnessregeln) vor dem Guten (im Sinne sittlich-materialer Güter einschließlich ihrer weltanschaulichen Grundlagen) gilt auch für die Hermeneutik der eigenen religiösen Tradition. Denn ohne moralische Einsicht hinsichtlich des Gerechten können wir wesentliche Gehalte unserer eigenen Glaubenstradition gar nicht „richtig“ verstehen. Die Rede von der befreienden Macht und der Menschenfreundlichkeit Gottes, wie sie an prominenter Stelle im Magnifikat zum Ausdruck kommt, ist nicht ablösbar von zentralen Gerechtigkeitsintuitionen. Und eine Praxis, die den Glauben an einen solchen Gott verkörpert, kann und darf nur eine Praxis der Gerechtigkeit sein. Sonst lassen sich die weniger menschlichen oder sogar menschenfeindlichen Gehalte, die sich in der kirchlichen Tradition ja ebenfalls finden (beispielsweise der Gedanke, es könne richtig sein, andere mit Waffengewalt zu missionieren), nicht mehr von den menschenfreundlichen Gehalten unterscheiden. Was macht denn den Glauben an einen Gott der Befreiung und der Erlösung plausibel, wenn nicht mindestens auch die Einsicht, dass der Glaube an ihn zu einer Menschlichkeit befreit, die ein moralisches Leben ermöglicht? Sicherlich enthalten religiöse Traditionen unabgegoltene semantische Potenziale mit ethischer Relevanz. Wenn aber auch für „religiös Unmusikalische“ etwas von der Humanität spürbar ist, die in diesen Potenzialen liegt, scheint es auch nicht nur einen exklusiv religiösen Zugang zu ihnen zu geben und dadurch die Möglichkeit, von einem nicht von vornherein religiös gebundenen Standpunkt aus über die Attraktivität einer religiösen Weltsicht zu entscheiden. Weisen wir den in den christlichen Vorstellungen von einem Schöpfergott und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen enthaltenen moralischen Normen Gültigkeit zu, weil wir an diesen Schöpfergott glauben? Oder ist für uns umgekehrt der Glaube an einen Schöpfergott und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen unter anderem deshalb attraktiv, weil wir moralische Implikationen, von denen wir überzeugt sind, in ihm wiederfinden?

Nicht nur kehren sich auf der Basis dieser Überlegungen die Begründungsverhältnisse von Religion und Moral möglicherweise um, in gewisser Weise würden dadurch auch die oben idealtypisch beschriebenen Funktionen christlicher Sozialethik ad extra (allgemeinmenschliche vernünftige Argumentation) und ad intra (Anschlussfähigkeit an die eigene Tradition) vertauscht. Aufgabe der Sozialethik ad intra wäre es dann, für Theologie und Kirche das kritische Potenzial einer auf allgemeine Vernunft gegründeten Moral, wie sie auch außerhalb kirchlicher Zusammenhänge betrieben wird, fruchtbar zu machen. Dies wäre ein Beitrag zu der notwendigen Aufgabe, die eigenen Überzeugungen immer wieder von kontextgebundenen Partikularitäten zu befreien. Auch für Christen gilt der Vorrang des Gerechten vor dem Guten. Deshalb brauchen sie für die Ausbildung ihrer eigenen Identität die über den Horizont der eigenen Plausibilitäten hinausreichende Auseinandersetzung mit den moralischen Einsichten der anderen. Ad extra wäre es dann Aufgabe Christlicher Sozialethik, neben der argumentativen Beteiligung an den gesellschaftlich relevanten Ethikdebatten – wie etwa der Auseinandersetzung um die Bioethik –, die moralischen Implikationen und gesellschaftskritischen utopischen Energien der eigenen Tradition für die in der Gesellschaft neu aufgebrochene Suche nach dem „Guten“ und dem Sinn von Moral nutzbar zu machen. Freilich kann und darf dies nur im Sinne eines selbstlosen Angebots ohne Rekrutierungs- und Einflusssicherungsabsichten sowie in der Form vielfältiger, auf wirkliche Kommunikabilität ausgerichteter Übersetzungen geschehen, was selbstredend ebenfalls wieder innerkirchliche und innertheologische Pluralität voraussetzt.

Heute entdeckt die spätmoderne Gesellschaft aber zugleich immer mehr, dass der notwendige, freiheitssichernde Vorrang des Gerechten vor dem Guten nicht bedeuten kann, die Fragen des Guten Lebens für gesellschaftlich irrelevant zu erklären und zu privatisieren. Ob überhaupt einen und welchen Sinn moralisches Handeln hat, wird zwar nie mehr für alle in gleicher Weise beantwortet werden können. Trotzdem kann nach entsprechenden Antworten nicht von jedem Einzelnen nur je für sich gesucht werden. Weil dies gerade in Zeiten der Individualisierung die Erfahrung vieler ist, gibt es eine Neuentdeckung der Relevanz der Frage nach dem Guten, wie dies etwa auch die Sozialethikerin Elke Mack in ihrer demnächst erscheinenden Habilitationsschrift „Gerechtigkeit und gutes Leben“ (Paderborn 2002) aufzeigt. Auch werden spätmoderne Gesellschaften, wie der Mainzer Sozialethiker Arno Anzenbacher betont, nur dann nicht Tendenzen der Desintegration und Entsolidarisierung erliegen, wenn sie zumindest in einer schwachen gemeinsamen Konzeption des Guten, einem overlapping consensus (Rawls) sittliche Substanzialität beziehungsweise Identität besitzen. Jede Begründung moralischer Normen und erst recht jede Antwort auf die Frage, warum man überhaupt moralisch handeln solle, trägt Spuren eines unverzichtbaren Rekurses auf Vorstellungen vom Wesen und der Bestimmung des Menschen, mithin also weltanschauliche und religiöse Perspektiven. Diese werden zwar in wachsendem Maße plural sein. Das bedeutet aber nicht, dass sie rein individuell sein könnten. Im Gegenteil, es braucht einen ständigen gesellschaftlichen Diskurs über sie, um einerseits ihre Reproduktion zu erlauben und andererseits eine über bloße Indifferenz hinausgehende qualifizierte Anerkennung des anderen in seiner Andersheit möglich zu machen. Erst wenn eine Religion auch für andere plausibel macht, dass und wie (möglicherweise je verschieden) ihr Glaube sie zu moralischem Handeln motiviert, wird dieser Glaube auch von der nachfolgenden Generationen von Angehörigen dieser Religion angeeignet und von denjenigen toleriert werden können, die ihre religiösen Ansichten nicht teilen. Das Schächten von Tieren etwa können die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft überhaupt nur dann tolerieren, wenn sie die religiösen Hintergründe verstehen und begreifen, dass es aus der Perspektive der Angehörigen des Judentums und des Islam durchaus eine moralische Handlung ist. Der Vorrang des Gerechten vor dem Guten Leben bedeutet nicht dessen Privatisierung, sondern setzt einen intensiven, auch öffentlichen Diskurs über diese Fragen voraus, der freilich ohne Konsensdruck geführt werden muss (vgl. am Beispiel der Auseinandersetzung um unterschiedliche Geschichtsinterpretationen Gerhard Kruip: Kirche und Gesellschaft im Prozess ethisch-historischer Selbstverständigung, Münster 1996). Was wir brauchen, ist nicht ein allgemeiner Konsens in Fragen Guten Lebens, sehr wohl aber, darauf hat auch Marianne Heimbach-Steins eindringlich hingewiesen, einen durch „reale Dialoge zwischen realen differenten Subjekten“ (Sheila Benhabib) bewusst gemachten und informierten Dissens bei gleichzeitiger wechselseitiger Anerkennung. Dadurch können die von Axel Honneth so genannten „posttraditionalen Gemeinschaften“ entstehen (Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt 2000).

Wenn sich christliche Sozialethik zusätzlich zur Verständigung über die Fragen der Gerechtigkeit in die allgemeinen Debatten um Fragen des Guten Lebens einzubringen versucht, tut sie gut daran, ihre religiöse und kirchliche Herkunft und Identität nicht nur nicht zu verstecken, sondern in selbstkritischer Einstellung und Lernoffenheit gezielte Übersetzungsversuche der „Sprengkraft gelebter Hoffnung“ in die Gesellschaft hinein zu machen. Das Interesse daran dürfte heute wieder umso größer geworden sein, als manche historisch bedingten Abwehrreaktionen des liberalen Staates und einer säkularen Gesellschaft gegenüber einer übermächtig erscheinenden kirchlichen Konzeption des Guten Lebens angesichts der tatsächlichen Einflusssphären inzwischen anachronistisch erscheinen müssen. Hans-Joachim Höhn hat in seiner „Ökologischen Sozialethik“ (Paderborn 2001) in der christlichen Rede von der Schöpfung den Hoffnung gebenden Bezug auf einen sinnstiftenden Anfang und einen Sinngrund namhaft gemacht, durch den alles, was lebt, einen nicht verrechenbaren Wert erhält und in einen offenen Möglichkeitshorizont eingespannt ist. Erst substanzielle Vorstellungen Guten Lebens können den Anspruch rechtfertigen, dass es überhaupt sinnvoll ist, moralisch zu handeln und sich für eine Verbesserung der Welt einzusetzen. Religion sensibilisiert, motiviert, stiftet Sinn und gibt Hoffnung auf Heil und Erlösung.

Damit ist, so der Tübinger Ethiker Dietmar Mieth zuletzt in „Die Diktatur der Gene“ (Freiburg 2001) auch in der Tradition „Autonomer Moral“ die Religion sehr wohl „ethikrelevant“. Sie kann aber die ethische Argumentation mit philosophischen Mitteln nicht ersetzen. Friedhelm Hengsbach bezieht sich in der Bestimmung der Bedeutung von Religion für die Ethik in seinem neuesten Buch „Die andern im Blick“ (Darmstadt 2001) vor allem auf das einzelne biographische Subjekt der Glaubenspraxis. Aber wenn die Forderung, Fragen Guten Lebens nicht zu privatisieren, berechtigt ist, werden die Glaubenden auch dann in einen Austausch über diese Fragen eintreten, wenn sie jenseits partikularer Weltanschauungsgemeinschaften und nicht nur innerhalb derselben kollektiv handeln und sich über gemeinsame Maximen ihres Handelns verständigen wollen. Warum sollte es nicht möglich sein, dass etwa Mitglieder einer Initiative gegen Ausländerfeindlichkeit sich über ihre religiösen und weltanschaulichen Wurzeln austauschen, um sich in ihrem Handeln wechselseitig besser zu verstehen, wenn sie zugleich darauf verzichten, sich gegenseitig ihre je partikularen Glaubensüberzeugungen aufzudrängen? Es ist dann durchaus auch Aufgabe des christlichen Ethikers, diese ethikrelevanten Aspekte von Religion zur Sprache zu bringen und auch darin „Einmischung und Anwaltschaft“ zu praktizieren (vgl. Marianne Heimbach-Steins, Stuttgart 2001) ohne freilich von dem Bemühen dispensiert zu sein, im eigentlich moralischen Diskurs auf rationale Argumente zu rekurrieren.

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